Reichsbürger-Prozess in München: Messianische Verzückung

Das bru­ta­lis­ti­sche Straf­jus­tiz­zen­trum in der Nym­phen­bur­ger Stra­ße in Mün­chen ist der­zeit Schau­platz meh­re­rer zum Teil bizar­rer „Reichsbürger“-Verfahren

Der Faschis­mus funk­tio­niert nur, wenn vie­le Men­schen mit­ma­chen“, sagt Johan­nes M. ein­dring­lich zu einem der Polizeibeamt*innen, die ihn hier im Mün­che­ner Gerichts­saal bewa­chen und die er als Büt­tel einer faschis­ti­schen Fir­ma betrach­tet. „Sans ma ned bös, Herr M., aber des inter­es­siert mich nicht“, erwi­dert der sicht­lich generv­te Beam­te. Sei­ne Genervt­heit ist gut nach­voll­zieh­bar, das Ver­fah­ren gegen den selbst­er­nann­ten Pro­phe­ten des Unter­gangs ist an Absur­di­tät kaum zu überbieten.

Christliche Versatzstücke

M. ist ange­klagt, Rädels­füh­rer einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung zu sein, die sich des Tele­fon­ter­rors bei Behör­den und der Bedro­hung von Praxismitarbeiter*innen schul­dig gemacht haben soll. Ver­han­delt wird seit Ende Juni vor dem Staats­schutz­se­nat des Land­ge­richts Mün­chen, die Sicher­heits­vor­keh­run­gen sind enorm, stren­ger als im par­al­lel statt­fin­den­den so genann­ten Reuß-Pro­zess gegen 8 Ange­klag­te. M. wie­der­holt in End­los­schlei­fen sei­ne wahn­wit­zi­ge Welt­sicht zwi­schen Reichs­bür­ger­den­ken, Ver­schwö­rungs­my­thos QAnon und christ­li­chen Ver­satz­stü­cken. Er sagt, dass es sich bei den deut­schen Behör­den um 47.000 pri­va­te Fir­men han­de­le und dass er hier gegen sei­nen Wil­len bei einer Fir­men­be­spre­chung sei.

M. wie­der­holt unbe­irrt und mit lau­ter Stim­me die immer glei­chen Text­bau­stei­ne sei­ner Ver­schwö­rungs­idee. Am 18. Juli, so pro­phe­zeit er, wer­de das US-Mili­tär unter Com­man­der in Chief Donald J. Trump eh über­neh­men und dann wer­de mit den Nazis hier, die seit 109 Jah­ren Krieg gegen das deut­sche Volk führ­ten, auf­ge­räumt: nach gött­li­chem Wil­len und nach der Offen­ba­rung des – ja, wes­sen? – Johan­nes wür­den zwei Drit­tel der Leu­te hier wegen Kriegs- und Men­schen­rechts­ver­bre­chen, vor allem gegen Kin­der, vor’s Kriegs­ge­richt gestellt und gerich­tet. Wenn die Rich­ter oder die bei­den Ver­tre­te­rin­nen des Gene­ral­staats­an­walts oder gar die psych­ia­tri­schen Sach­ver­stän­di­gen es wagen ihn zu unter­bre­chen, belegt er sie mit unflä­ti­gen Schimpf­ti­ra­den, Flü­chen und Dro­hun­gen: er sei mit dem Mili­tär in stän­di­gem Kon­takt und es wer­de hier alles aufgenommen.

Hörige Fangemeinde

Dabei bleibt er ste­hen und dreht dem Senat den Rücken zu und bespielt eine wach­sen­de Zahl von Jünger*innen, die ihn aus dem Publi­kums­be­reich anhim­meln. Der mani­pu­la­ti­ve Pre­di­ger in eige­ner Sache ver­steht es sogar, sei­ne Stim­me bre­chen zu las­sen und Trä­nen vor­zu­spie­len, weil er zunächst im „Nazi-KZ Haar“ – er meint das Bezirks­kli­ni­kum, wo er ein hal­bes Jahr im Maß­re­gel­voll­zug ver­brach­te – oder in der U‑Haft fest­ge­hal­ten wer­de. Dabei hält er oft Hei­li­gen­bild­chen in der Hand und betet gemein­sam mit sei­nen Anhänger*innen. Fast noch mehr als M. selbst, scho­ckiert die Hörig­keit sei­ner Gemein­de, die offen­bar Geld und Zeit genug hat, um regel­mä­ßig zum Pro­zess aus ganz Deutsch­land anzu­rei­sen – da ist von Ber­lin, Win­ter­berg, Soest die Rede. Gefragt, ob sie M.s Aus­sa­gen für bare Mün­ze näh­men, ant­wor­ten sie fest und über­zeugt: Ja! Dass sei­ne dys­to­pi­schen Vor­her­sa­gen stets nicht ein­tref­fen, stört sie offen­bar gar nicht in ihrer mes­sia­ni­schen Verzückung.

Über wei­te Stre­cken mutet das Gesche­hen im Gerichts­saal wie eine absur­de, komi­sche Oper an: Wäh­rend der Senat ver­sucht, Zeug*innen und Sach­ver­stän­di­ge zu befra­gen, fährt M. unge­rührt mit dröh­nen­der Stim­me mit sei­ner Sua­da fort. Sei­ne „Fan­ge­mei­ne“, wie der Vor­sit­zen­de die Besucher*innen mah­nend anspricht und mit Sank­tio­nen droht, wird im Lau­fe der psych­ia­tri­schen Begut­ach­tung immer unru­hi­ger, die hin­ge­zisch­ten Wor­te „Fol­ter“ und „Unrecht“ wer­den lau­ter. Der Rich­ter wirkt recht hilf­los, wenn er die Ver­hand­lung alle Vier­tel­stun­de unter­bricht, um danach ein Ord­nungs­geld gegen M. zu ver­hän­gen, weil er stets in der Begrün­dung die zum Teil sexis­ti­schen Beschimp­fun­gen wie­der­ho­len muss. Bis­wei­len ver­han­deln bzw. brül­len das Gericht und M. im Chor, zu ver­ste­hen ist wenig, die Meu­te hin­ten wird noch unru­hi­ger und bestärkt M. in sei­nem Wüten.

Zusammenrottung rechter Fanatiker*innen

Das Ver­fah­ren gegen M. ist nur eines der Ver­fah­ren, in denen – auch nicht nur in Mün­chen – wohl die Coro­na-Fol­gen abge­ar­bei­tet wer­den. Mit der Pan­de­mie und fol­gen­den Kri­sen sind sehr vie­le Men­schen im Lan­de dem poli­ti­schen Sys­tem der Bun­des­re­pu­blik von der Fah­ne gegan­gen oder haben sich sogar den irr­wit­zigs­ten Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gien und ter­ro­ris­ti­schen und Prep­per­grup­pen ange­schlos­sen. Eben­so wie im Reuß-Pro­zess, wo Ange­klag­te unbe­irrt an der QAnon-Sto­ry fest­hal­ten, oder im Ver­fah­ren gegen wei­te­re Reichs­bür­ger im benach­bar­ten Gerichts­saal, wo es um die Aus­ga­be ille­ga­ler Urkun­den eines „Bun­des­staa­tes Bay­ern“ geht, wer­den The­sen ver­tre­ten, von denen man nicht fas­sen kann, dass irgend­je­mand sich dem ernst­lich ver­schrei­ben könn­te. Man möch­te sie als völ­lig durch­ge­dreh­ten Unfug vom Tisch wischen. Aber das Droh­sze­na­rio, das Täter*innen wie M. und sei­ne zeit­wei­se bis zu 50.000 Fol­lower auf sei­nem Tele­gram-Kanal ent­fal­ten, oder die Tat­sa­che, dass es im Reuß-Ver­fah­ren um Beamt*innen selbst, poli­ti­sche Mandatsträger*innen und eben auch (Elite-)Soldat*innen und Polizist*innen geht, die Waf­fen hor­te­ten, zei­gen, dass es sich nicht um harm­lo­se Spinner*innen, son­dern um gefähr­li­che Zusam­men­rot­tun­gen rech­ter Fanatiker*innen han­delt, die kei­nes­wegs zu unter­schät­zen sind.

