Das brutalistische Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße in München ist derzeit Schauplatz mehrerer zum Teil bizarrer „Reichsbürger“-Verfahren
„Der Faschismus funktioniert nur, wenn viele Menschen mitmachen“, sagt Johannes M. eindringlich zu einem der Polizeibeamt*innen, die ihn hier im Münchener Gerichtssaal bewachen und die er als Büttel einer faschistischen Firma betrachtet. „Sans ma ned bös, Herr M., aber des interessiert mich nicht“, erwidert der sichtlich genervte Beamte. Seine Genervtheit ist gut nachvollziehbar, das Verfahren gegen den selbsternannten Propheten des Untergangs ist an Absurdität kaum zu überbieten.
Christliche Versatzstücke
M. ist angeklagt, Rädelsführer einer kriminellen Vereinigung zu sein, die sich des Telefonterrors bei Behörden und der Bedrohung von Praxismitarbeiter*innen schuldig gemacht haben soll. Verhandelt wird seit Ende Juni vor dem Staatsschutzsenat des Landgerichts München, die Sicherheitsvorkehrungen sind enorm, strenger als im parallel stattfindenden so genannten Reuß-Prozess gegen 8 Angeklagte. M. wiederholt in Endlosschleifen seine wahnwitzige Weltsicht zwischen Reichsbürgerdenken, Verschwörungsmythos QAnon und christlichen Versatzstücken. Er sagt, dass es sich bei den deutschen Behörden um 47.000 private Firmen handele und dass er hier gegen seinen Willen bei einer Firmenbesprechung sei.
M. wiederholt unbeirrt und mit lauter Stimme die immer gleichen Textbausteine seiner Verschwörungsidee. Am 18. Juli, so prophezeit er, werde das US-Militär unter Commander in Chief Donald J. Trump eh übernehmen und dann werde mit den Nazis hier, die seit 109 Jahren Krieg gegen das deutsche Volk führten, aufgeräumt: nach göttlichem Willen und nach der Offenbarung des – ja, wessen? – Johannes würden zwei Drittel der Leute hier wegen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen, vor allem gegen Kinder, vor’s Kriegsgericht gestellt und gerichtet. Wenn die Richter oder die beiden Vertreterinnen des Generalstaatsanwalts oder gar die psychiatrischen Sachverständigen es wagen ihn zu unterbrechen, belegt er sie mit unflätigen Schimpftiraden, Flüchen und Drohungen: er sei mit dem Militär in ständigem Kontakt und es werde hier alles aufgenommen.
Hörige Fangemeinde
Dabei bleibt er stehen und dreht dem Senat den Rücken zu und bespielt eine wachsende Zahl von Jünger*innen, die ihn aus dem Publikumsbereich anhimmeln. Der manipulative Prediger in eigener Sache versteht es sogar, seine Stimme brechen zu lassen und Tränen vorzuspielen, weil er zunächst im „Nazi-KZ Haar“ – er meint das Bezirksklinikum, wo er ein halbes Jahr im Maßregelvollzug verbrachte – oder in der U‑Haft festgehalten werde. Dabei hält er oft Heiligenbildchen in der Hand und betet gemeinsam mit seinen Anhänger*innen. Fast noch mehr als M. selbst, schockiert die Hörigkeit seiner Gemeinde, die offenbar Geld und Zeit genug hat, um regelmäßig zum Prozess aus ganz Deutschland anzureisen – da ist von Berlin, Winterberg, Soest die Rede. Gefragt, ob sie M.s Aussagen für bare Münze nähmen, antworten sie fest und überzeugt: Ja! Dass seine dystopischen Vorhersagen stets nicht eintreffen, stört sie offenbar gar nicht in ihrer messianischen Verzückung.
Über weite Strecken mutet das Geschehen im Gerichtssaal wie eine absurde, komische Oper an: Während der Senat versucht, Zeug*innen und Sachverständige zu befragen, fährt M. ungerührt mit dröhnender Stimme mit seiner Suada fort. Seine „Fangemeine“, wie der Vorsitzende die Besucher*innen mahnend anspricht und mit Sanktionen droht, wird im Laufe der psychiatrischen Begutachtung immer unruhiger, die hingezischten Worte „Folter“ und „Unrecht“ werden lauter. Der Richter wirkt recht hilflos, wenn er die Verhandlung alle Viertelstunde unterbricht, um danach ein Ordnungsgeld gegen M. zu verhängen, weil er stets in der Begründung die zum Teil sexistischen Beschimpfungen wiederholen muss. Bisweilen verhandeln bzw. brüllen das Gericht und M. im Chor, zu verstehen ist wenig, die Meute hinten wird noch unruhiger und bestärkt M. in seinem Wüten.