Die­ser Bei­trag erschien am 18. Juli 2024 in gekürz­ter Fas­sung im nd.

Buchpräsentation: Mutmacher Semsrott

Es gibt kei­ne Ent­schul­di­gung dafür, die AfD zu wäh­len!“ So ant­wor­te­te Arne Sems­rott bei der Pre­mie­ren­prä­sen­ta­ti­on sei­nes Buches „Macht­über­nah­me“ in Nürn­berg Anfang Juni auf die Fra­ge eines Zuschau­ers, der wis­se woll­te, ob es nicht viel­leicht mehr Ver­ständ­nis für AfD-Wähler*innen bräuchte.

Vor etwa 100 Zuschauer*innen las Sems­rott in der Vil­la Leon in Nürn­berg und koket­tier­te auf char­man­te Art mit die­ser Pre­mie­ren­si­tua­ti­on. In dem Buch geht es dar­um, was pas­siert, wenn die AfD auf Bun­des­ebe­ne an der Regie­rung betei­ligt wird. Und vor allem dar­um, wie die Tei­le der Gesell­schaft, die noch an demo­kra­ti­schen Ver­hält­nis­sen inte­re­siert sind, sich dage­gen weh­ren können.

Bröckelnde Brandmauer

Sems­rott ist der Mei­nung, dass eine Regie­rungs­be­tei­li­gung der AfD durch­aus rea­lis­tisch ist und dass die „Brand­mau­er“ fal­len kann, die bis­her die bür­ger­li­chen Par­tei­en von einer Zusam­men­ar­beit mit der AfD abhält. Auf regio­na­ler und kom­mu­na­ler Ebe­ne ist die­se Brand­mau­er vie­ler­orts bereits weit­ge­hend abgetragen.

Das Sze­na­rio im Buch macht außer­dem deut­lich, wel­che Mög­lich­kei­ten die AfD bereits hat, wenn sie sich im Rah­men der bereits bestehen­den Geset­ze bewegt, um ihre völ­kisch-natio­na­lis­ti­sche Ideo­lo­gie durch­zu­set­zen. Auch ohne eine Ände­rung des Grund­ge­set­zes oder ande­rer weit­rei­chen­der Rechts­stan­dards kann die AfD reich­lich Scha­den anrich­ten. In Ost­deutsch­land, wo sie in Umfra­gen bereits zwi­schen 25 und 40 Pro­zent ran­giert, tut sie das schon. Etwa indem sie auf bestimm­ten Pos­ten in Ver­wal­tung, Medi­en, Poli­zei und Behör­den nur „gesin­nungs­treue“ Anhänger*innen durch­zu­set­zen ver­sucht. Die reak­tio­nä­re Poli­tik tref­fe, so Sems­rott, vor allem mar­gi­na­li­sier­te Grup­pen wie migran­ti­sche oder que­e­re Men­schen. Mas­sen­haf­te Abschie­bun­gen nach völ­ki­schen Kri­te­ri­en – Stich­wort „Remi­gra­ti­on“ – könn­ten bald schon an der Tages­ord­nung sein. Die bür­ger­li­chen Par­tei­en, so möch­te man Sems­rott bei­pflich­ten, über­schla­gen sich ja der­zeit in vor­aus­ei­len­dem Gehorsam.

Sondervermögen Demokratie

Aller­dings sagt er auch: „Es ist nie zu spät!“ Selbst wenn die AfD regiert, gibt es jede Men­ge For­men des Wider­stands. Dabei dis­ku­tiert er bei­spiels­wei­se ein Son­der­ver­mö­gen für Demo­kra­tie, was ähn­lich wie das für die Bun­des­wehr auf­ge­baut sein könn­te. Sems­rott pro­pa­giert, was er „soli­da­ri­sches Prep­ping“ nennt – also die akti­ve Vor­be­rei­tung von Gemein­schaf­ten auf schlech­te (poli­ti­sche) Zei­ten, in denen die Men­schen im Ernst­fall für­ein­an­der ein­ste­hen oder sich in Selbst­ver­tei­di­gung üben kön­nen. Ziel kann es dabei auch sein, sagt Sems­rott, „safe spaces“ für beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Grup­pen zu schaffen.

Der Mit­grün­der der Infor­ma­ti­ons­frei­heits-NGO „#Frag­den­staat“ tritt außer­dem aktiv für ein AfD-Ver­bot ein und erklärt, es sei sinn­voll zu pro­tes­tie­ren, zu stö­ren und – zum Bei­spiel in Behör­den durch „Dienst nach Vor­schrift“ zu strei­ken und men­schen­ver­ach­ten­de Poli­tik zu blo­ckie­ren. Politiker*innen der Par­tei soll­ten sei­ner Ansicht nach auch deut­lich sel­te­ner eine Büh­ne in Talk­shows und öffent­li­chen Events gebo­ten wer­den. Statt­des­sen setzt er auf inves­ti­ga­ti­ve Recher­chen zu rech­ten Struk­tu­ren bis hin zu Hack­ing-Angrif­fen, um bri­san­te Infor­ma­tio­nen zugäng­lich zu machen.

AfD: Unbedeutende Splitterpartei?

Der 36-jäh­ri­ge Ber­li­ner berich­tet außer­dem von der Platt­form „Frag den Staat“, die es Bürger*innen leich­ter machen soll, Anfra­gen an Regie­rung, Ver­wal­tung und Behör­den, kurz: den Staat, zu rich­ten. So konn­te sein Team bei­spiels­wei­se die Her­aus­ga­be von Tei­len der NSU-Akten gericht­lich erzwin­gen. Außer­dem schuf die NGO mit dem „Frei­heits­fond“ eine Mög­lich­keit, sozi­al schwä­che­re Betrof­fe­ne aus dem Gefäng­nis frei­zu­kau­fen, wenn sie Ersatz­haft wegen Fah­rens ohne Fahr­kar­te absit­zen müs­sen. Auf gera­de­zu gro­tes­ke Wei­se ent­las­tet die­se Initia­ti­ve sogar Gefäng­nis­se und spart Steu­er­gel­der ein.

Auch das Publi­kums­ge­spräch im Anschluss geriet zu einem span­nen­den Mei­nungs­aus­tausch. Sems­rott hat eine leicht selbst­iro­ni­sche, ruhi­ge und bedach­te Art auf sein Publi­kum ein­zu­ge­hen. Das kommt gut an und auch kri­ti­sche Anmer­kun­gen zum Gesag­ten oder kur­ze abschwei­fen­de State­ments sind willkommen.

Aus einem Neben­saal hat­ten sich auch eini­ge weni­ge „Freidenker*innen“ in die Buch­vor­stel­lung ver­irrt und woll­ten lie­ber über die ver­meint­li­che Dis­kri­mi­nie­rung Russ­lands spre­chen. Ein wei­te­rer Mit­dis­ku­tant bezeich­ne­te die AfD als „unbe­deu­ten­de Split­ter­par­tei“, um die mit dem Buch viel zu gro­ßes Auf­he­bens gemacht wer­de: Die Men­schen hät­ten ande­re Sor­gen. Sems­rott wies das zurück und beschrieb ein­mal mehr, wie schnell die AfD noch gefähr­li­cher und mäch­ti­ger wer­den kön­ne. Die Euro­pa­wahl­er­geb­nis­se, bei der die AfD 15,9 Pro­zent erziel­te, bezeich­ne­te er als Alarmzeichen.

Dienst nach Vorschrift“ als Streikform

Meh­re­re Wort­mel­dun­gen mach­ten deut­lich, dass die Angst vor einer Macht­über­nah­me von rechts vie­le Men­schen umtreibt und in die Lesung zog. Eini­ge Per­so­nen frag­ten, was sie jetzt per­sön­lich tun könn­ten. Der Autor erzählt, wie er nach den Euro­pa-Wahl­er­geb­nis­sen nie­der­ge­schla­gen war, dem aller­dings nicht nach­ge­ben woll­te. Am sel­ben Abend noch kon­tak­tier­te er Bekann­te, die von einer Zuspit­zung rech­ter Poli­tik am stärks­ten betrof­fen sein wür­den, um zu zei­gen, dass er an sie den­ke und für sie ein­ste­hen werde.

Einer Leh­re­rin im Publi­kum war die Sor­ge anzu­se­hen, dass sie in Zukunft dazu gezwun­gen wer­den könn­te, Inhal­te zu unter­rich­ten, die sie für mora­lisch ver­werf­lich hält. Sie und eine wei­te­re Beam­tin fühl­ten sich vor allem von den Tei­len von Sems­rotts Vor­trag ange­spro­chen, in dem die beson­de­re Rol­le und Ver­ant­wor­tung von Staats­be­diens­te­ten her­vor­ge­ho­ben wur­de. Hier sieht Sems­rott einen wirk­mäch­ti­gen Ansatz, Miss­stän­de in Behör­den anzu­spre­chen und ein Kip­pen der jewei­li­gen Insti­tu­ti­on nach rechts zu verhindern.

In den Kampf gegen Rechts einsteigen

Das Fazit vie­ler Besucher*innen war, dass das Buch eine Rea­li­tät skiz­ziert, die beun­ru­hi­gend nah scheint. Gera­de nach den Groß­de­mos im Janu­ar, bei denen teils Hun­dert­tau­sen­de Men­schen gegen Plä­ne der extre­men Rech­ten für Mas­sen­de­por­ta­tio­nen auf die Stra­ße gegan­gen waren, mache das Buch Mut wei­ter­zu­ma­chen, in den Kampf gegen rechts ein­zu­stei­gen und nicht nachzulassen.

Warum der Mord an Süleyman Taşköprü so lange als Teil der NSU-Serie verschleiert wurde

Zur Erin­ne­rung an den 23. Todes­tag von Süley­man Taşköprü

Süley­man Taş­köprü bat am Mitt­woch, 27. Juni 2001, gegen 10.45 Uhr sei­nen Vater Ali, sich um den Ein­kauf von Waren zu küm­mern. Danach muss er in sei­nem Gemü­se­la­den in der Schüt­zen­stra­ße 39 in Alto­na von sei­nen Mör­dern über­rascht wor­den sein. Sie erschos­sen ihn mit drei Kugeln, abge­ge­ben aus zwei Pis­to­len, einer Čes­ká 83 und einer Bruni. Als sein Vater um unge­fähr 11.15 Uhr wie­der zurück­kehr­te, fand er sei­nen Sohn auf dem Fuß­bo­den des Ver­kaufs­rau­mes lie­gend mit einer blu­ten­den Kopf­ver­let­zung vor. Wenig spä­ter konn­te der Not­arzt nur noch den Tod fest­stel­len. Kurz dar­auf traf die Poli­zei ein und nahm die Ermitt­lun­gen in dem Tötungs­de­likt auf. Die loka­le Pres­se in der Stadt (BILD-Zei­tung, Ham­bur­ger Mor­gen­post, Ham­bur­ger Abend­blatt) berich­te­ten dazu in den fol­gen­den Tagen. Im Ham­bur­ger Abend­blatt (HAB) war über einen „mys­te­riö­sen Mord am hell­lich­ten Tag“ sowie einer „Hin­rich­tung im Gemü­se­la­den“ zu lesen. Aus der Sicht der poli­zei­li­chen Ermittler*innen lag das Motiv „noch völ­lig im Dun­keln“. Dem Abend­blatt war es aber hier wich­tig, dahin­ge­hend über das Motiv zu spe­ku­lie­ren, dass für die Tat „Schutz­geld­erpres­sung“ in Fra­ge kom­me, wo „in vie­len Fäl­len (…) die ver­bo­te­ne kur­di­sche PKK dahin­ter“ ste­cke. (HAB v. 28.6.2001)

Vater Taşköprü: Deutsche Täter

Noch am Tag des Mor­des ver­nahm die Poli­zei Taş­köprüs Vater das ers­te Mal. Er habe bei sei­ner Rück­kehr vor dem Geschäft zwei Män­ner gese­hen, gab er zu Pro­to­koll. Bei­de hät­ten gleich aus­ge­se­hen und sei­en 25 bis 30 Jah­re alt gewe­sen. Auf die Fra­ge: „Deut­sche oder Tür­ken?“, ant­wor­te­te er: Deut­sche. Ein Streit, in den sein Sohn habe ver­wi­ckelt sein kön­nen, sei ihm nicht bekannt gewe­sen. Zwei Tage spä­ter gab es eine zwei­te Ver­neh­mung. Er bekräf­tig­te erneut, bei sei­ner Rück­kehr zum Laden zwei männ­li­che Per­so­nen im Bereich vor dem Laden gese­hen zu haben, die sich in süd­li­che Rich­tung ent­fernt hät­ten. Er beschrieb sie als etwa 1,78 Meter groß und jung, höchs­tens 25 Jah­re alt. Ob „deutsch“ oder „aus­län­disch“, wuss­te er nicht genau zu sagen, aber er schloss aus, dass sie „süd­län­disch“ gewe­sen sei­en. Ihre Haar­far­be sei hell gewe­sen. Es gab jedoch im Zusam­men­hang mit der Tat­zeit noch wei­te­re Zeu­gin­nen. Eine gab dabei an, sie habe in den ver­gan­ge­nen etwa 14 Tagen mehr­fach einen BMW beob­ach­tet, des­sen Fah­rer mit Süley­man Taş­köprü gespro­chen habe, weder freund­lich noch aggres­siv. Eine genaue­re Beschrei­bung konn­te sie nicht geben, es habe sich jedoch um einen „Süd­län­der“ gehan­delt, gab die­se Zeu­gin zu Pro­to­koll. Eine wei­te­re Zeu­gin sag­te aus, sie habe in ihrer Woh­nung über dem Geschäft einen lau­ten Streit zwi­schen zwei Män­nern wahr­ge­nom­men. Auf die Fra­ge, ob auf Deutsch oder „aus­län­disch“ gebrüllt wor­den sei, woll­te sie nicht aus­schlie­ßen, dass auch „tür­ki­sche Wor­te“ gefal­len sei­en. Eine drit­te Zeu­gin berich­te­te von einem weni­ge Tage zurück­lie­gen­den Streit, den sie mit­be­kom­men habe: Drei „süd­län­disch“ aus­se­hen­de Män­ner hät­ten sich im Laden auf­ge­hal­ten, einer von ihnen hät­te dem spä­te­ren Opfer „auf­ge­regt und wütend“ damit gedroht, wiederzukommen.

Zunächst konn­te die Poli­zei natür­lich noch nicht wis­sen, dass es sich um den drit­ten Mord als Teil einer Serie han­del­te. Am 9. Sep­tem­ber 2000 war der tür­ki­sche Blu­men­händ­ler Enver Şimşek in sei­nem Trans­port­wa­gen an einer Aus­fall­stra­ße bei Nürn­berg eben­falls mit zwei Tat­waf­fen erschos­sen wor­den. Elf Mona­te spä­ter, am 13. Juni 2001, also gera­de ein­mal zwei Wochen vor der Ermor­dung Taş­köprüs war — eben­falls in Nürn­berg — der tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge Abdur­ra­him Özüd­oğru in sei­ner Ände­rungs­schnei­de­rei mit einer Pis­to­le Mar­ke Čes­ká 83 ermor­det wor­den. Das ergab die unmit­tel­bar nach den bei­den Taten vor­ge­nom­me­nen kri­mi­nal­tech­ni­sche Unter­su­chung des Bun­des­kri­mi­nal­am­tes (BKA). Mit der Čes­ká 83 war die­sel­be Waf­fe als Tat­waf­fe ver­wen­det wor­den. Vom Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken (Nürn­berg) war das schon fünf Tage nach der Tat in einer Pres­se­mit­tei­lung kom­mu­ni­ziert wor­den.[1]