Zusammenrottung rechter Fanatiker*innen
Das Verfahren gegen M. ist nur eines der Verfahren, in denen – auch nicht nur in München – wohl die Corona-Folgen abgearbeitet werden. Mit der Pandemie und folgenden Krisen sind sehr viele Menschen im Lande dem politischen System der Bundesrepublik von der Fahne gegangen oder haben sich sogar den irrwitzigsten Verschwörungsideologien und terroristischen und Preppergruppen angeschlossen. Ebenso wie im Reuß-Prozess, wo Angeklagte unbeirrt an der QAnon-Story festhalten, oder im Verfahren gegen weitere Reichsbürger im benachbarten Gerichtssaal, wo es um die Ausgabe illegaler Urkunden eines „Bundesstaates Bayern“ geht, werden Thesen vertreten, von denen man nicht fassen kann, dass irgendjemand sich dem ernstlich verschreiben könnte. Man möchte sie als völlig durchgedrehten Unfug vom Tisch wischen. Aber das Drohszenario, das Täter*innen wie M. und seine zeitweise bis zu 50.000 Follower auf seinem Telegram-Kanal entfalten, oder die Tatsache, dass es im Reuß-Verfahren um Beamt*innen selbst, politische Mandatsträger*innen und eben auch (Elite-)Soldat*innen und Polizist*innen geht, die Waffen horteten, zeigen, dass es sich nicht um harmlose Spinner*innen, sondern um gefährliche Zusammenrottungen rechter Fanatiker*innen handelt, die keineswegs zu unterschätzen sind.
Dieser Beitrag erschien am 18. Juli 2024 in gekürzter Fassung im nd.
„Es gibt keine Entschuldigung dafür, die AfD zu wählen!“ So antwortete Arne Semsrott bei der Premierenpräsentation seines Buches „Machtübernahme“ in Nürnberg Anfang Juni auf die Frage eines Zuschauers, der wisse wollte, ob es nicht vielleicht mehr Verständnis für AfD-Wähler*innen bräuchte.
Vor etwa 100 Zuschauer*innen las Semsrott in der Villa Leon in Nürnberg und kokettierte auf charmante Art mit dieser Premierensituation. In dem Buch geht es darum, was passiert, wenn die AfD auf Bundesebene an der Regierung beteiligt wird. Und vor allem darum, wie die Teile der Gesellschaft, die noch an demokratischen Verhältnissen interesiert sind, sich dagegen wehren können.
Bröckelnde Brandmauer
Semsrott ist der Meinung, dass eine Regierungsbeteiligung der AfD durchaus realistisch ist und dass die „Brandmauer“ fallen kann, die bisher die bürgerlichen Parteien von einer Zusammenarbeit mit der AfD abhält. Auf regionaler und kommunaler Ebene ist diese Brandmauer vielerorts bereits weitgehend abgetragen.
Das Szenario im Buch macht außerdem deutlich, welche Möglichkeiten die AfD bereits hat, wenn sie sich im Rahmen der bereits bestehenden Gesetze bewegt, um ihre völkisch-nationalistische Ideologie durchzusetzen. Auch ohne eine Änderung des Grundgesetzes oder anderer weitreichender Rechtsstandards kann die AfD reichlich Schaden anrichten. In Ostdeutschland, wo sie in Umfragen bereits zwischen 25 und 40 Prozent rangiert, tut sie das schon. Etwa indem sie auf bestimmten Posten in Verwaltung, Medien, Polizei und Behörden nur „gesinnungstreue“ Anhänger*innen durchzusetzen versucht. Die reaktionäre Politik treffe, so Semsrott, vor allem marginalisierte Gruppen wie migrantische oder queere Menschen. Massenhafte Abschiebungen nach völkischen Kriterien – Stichwort „Remigration“ – könnten bald schon an der Tagesordnung sein. Die bürgerlichen Parteien, so möchte man Semsrott beipflichten, überschlagen sich ja derzeit in vorauseilendem Gehorsam.