Über Ham­burg hinaus

Der Wis­sens­stand der Ham­bur­ger Ermittler*innen zu der Mord­sa­che Taş­köprü soll­te sich aber schnell und gra­vie­rend ändern. Als sie noch am Tat­tag zu dem Mord an Taş­köprü ein Fern­schrei­ben an bun­des­wei­te Dienst­stel­len absetz­ten, mel­de­ten sich schon kurz dar­auf die Nürn­ber­ger Kolleg*innen, die in der Mord­sa­che Özüd­oğru ermit­tel­ten. Offen­bar kam ihnen der Modus Ope­ran­di der Mord­tat bekannt vor. Jah­re spä­ter, Ende Juni 2005 nach dem sieb­ten Mord in der Serie, rap­por­tier­te das Ham­bur­ger Abend­blatt die Aus­sa­ge eines unge­nann­ten Ham­bur­ger Ermitt­lers aus der Mord­kom­mis­si­on: Sie sei­en noch am spä­ten Abend des 27. Juni 2001 von Nürn­ber­ger Kolleg*innen ange­ru­fen wor­den. Dadurch sei ihnen klar gewor­den, „dass der Fall über Ham­burg hin­aus­geht“. (HAB v. 23.6.2005) Einen Tag spä­ter infor­mier­ten die Nürn­ber­ger Polizist*innen ihre Ham­bur­ger Kolleg*innen per Fax dar­über, dass „die glei­che Tat­waf­fe“ bei der Tötung von zwei tür­ki­schen Staats­bür­gern ver­wen­det wor­den sei. Das war eine außer­or­dent­lich wich­ti­ge Infor­ma­ti­on. Die Ermittler*innen sowohl in Ham­burg wie auch in Nürn­berg hät­ten also allen Grund dazu gehabt – umgangs­sprach­lich for­mu­liert – Alarm zu schla­gen: Es war doch defi­ni­tiv klar, dass man mit einer Mord­se­rie in zwei gro­ßen Städ­ten in der Bun­des­re­pu­blik kon­fron­tiert war. Und was pas­sier­te nun? Rich­tig: Zwecks genau­er Prü­fung der Tat­waf­fe wand­ten sich die Ham­bur­ger Ermittler*innen an das BKA und war­te­ten. Wie lan­ge?  Es soll­te lan­ge zwei Mona­te, sprich bis zum 31. August 2001, dau­ern, bis das BKA die Iden­ti­tät der Tat­waf­fen im Ham­bur­ger und den bei­den Mor­den an Şimşek  und Özüd­oğru fest­stell­te. Gleich dazu die nächs­te Fra­ge: War­um hat das BKA die eigent­lich seit Ende Juni 2001 anste­hen­de kri­mi­nal­tech­ni­sche Unter­su­chung erst Ende August abge­schlos­sen?  In Mün­chen hat­te sich, kei­ne 72 Stun­den zuvor, der nächs­te Mord, der vier­te in der Serie, ereig­net: Am 29. August 2001 zwi­schen 10.35 und 10.50 Uhr erschos­sen die Mör­der im „Frisch­markt“ in der Bad-Schach­e­ner-Stra­ße 14 in Mün­chen den hin­ter dem Kas­sen­t­re­sen ste­hen­den 38-jäh­ri­gen tür­ki­schen Gemü­se­händ­ler Habil Kılıç. Das BKA ermit­tel­te  hier bin­nen kür­zes­ter Frist, schon am 4. Sep­tem­ber, dass es sich um die­sel­be Čes­ká 83-Tat­waf­fe wie bei den drei vor­an­ge­gan­gen Mor­den gehan­delt hat­te. Denk­bar wäre auch, dass sich nach dem Mord an Kilic sowohl das BKA wie auch die Ham­bur­ger Ermittler*innen mit einem Mal an die noch offe­ne Anfra­ge bezüg­lich der Tat­waf­fe von Ham­burg von Ende Juni 2001 erin­nert hatten.

Deut­lich zu lan­ge Frist

Ende August 2013 wur­de der Abschluss­be­richt des ers­ten Par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­aus­schus­ses des  Bun­des­ta­ges zum NSU-Kom­plex ver­öf­fent­licht. In ihren gemein­sa­men Bewer­tun­gen erklär­ten sich alle Frak­tio­nen mit den in Bezug auf die Mord­sa­che Taş­köprü unge­wöhn­lich schlep­pend durch­ge­führ­ten Ermitt­lun­gen nicht zufrie­den. Eine „deut­lich zu lan­ge Frist“ ist da ver­merkt. Ja, so darf man es wohl for­mu­lie­ren, um dann noch  nach­zu­schie­ben, dass lei­der „nicht geklärt wer­den konn­te, wer für die Ver­zö­ge­rung die Ver­ant­wor­tung trug“, zumal „nach dem nächs­ten Mord in Mün­chen (…) die Fest­stel­lung der Seri­en­zu­ge­hö­rig­keit weni­ger als eine Woche“ gedau­ert habe.[2]

Doch es kommt noch bes­ser: Das Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken ver­öf­fent­lich­te aus direk­tem Anlass der Ermor­dung von Kılıç am 5. Sep­tem­ber 2001 eine Pres­se­mel­dung. In Bezug auf den „Mord an tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in Nürn­berg“ wird nun in der Über­schrift auf einen „Zusam­men­hang mit Mord­fall in Mün­chen“ hin­ge­wie­sen: „Auf Grund des Schuss­waf­fen­ver­gleichs“ bei den Mor­den an Şimşek (9.9.200) und Özüd­oğru (13.6.2001) sei „eine Iden­ti­tät der Tat­waf­fen fest­ge­stellt“ wor­den. Nun sei auch „der tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge Habil K. in sei­nem Obst- und Gemü­se­la­den erschos­sen auf­ge­fun­den“ wor­den. In der Pres­se­mit­tei­lung wird von der Poli­zei nicht von einer Mord­se­rie gespro­chen, aber wei­ter wird aus­ge­führt: „Wie jetzt fest­steht, ist auch im Mün­che­ner Fall die Tat­waf­fe iden­tisch. Alle Fäl­le sind bis­her noch nicht geklärt.“[3] Alle Fäl­le? Der Mord an Süley­man Taş­köprü wird doch expli­zit nicht erwähnt. War­um wird er von der Poli­zei auch zu die­sem Zeit­punkt offen­bar nicht zu „allen Fäl­len“ gezählt? Und das obwohl ein paar Tage zuvor vom BKA die Iden­ti­tät der Tat­waf­fe bestä­tigt wor­den war.

Türkische Mentalität“

Nächs­te Fra­ge: Wie lan­ge dau­er­te es denn nun bis die Ermittler*innen dazu bereit waren, die Öffent­lich­keit von dem Mord an Taş­köprü als Teil der­sel­ben Mord­se­rie zu unter­rich­ten? Kur­ze Ant­wort: Zwei wei­te­re Mona­te. Erst am 9. Novem­ber 2001 setz­te das Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken die Öffent­lich­keit via Pres­se­mit­tei­lung nun auch über einen, wie sie for­mu­lier­te, „Zusam­men­hang jetzt auch mit Mord­fall in Ham­burg“ in Kennt­nis. Vier Mona­te waren nun ver­gan­gen nach­dem die Nürn­ber­ger Ermittler*innen die Ham­bur­ger Polizeikolleg*innen im Mord­fall Taş­köprü auf den unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hang mit einer Mord­se­rie auf­merk­sam gemacht hat­ten. Immer­hin fin­det sich in die­ser Pres­se­mit­tei­lung erst­mals der Begriff „Mord­se­rie“. Hier hielt es die Poli­zei für ange­zeigt, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass sich „nach Zeu­gen­an­ga­ben (…) zwei Tage vor dem Ver­bre­chen (an Taş­köprü) drei Tür­ken in dem Laden auf­ge­hal­ten haben und sich mit dem spä­te­ren Mord­op­fer in sehr aggres­si­ver Wei­se gestrit­ten haben.“[4]

Die Poli­zei fer­tig­te nach die­sen Anga­ben ein Phan­tom­bild an. Die zu der Pres­se­mit­tei­lung hin­zu­ge­füg­te Bild­ver­öf­fent­li­chung zeig­te zwei „süd­län­disch“ aus­se­hen­de Ver­däch­ti­ge. Den Betrachter*innen wird so nahe­ge­legt, es habe sich  um einen Streit „unter den Tür­ken“ gehan­delt.. Igno­riert wur­den die gegen­läu­fi­gen Anga­ben in den Tat­be­ob­ach­tun­gen des Vaters von Süley­man Taş­köprü, der ja aus­ge­schlos­sen hat­te, dass die bei­den Täter „süd­län­disch“ aus­ge­se­hen hät­ten, auch weil von ihm deren Haar­far­be als hell beschrie­ben wor­den war. Denk­bar hier, dass die Polizeibeamt*innen die­ser Aus­sa­ge aus einem bestimm­ten Grund kei­ne beson­de­re Auf­merk­sam­keit schen­ken woll­ten: So for­mu­lier­te die­se Pres­se­mit­tei­lung eine in der Sache zwar fal­sche, gleich­wohl für die wei­te­ren poli­zei­li­chen Ermitt­lun­gen in den nächs­ten Jah­ren wirk­sa­me ras­sis­ti­sche Erzäh­lung: „Die Ermitt­lun­gen gestal­te­ten sich auf­grund der tür­ki­schen Men­ta­li­tät und der damit ver­bun­de­nen Zurück­hal­tung sowie der Sprach­bar­rie­re von Anfang an sehr schwierig.“

Kei­ne Soko für Hamburg

Auch heu­te noch tür­men sich die wei­ter offe­nen Fra­gen zu den Ermitt­lun­gen der Ham­bur­ger Poli­zei im Mord­fall Taş­köprü auf. Wie mag denn gera­de in den ers­ten Mona­ten nach dem 27. Juni 2001 die Zusam­men­ar­beit zwi­schen den Ham­bur­ger und den Nürn­ber­ger Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den aus­ge­se­hen haben, die der Öffent­lich­keit in der Pres­se­mit­tei­lung vom 9.11.2001 als „eng“ vor­ge­stellt wor­den war?  Wie eng konn­te sie gewe­sen sein, wenn schon im Nürn­ber­ger Fern­schrei­ben vom 28. Juni 2001 dar­auf hin­ge­wie­sen wur­de, dass zwei Tötungs­de­lik­te an tür­ki­schen Staats­bür­gern in Nürn­berg mit der glei­chen Tat­waf­fe ver­übt wor­den sei­en? Und war­um wur­de in Ham­burg nicht wie in Nürn­berg Mit­te Sep­tem­ber 2001 eine Soko gebil­det, als all­mäh­lich klar wur­de, dass es sich um eine Mord­se­rie han­del­te? Fra­gen über Fragen.

Die Ham­bur­ger Sicher­heits­be­hör­den haben den par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­haus­schüs­sen zum NSU bis­lang allein Kri­mi­nal­ober­rat Felix Schwarz als Zeu­gen zur Ver­fü­gung gestellt. Und der trat sei­nen Dienst in der dies­be­züg­li­chen Mord­kom­mis­si­on erst ab dem 1. Febru­ar des Jah­res 2006 an. Inso­fern konn­te er bei sei­nen Befra­gun­gen im Ber­li­ner und Meck­len­bur­ger Unter­su­chungs­aus­schuss für die Zeit der poli­zei­li­chen Ermitt­lun­gen in Ham­burg in der Mord­sa­che Taş­köprü in den Jah­ren 2001 ‑2003 vie­les allen­falls vom Hören­sa­gen kolportieren.

Grüne Schritte

Mit­te April 2023 wur­de der Antrag der Par­tei Die Lin­ke in der Ham­bur­ger Bür­ger­schaft auf die Ein­set­zung einen NSU-Unter­su­chungs­aus­schus­ses abge­lehnt. Bei Annah­me hät­te die­ses Gre­mi­um in weni­ger als sechs Mona­ten sei­ne Arbeit auf­neh­men kön­nen. Von der Frak­ti­on der Grü­nen war der Antrag der Lin­ken trotz eines gegen­läu­fi­gen Par­tei­tags­be­schlus­ses nicht unter­stützt wor­den. Gemein­sam mit der SPD nahm sie in der Bür­ger­schaft den Antrag an, nun­mehr die „Auf­ar­bei­tung des NSU-Kom­ple­xes im Rah­men einer wis­sen­schaft­li­chen Stu­die“ durch­zu­füh­ren.[5] Das sei doch „ein gro­ßer Schritt in Rich­tung umfas­sen­de­rer Auf­klä­rung“, gaben sich die Grü­nen in einer Pres­se­mit­tei­lung damals über­zeugt.  Mehr noch: Die Grü­nen bezeich­ne­ten es als ganz „ent­schei­dend (…), dass die Auf­klä­rungs­ar­beit nun end­lich und inten­siv vor­an­ge­trie­ben wird.“ Eben dies „soll­te der Fokus der Debat­te sein und blei­ben.“[6] Wie wur­de nun die Auf­klä­rungs­ar­beit „inten­siv vor­an­ge­trie­ben?“ Die Fort­schrit­te sind schlep­pend: Nach jüngs­ter Aus­kunft der Pres­se­stel­le der Ham­bur­ger Bür­ger­schaft gibt es inzwi­schen  bei der Prä­si­den­tin der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft einen Bei­rat, der zunächst nur damit beauf­tragt ist, ein Ver­ga­be­ver­fah­ren bis zum Ende das Jah­res 2024 abzu­schlie­ßen, „so dass mit der wis­sen­schaft­li­chen Auf­ar­bei­tung zum Jah­res­be­ginn 2025 begon­nen wer­den kann. Ein Büro für den Bei­rat ist nicht ein­ge­rich­tet, er tagt in den Sit­zungs­räu­men der Bür­ger­schaft.“ (Mail an den Ver­fas­ser vom 18.6.2024)

Somit darf zunächst ein­mal tro­cken fest­ge­stellt wer­den: Der von den Grü­nen Mit­te April 2023 vor mehr als einem Jahr ver­spro­che­ne  „gro­ße Schritt“ in Sachen „umfas­sen­der“ NSU-Auf­klä­rung in Ham­burg ist bis­lang unter­blie­ben. Für die seit April 2023 als Alter­na­ti­ve zu einem Unter­su­chungs­aus­schuss ange­streb­te „wis­sen­schaft­li­che Stu­die“ exis­tiert auch am 23. Todes­tag von Süley­man Taş­köprü noch nicht ein­mal eine Ausschreibung.