Sondervermögen Demokratie
Allerdings sagt er auch: „Es ist nie zu spät!“ Selbst wenn die AfD regiert, gibt es jede Menge Formen des Widerstands. Dabei diskutiert er beispielsweise ein Sondervermögen für Demokratie, was ähnlich wie das für die Bundeswehr aufgebaut sein könnte. Semsrott propagiert, was er „solidarisches Prepping“ nennt – also die aktive Vorbereitung von Gemeinschaften auf schlechte (politische) Zeiten, in denen die Menschen im Ernstfall füreinander einstehen oder sich in Selbstverteidigung üben können. Ziel kann es dabei auch sein, sagt Semsrott, „safe spaces“ für besonders schutzbedürftige Gruppen zu schaffen.
Der Mitgründer der Informationsfreiheits-NGO „#Fragdenstaat“ tritt außerdem aktiv für ein AfD-Verbot ein und erklärt, es sei sinnvoll zu protestieren, zu stören und – zum Beispiel in Behörden durch „Dienst nach Vorschrift“ zu streiken und menschenverachtende Politik zu blockieren. Politiker*innen der Partei sollten seiner Ansicht nach auch deutlich seltener eine Bühne in Talkshows und öffentlichen Events geboten werden. Stattdessen setzt er auf investigative Recherchen zu rechten Strukturen bis hin zu Hacking-Angriffen, um brisante Informationen zugänglich zu machen.
AfD: Unbedeutende Splitterpartei?
Der 36-jährige Berliner berichtet außerdem von der Plattform „Frag den Staat“, die es Bürger*innen leichter machen soll, Anfragen an Regierung, Verwaltung und Behörden, kurz: den Staat, zu richten. So konnte sein Team beispielsweise die Herausgabe von Teilen der NSU-Akten gerichtlich erzwingen. Außerdem schuf die NGO mit dem „Freiheitsfond“ eine Möglichkeit, sozial schwächere Betroffene aus dem Gefängnis freizukaufen, wenn sie Ersatzhaft wegen Fahrens ohne Fahrkarte absitzen müssen. Auf geradezu groteske Weise entlastet diese Initiative sogar Gefängnisse und spart Steuergelder ein.
Auch das Publikumsgespräch im Anschluss geriet zu einem spannenden Meinungsaustausch. Semsrott hat eine leicht selbstironische, ruhige und bedachte Art auf sein Publikum einzugehen. Das kommt gut an und auch kritische Anmerkungen zum Gesagten oder kurze abschweifende Statements sind willkommen.
Aus einem Nebensaal hatten sich auch einige wenige „Freidenker*innen“ in die Buchvorstellung verirrt und wollten lieber über die vermeintliche Diskriminierung Russlands sprechen. Ein weiterer Mitdiskutant bezeichnete die AfD als „unbedeutende Splitterpartei“, um die mit dem Buch viel zu großes Aufhebens gemacht werde: Die Menschen hätten andere Sorgen. Semsrott wies das zurück und beschrieb einmal mehr, wie schnell die AfD noch gefährlicher und mächtiger werden könne. Die Europawahlergebnisse, bei der die AfD 15,9 Prozent erzielte, bezeichnete er als Alarmzeichen.
„Dienst nach Vorschrift“ als Streikform
Mehrere Wortmeldungen machten deutlich, dass die Angst vor einer Machtübernahme von rechts viele Menschen umtreibt und in die Lesung zog. Einige Personen fragten, was sie jetzt persönlich tun könnten. Der Autor erzählt, wie er nach den Europa-Wahlergebnissen niedergeschlagen war, dem allerdings nicht nachgeben wollte. Am selben Abend noch kontaktierte er Bekannte, die von einer Zuspitzung rechter Politik am stärksten betroffen sein würden, um zu zeigen, dass er an sie denke und für sie einstehen werde.
Einer Lehrerin im Publikum war die Sorge anzusehen, dass sie in Zukunft dazu gezwungen werden könnte, Inhalte zu unterrichten, die sie für moralisch verwerflich hält. Sie und eine weitere Beamtin fühlten sich vor allem von den Teilen von Semsrotts Vortrag angesprochen, in dem die besondere Rolle und Verantwortung von Staatsbediensteten hervorgehoben wurde. Hier sieht Semsrott einen wirkmächtigen Ansatz, Missstände in Behörden anzusprechen und ein Kippen der jeweiligen Institution nach rechts zu verhindern.