 

Fuß­no­ten:

[1] Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken POL-MFR: (1123) Mord­fall Özüd­oğru — hier: Zusam­men­hang mit Mord­fall Şimşek, PM vom 18.6.2001, URL: https://​www​.pres​se​por​tal​.de/​b​l​a​u​l​i​c​h​t​/​p​m​/​6​0​1​3​/​2​5​7​963

[2] BT-Drs. 1714600 v. 22.8.2013, S. 835

[3] Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken (Nürn­berg) POL-MFR: (1705) Mord an tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in Nürn­berg — hier: Zusam­men­hang mit Mord­fall in Mün­chen, PM vom 5.9.2001, URL: https://​www​.pres​se​por​tal​.de/​b​l​a​u​l​i​c​h​t​/​p​m​/​6​0​1​3​/​2​7​9​915

[4] Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken POL-MFR: 2073. Mor­de an tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in Nürn­berg und Mün­chen hier: Aktu­el­ler Ermitt­lungs­stand: 9.11.2001 mit Bild­ver­öf­fent­li­chun­gen Zusam­men­hang jetzt auch mit Mord­fall in Ham­burg, URL: https://​www​.pres​se​por​tal​.de/​b​l​a​u​l​i​c​h​t​/​p​m​/​6​0​1​3​/​2​9​8​764

[5] FHHH Drs. 2211561 v. 12.4.2023

[6] Grü­ne Ham­burg, NSU-Auf­klä­rung: Umfas­sen­de Stu­die als wich­ti­ger Schritt Rich­tung umfas­sen­de­rer Auf­klä­rung, PM vom 13.4.2023, URL: https://​www​.grue​ne​-ham​burg​.de/​n​su/

Zum Wei­ter­le­sen

Frak­ti­on DIE LINKE in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft, Der NSU-Kom­plex in Ham­burg / Das Recht auf Auf­klä­rung ver­jährt nicht, Ham­burg 2023

 

Münchener Reuß-Prozess: Zwischen Astrologie und Waffendepots

Die Akus­tik-Ele­men­te im alten NSU-Gerichts­saal A 101 im Straf­jus­tiz­zen­trum Mün­chen, in dem das drit­te Reuß-Ver­fah­ren nun ver­han­delt wird

Sie woll­ten den Staat stür­zen und bau­ten einen mili­tä­ri­schen Arm für einen gewalt­sa­men Sturm auf den Bun­des­tag auf: So lässt sich die Ankla­ge der Bun­des­an­walt­schaft (BAW) gegen die acht in Mün­chen vor dem Ober­lan­des­ge­richt (OLG) ange­klag­ten Mit­glie­der der Reichs­bür­ger­grup­pe um Prinz Hein­rich XIII Reuß zusammenfassen.

Hochverrat und Staatsgefährdung

In Frank­furt und Stutt­gart wird schon seit eini­gen Wochen der Pro­zess gegen 18 wei­te­re Mit­glie­der die­ser Grup­pe – in Frank­furt Prinz Reuß auch per­sön­lich – eröff­net. Unter den Ange­klag­ten gro­ße Tei­le der poli­ti­schen Füh­rungs­rie­ge der Verschwörer*innen und des mili­tä­ri­schen Arms, den so genann­ten Hei­mat­schutz­kom­pa­nien (HSK). Neben hoch­ver­rä­te­ri­schen Absich­ten und der Vor­be­rei­tung staats­ge­fähr­den­der schwe­rer Straf­ta­ten wird ihnen die Grün­dung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung vorgeworfen.

Als nun in Mün­chen die 8 Ange­klag­ten vor­ge­führt wur­den, hielt sich aller­dings das öffent­li­che und media­le Inter­es­se in Gren­zen – ver­gli­chen zumal mit dem Pro­mi-Ver­fah­ren in Frank­furt, wo Reuß selbst, aber auch die eins­ti­ge AfD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te und Ex-Rich­te­rin Mal­sack-Win­ke­mann und die bei­den ehe­ma­li­gen hohen Bun­des­wehr-Offi­zie­re von Pes­ca­to­re und Eder vor Gericht stehen.
Der erwar­te­te Andrang wie zu Zei­ten des NSU-Pro­zes­ses blieb in Mün­chen aus. Die­ser hat­te damals im sel­ben Gerichts­saal A 101 statt­ge­fun­den und zumin­dest eini­ge der Gesich­ter unter den Journalist*innen und Verteidiger*innen von damals waren wie­der dabei.

Die Besucher*innen wur­den nicht nur durch ein gro­ßes Poli­zei­auf­ge­bot im Saal, inklu­si­ve Absper­run­gen und gründ­li­cher Durch­su­chun­gen ein­ge­schüch­tert. Sie muss­ten außer­dem sämt­li­che Taschen, tech­ni­schen Gerä­te und Trink­fla­schen abge­ben. Auch die kah­len Beton­wän­de des gro­ßen Saa­les wirk­ten durch­aus erdrückend.

Croissants und Handyverbot

Ich wer­de selbst­ver­ständ­lich jeden Tag Crois­sants mit­brin­gen“ scherz­te der Pres­se­spre­cher des Ober­lan­des­ge­richts, Lau­rent Laf­leur, zwei Wochen vor Pro­zess­be­ginn gegen­über den Journalist*innen bei einer Füh­rung durch den Gerichts­saal. Trotz die­ser bemüh­ten Freund­lich­kei­ten blie­ben die Auf­la­gen des Gerichts für Pressevertreter*innen den­noch hart: Sie muss­ten am Zugang zum Pres­se­be­reich einem Jus­tiz­be­am­ten vor­wei­sen, dass ihre Han­dys aus­ge­schal­tet waren, und konn­ten ihre Lap­tops nur ohne Inter­net­ver­bin­dung nutzen.

Der gesam­te Vor­mit­tag war nach den Eröff­nungs­for­ma­lia der mehr­stün­di­gen Ver­le­sung der Ankla­ge­schrift gewid­met. Die Sitzungsvertreter*innen des Gene­ral­bun­des­an­wal­tes im Ver­fah­ren fächer­ten dar­in die Pla­nun­gen der Grup­pe in den Jah­ren 20 – 22 auf: Die Ange­klag­ten in Mün­chen sei­en dem­nach unter ande­rem auch für Ämter in der Putschist*innen-Regierung vor­ge­se­hen und in Waf­fen­ge­schäf­te ver­wi­ckelt gewe­sen. Außer­dem wer­de eini­gen von ihnen vor­ge­wor­fen, für den Auf­bau der ins­ge­samt über 280 geplan­ten HSK-Trup­pen, die Rekru­tie­rung und Ver­net­zung mit Unterstützer*innen, sowie die Gewähr­leis­tung einer abhör­si­che­ren Kom­mu­ni­ka­ti­on etwa über Satel­li­ten­te­le­fo­ne zustän­dig gewe­sen zu sein.
Außer­dem schil­der­te die Bun­des­an­walt­schaft im Detail das Welt­bild der Reichsbürger*innen: So wür­den die Anhänger*innen an die kru­de Ver­schwö­rungs­er­zäh­lung Q‑Anon glau­ben, die im Kern besagt, dass „die Eli­ten“ Kin­der in unter­ir­di­schen Tun­nel­sys­te­men gefan­gen hiel­ten, um sie zu miss­han­deln und aus ihrem Blut Ver­jün­gungs­se­rum zu gewinnen.
Eine der Ange­klag­ten habe sich in der Schweiz auch mehr­mals mit den Eltern eines ver­meint­lich in die­se Unter­welt ent­führ­ten Kin­des getroffen.

Irre Narrative und realer Terrorismus

Außer­dem habe die Grup­pe für ihr Vor­ha­ben immer wie­der Kon­takt und Unter­stüt­zung bei offi­zi­el­len Vertreter*innen der rus­si­schen Föde­ra­ti­on etwa im Gene­ral­kon­su­lat in Frank­furt und in Bra­tis­la­va gesucht.

Vor allem die ableh­nen­de Hal­tung zu Maß­nah­men zur Ein­däm­mung von Covid-19 hät­te die Grup­pe radi­ka­li­siert und geeint. Die in Mün­chen ange­klag­te und als Gesund­heits­mi­nis­te­rin der Putschist*innen vor­ge­se­he­ne Ärz­tin, Mela­nie R., habe laut Ankla­ge bei­spiels­wei­se immer wie­der Vor­trä­ge zu den Aus­wir­kun­gen von Imp­fun­gen mit dem wäh­rend der Pan­de­mie neu ent­wi­ckel­ten MRNA-Serum gehalten.

Prozessbeobachter*innen dis­ku­tier­ten in der Mit­tags­pau­se, ob die Umsturz­plä­ne wohl ohne die Pan­de­mie zustan­de gekom­men wären. Außer­dem stell­ten sie sich die Fra­ge, ob die „Grup­pe Reuß“ nur ein Bei­spiel für das Umkip­pen gan­zer Bevöl­ke­rungs­grup­pen in ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­sches Den­ken dar­stel­le. Immer­hin sei­en sie nicht die ein­zi­gen, die im Lau­fe der Zeit auf­ge­flo­gen und jetzt peu-á-peu ange­klagt wür­den. Neben den „Reuß-Pro­zes­sen“ lau­fen der­zeit auch Pro­zes­se gegen die „Kaiserreichgruppe“/„Patriotische Ver­ei­ni­gung, die vor­hat­te, Gesund­heits­mi­nis­ter Karl Lau­ter­bach zu ent­füh­ren, sowie gegen den „Reichs­bür­ger-Star“ Johan­nes M..

Der ver­le­se­ne Ankla­ge­satz im Reuß-Ver­fah­ren ver­deut­licht durch­aus die Absur­di­tät der Gesin­nung der Ange­klag­ten. Jen­seits der zum Teil irr­wit­zi­gen Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen konn­te die Bun­des­an­walt­schaft vor allem durch die Auf­zäh­lung der von der Grup­pe gehor­te­ten Waf­fen samt Muni­ti­on, Waf­fen­tei­len und wei­te­rer Mili­tär­aus­stat­tung den Ernst der Absich­ten der Grup­pe ver­an­schau­li­chen. Unter ande­rem habe die Grup­pe, der auch hoch­ran­gi­ge KSK-Offi­zie­re ange­hör­ten, ver­sucht, Soldat*innen des Kom­man­dos Spe­zi­al­kräf­te (KSK) zu rekru­tier­ten, um die „Hei­mat­schutz­kom­pa­nien“ aufzubauen.

Antisemitisch, rassistisch und faschistisch

Den­noch mag man­chen in der Ankla­ge eine Ein­ord­nung der völ­kisch-natio­na­lis­ti­schen und in Tei­len faschis­ti­schen Ideo­lo­gie der ange­klag­ten Reichsbürger*innen gefehlt haben. Nur neben­bei erwähnt die BAW die ras­sis­ti­schen Ansich­ten zur Migra­ti­ons­po­li­tik – eine Ein­stu­fung der Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen rund um Q‑Anon als anti­se­mi­tisch blieb gänz­lich aus.
Die­se Aus­spa­run­gen könn­ten auf eini­ge vor allem des­halb fatal wir­ken, da sie einen gro­ßen Teil der Gefahr ver­ken­nen, die von der „Grup­pe Reuß“ aus­ging. Wäre es zu dem, mit Hil­fe der AfD-Abge­ord­ne­ten geplan­ten Angriff auf den Bun­des­tag und einer Macht­über­nah­me gekom­men, lässt sich ahnen, wie die neu­en Machthaber*innen mit migran­ti­schen und geflüch­te­ten Per­so­nen ver­fah­ren wären. Der Begriff der „Re-Migra­ti­on“ und die Plä­ne für Mas­sen­de­por­ta­tio­nen von Mil­lio­nen sind ja der­zeit in aller Munde.

Obwohl sich zwi­schen­zeit­lich fast dop­pelt so vie­le Jus­tiz- und Polizeibeamt*innen wie Zuschauer*innen auf den Tri­bü­nen auf­hiel­ten, konn­ten dort auch eini­ge ver­mut­li­che Unterstützer*innen der Ange­klag­ten aus­ge­macht wer­den. Ein pro­tes­tie­ren­der Schrei­hals, warf noch vor Ver­le­sung des Ankla­ge­sat­zes der Bun­des­an­walt­schaft vor „die Fal­schen anzu­kla­gen“ und spiel­te damit ver­mut­lich auf die Ver­schwö­rung rund um Q‑Anon an. Er wur­de aller­dings sehr schnell abge­führt. Etwas mode­ra­ter ver­hiel­ten sich zwei Frau­en, die mit aus­ge­brei­te­ten Armen von unter­schied­li­chen Sei­ten der Zuschauer*innentribüne offen­bar Ener­gie in den Gerichts­saal zu schi­cken ver­such­ten —  bis ihre Hän­de nach eini­gen Stun­den müde wur­den. Ob ihre Aura das Gericht und die Vor­sit­zen­de Rich­te­rin Dag­mar Illi­ni mil­de stim­men wird, muss sich noch zeigen.

Sterndeuterin im Dienste der AfD-Abgeordneten

An die­sem Phä­no­men wur­de aber auch deut­lich, wie wich­tig den Reichsbürger*innen um Reuß die­se Art der Spi­ri­tua­li­tät ist: So war eine der Münch­ner Ange­klag­ten, Hil­de­gard L., als astro­lo­gi­sche Mit­ar­bei­te­rin der in Frank­furt mit­an­ge­klag­ten AfD-MdB Mal­sack-Win­ke­mann angestellt.
Außer­dem war sie spi­ri­tu­el­le Bera­te­rin von Reuß und sei­ner poli­ti­schen Führungsriege.

Ein Ende nicht abzusehen

Ein 36-sei­ti­ges, läng­li­ches Opening–Statement des ehe­ma­li­gen Ver­tei­di­gers der NSU-Ter­ro­ris­tin Bea­te Zsch­ä­pe, Wolf­gang Heer, und jede Men­ge ange­kün­dig­ter Anträ­ge ver­schie­de­ner wei­te­rer Verteidiger*innen gaben bereits am ers­ten Tag einen Vor­ge­schmack dar­auf, wie sich der Pro­zess bis zum geplan­ten Ende im Janu­ar 2025 oder dar­über hin­aus in die Län­ge zie­hen könn­te. Es bleibt span­nend, wie die Drei­tei­lung des Pro­zes­ses sich auf das Ver­fah­ren aus­wir­ken wird und wel­che Stra­te­gien die Ange­klag­ten und ihre Verteidiger*innen anwen­den wer­den. Vor allem das Span­nungs­feld zwi­schen Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen und rech­tem Ter­ror könn­te das Ver­fah­ren prä­gen. Wie die Richter*innen die­ses beur­tei­len wer­den, sowie der Aus­gang des Pro­zes­ses blei­ben zunächst offen.

Gefährliche Filme: Fahrlässige Doku über Südthüringen bei Dok.fest München

Demo­cra­zy“ heißt ein Schwer­punkt auf dem dies­jäh­ri­gen Mün­che­ner Doku­men­tar­film­fes­ti­val Dok.fest und wid­met sich den „aus­ein­an­der­stre­ben­den Kräf­ten inner­halb euro­päi­scher Demo­kra­tien“, wie es im Pro­gramm­heft heißt. Mit „cra­zy“ ist noch mild umschrie­ben, mit wel­chem poli­tisch und ästhe­tisch aus der Zeit gefal­le­nen Strei­fen Deutsch­land in die­ser Rei­he ver­tre­ten ist. Mit „Frag­men­te aus der Pro­vinz“ vom Doku­men­tar­fil­mer Mar­tin Wein­hart lief auf dem Dok.fest ein Film, der die bevor­ste­hen­den Damm­brü­che der Faschi­sie­rung in Ost­deutsch­land in fahr­läs­si­ger Wei­se ver­harm­lost und ohne Kennt­nis der wah­ren Situa­ti­on vor Ort zur Nor­ma­li­sie­rung beiträgt.

Tommy Frenck im Fokus

Um was geht es: der Film spielt in Süd­thü­rin­gen, wo seit Jahr­zehn­ten der Neo­na­zi Tom­my Frenck der weit­ge­hend hilf­lo­sen (Zivil-)Gesellschaft auf der Nase her­um­tanzt. Und Frenck ist das The­ma, das der Film gera­de­zu mikro­sko­pisch in den Fokus nimmt. Zur Erin­ne­rung: der aus Schleu­sin­gen stam­men­de Mitt­drei­ßi­ger ist weit über die Gren­zen Thü­rin­gens hin­aus für sein Agie­ren als Faschist bekannt und mischt spä­tes­tens als Wirt der Gast­stät­te „Gol­de­ner Löwe“ in Klos­ter Veß­ra den struk­tur­schwa­chen Land­strich auf. Er betreibt die­se Gast­stät­te, wo das Füh­rer­schnit­zel am 20. April immer 8.88 Euro kos­tet, die Ver­sand­han­del druck18 bzw. 88 für Nazi-Out­fit, Nazi­li­te­ra­tur und Nazi­de­vo­tio­na­li­en, orga­ni­siert in der Nach­bar­schaft die größ­ten Rechts­rock-Kon­zer­te im gan­zen Land mit über 6000 teil­neh­men­den Hard­core-Nazis – auf dem Pri­vat­grund des AfD-Poli­ti­kers Bodo Dressel — und lotet die wachs­wei­chen Gen­zen der hei­mi­schen Demo­kra­tie auf kom­mu­na­ler und Lan­des­ebe­ne aus – ent­we­der in sei­ner Jugend für die NPD, dann deren Nach­fol­ge-Par­tei „Die Hei­mat“ und die Wäh­ler­ge­mein­schaft Bünd­nis Zukunft Hild­burg­hau­sen. Als Land­rats­kan­di­dat erhielt er 2018 17 Pro­zent der Stim­men, 2022 30 Pro­zent als Bür­ger­meis­ter­kan­di­dat in Klos­ter Veßra.

Nazi-Versteher-Filme

Die Fra­ge ist nun, war­um Mar­tin Wein­hart es für rich­tig hält, mit sei­ner Kame­ra die­sem Men­schen wirk­lich auf die Pel­le zu rücken und Löcher in den Bauch zu fra­gen – und ihn so hof­fä­hig zu machen, zu nor­ma­li­sie­ren und zu ver­harm­lo­sen. So, wie Wein­hart sich auch beim Publi­kums­ge­spräch im Anschluss an die Film­vor­füh­rung in der Hoch­schu­le für Film und Fern­se­hen (HFF) in Mün­chen gab, scheint er zu glau­ben, einen ganz gro­ßen Coup gelan­det zu haben und der Welt wirk­lich mal unge­schminkt einen Neo­na­zi vor­zu­füh­ren. Dass sein Agie­ren sträf­lich geschichts­los ist, offen­bart ein Blick in die 1990-er Jah­re, wo die Nazi-Ver­ste­her-Fil­me „Stau – jetzt geht‘s los“ (1992), „Beruf Neo­na­zi“ (1993) (übri­gens über den Mün­che­ner Neo­na­zi Ewald Alt­hans), „Füh­rer Ex“ und vie­le wei­te­re mit ihren distanz­los inti­men Nah­auf­nah­men von Nazis hef­tig hin­ter­fragt und in lan­gen Dis­kus­sio­nen letzt­lich doch ver­wor­fen wur­den. Wenn der Mün­che­ner Fil­me­ma­cher Wein­hart dann auch noch resü­miert, mit Frenck kön­ne man gut reden und der wol­le doch auch nur irgend­wie dazu gehö­ren, dröhnt einem der Ärz­te-Song vom „stum­men Schrei nach Lie­be“ in den Ohren. Wein­reich bie­tet Frenck in gefühlt einem Fünf­tel des Films aus­führ­lich und kaum hin­ter­fragt Gele­gen­heit, sei­ne satt­sam bekann­te, unver­hoh­len men­schen­ver­ach­ten­de, ras­sis­ti­sche und in Tra­di­ti­on des his­to­ri­schen Natio­nal­so­zia­lis­mus ste­hen­de Ideo­lo­gie aus­zu­brei­ten. Es wird auch wahr­lich unan­ge­nehm kör­per­lich, wenn Frenck sei­ne Nazi-Tat­toos erläu­tern, Bank drü­cken und alle nur erdenk­li­chen Nazi-T-Shirts wie auf einer Moden­schau prä­sen­tie­ren darf. Die Kame­ra fährt durch die Küche von Frencks Gast­haus, beob­ach­tet die Zube­rei­tung von Essen in der voll­ge­stell­ten, ekli­gen Küche und führt Post­an­ge­stell­te beim Abtrans­port von mas­sen­wei­se Ver­sand­stü­cken vor. Fas­sungs­los fragt man sich, wer das im Jah­re 2024 noch braucht, um den Schuss zu hören. Zumal Frenck rou­ti­niert die Insze­nie­rung sei­ner Per­son durch den allen­falls harm­los nach­fra­gen­den Fil­me­ma­cher nutzt, um unge­fil­tert und freund­lich lächelnd sei­ne haar­sträu­ben­de Ideo­lo­gie – natür­lich inklu­si­ve N‑Wort – in die Kame­ra zu spre­chen. Sicher kann sich Wein­hart auch nicht an Michel Fried­manns Inter­view mit dem fana­ti­schen Holo­caust-Leug­ner Horst Mahler 2010 erin­nert, wo Fried­mann dach­te, weiß Gott wie er den ver­bohr­ten Nazi da vor­ge­führt habe: Tat­sa­che bleibt, dass Mahler damals ent­spannt die Gele­gen­heit nutz­te, sei­ne Leug­nung der Sho­ah ein­mal mehr zu wiederholen.

Mit Maaßen on the road

Aber nicht genug damit: der Film hat einen wei­te­ren Prot­ago­nis­ten, näm­lich Hans-Georg Maa­ßen, den eins­ti­gen Chef des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz, den eine rechts­of­fe­ne CDU im Wahl­kreis Wahl­kreis Suhl/­Sch­mal­kal­den-Mei­nin­gen/Hild­burg­hau­sen/­Son­ne­berg (Son­ne­berg? Ja: Son­ne­berg!) 2021 als Bun­des­tags­kan­di­da­ten auf­stell­te. Als sol­cher tin­gelt er im Film durch Süd­thü­rin­gen und nimmt an aller­lei gna­den­los stumpf wir­ken­den Volks­bes­lus­ti­gun­gen teil und gibt sich mit sei­nem Null-Cha­ris­ma bür­ger­nah. Höhe­punkt die­ser Seg­men­te des Films ist eine Wan­de­rung, wel­che die eins­ti­ge Thü­rin­ger CDU-Minis­ter­prä­si­den­tin Chris­ti­ne Lie­ber­knecht orga­ni­siert hat und zu der sich selbst Lan­des­va­ter Bodo Rame­low von der Links­par­tei zu kom­men genö­tigt fühl­te. Gemein­sam stap­fen die Wan­ders­leut‘ durch die Land­schaft, lup­fen immer wie­der ein Schnäps­chen und stel­len in Wein­harts Vor­stel­lung wohl die Ver­kör­pe­rung der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Demo­kra­tie dar: Maa­ßen, Rame­low, Lie­ber­knecht und dazu noch der eins­ti­ge CDU-Innen­mi­nis­ter, Shrek Trautvetter.

Unverzeihlich

Dass Maa­ßen unter­des­sen mit sei­ner Wer­te­uni­on selbst aus dem Rah­men der CDU rechts aus dem Bild gekippt ist, küm­mert Wein­hart eben­so­we­nig wie die Gesamt­si­tua­ti­on in Thü­rin­gen, wo mit einem Wahl­sieg der AfD bei etwa 30 Pro­zent der Wäh­ler­stim­men und einem poli­ti­schen Desas­ter zu rech­nen ist. Thü­rin­gen – kennt Wein­hart die zahl­lo­sen Stich­wor­te, die Thü­rin­gen in Zei­ten der Faschi­sie­rung umrei­ßen, nicht: NSU, Ball­städt, Höcke, Hei­se, Fret­ter­ode usw. Wein­hart muss so besof­fen von sei­nem Mate­ri­al gewe­sen sein, dass er wohl dach­te, er wür­de nun mit die­sen Bil­dern unsterb­lich. Das mag man ihm viel­leicht noch ver­zei­hen, nicht aber sei­ne sträf­li­che Bana­li­sie­rung eines uner­träg­li­chen brau­nen Ist-Zustan­des. Und der offen­sicht­lich in die­ser Fra­ge schwer über­for­der­ten Jury des Dok.festes – des­sen Lei­ter Dani­el Spon­sel das unsäg­li­che Gespräch nach der Film­vor­füh­rung höchst­selbst mode­rier­te – auch nicht.