In den Kampf gegen Rechts einsteigen
Das Fazit vieler Besucher*innen war, dass das Buch eine Realität skizziert, die beunruhigend nah scheint. Gerade nach den Großdemos im Januar, bei denen teils Hunderttausende Menschen gegen Pläne der extremen Rechten für Massendeportationen auf die Straße gegangen waren, mache das Buch Mut weiterzumachen, in den Kampf gegen rechts einzusteigen und nicht nachzulassen.
Zur Erinnerung an den 23. Todestag von Süleyman Taşköprü
Süleyman Taşköprü bat am Mittwoch, 27. Juni 2001, gegen 10.45 Uhr seinen Vater Ali, sich um den Einkauf von Waren zu kümmern. Danach muss er in seinem Gemüseladen in der Schützenstraße 39 in Altona von seinen Mördern überrascht worden sein. Sie erschossen ihn mit drei Kugeln, abgegeben aus zwei Pistolen, einer Česká 83 und einer Bruni. Als sein Vater um ungefähr 11.15 Uhr wieder zurückkehrte, fand er seinen Sohn auf dem Fußboden des Verkaufsraumes liegend mit einer blutenden Kopfverletzung vor. Wenig später konnte der Notarzt nur noch den Tod feststellen. Kurz darauf traf die Polizei ein und nahm die Ermittlungen in dem Tötungsdelikt auf. Die lokale Presse in der Stadt (BILD-Zeitung, Hamburger Morgenpost, Hamburger Abendblatt) berichteten dazu in den folgenden Tagen. Im Hamburger Abendblatt (HAB) war über einen „mysteriösen Mord am helllichten Tag“ sowie einer „Hinrichtung im Gemüseladen“ zu lesen. Aus der Sicht der polizeilichen Ermittler*innen lag das Motiv „noch völlig im Dunkeln“. Dem Abendblatt war es aber hier wichtig, dahingehend über das Motiv zu spekulieren, dass für die Tat „Schutzgelderpressung“ in Frage komme, wo „in vielen Fällen (…) die verbotene kurdische PKK dahinter“ stecke. (HAB v. 28.6.2001)
Vater Taşköprü: Deutsche Täter
Noch am Tag des Mordes vernahm die Polizei Taşköprüs Vater das erste Mal. Er habe bei seiner Rückkehr vor dem Geschäft zwei Männer gesehen, gab er zu Protokoll. Beide hätten gleich ausgesehen und seien 25 bis 30 Jahre alt gewesen. Auf die Frage: „Deutsche oder Türken?“, antwortete er: Deutsche. Ein Streit, in den sein Sohn habe verwickelt sein können, sei ihm nicht bekannt gewesen. Zwei Tage später gab es eine zweite Vernehmung. Er bekräftigte erneut, bei seiner Rückkehr zum Laden zwei männliche Personen im Bereich vor dem Laden gesehen zu haben, die sich in südliche Richtung entfernt hätten. Er beschrieb sie als etwa 1,78 Meter groß und jung, höchstens 25 Jahre alt. Ob „deutsch“ oder „ausländisch“, wusste er nicht genau zu sagen, aber er schloss aus, dass sie „südländisch“ gewesen seien. Ihre Haarfarbe sei hell gewesen. Es gab jedoch im Zusammenhang mit der Tatzeit noch weitere Zeuginnen. Eine gab dabei an, sie habe in den vergangenen etwa 14 Tagen mehrfach einen BMW beobachtet, dessen Fahrer mit Süleyman Taşköprü gesprochen habe, weder freundlich noch aggressiv. Eine genauere Beschreibung konnte sie nicht geben, es habe sich jedoch um einen „Südländer“ gehandelt, gab diese Zeugin zu Protokoll. Eine weitere Zeugin sagte aus, sie habe in ihrer Wohnung über dem Geschäft einen lauten Streit zwischen zwei Männern wahrgenommen. Auf die Frage, ob auf Deutsch oder „ausländisch“ gebrüllt worden sei, wollte sie nicht ausschließen, dass auch „türkische Worte“ gefallen seien. Eine dritte Zeugin berichtete von einem wenige Tage zurückliegenden Streit, den sie mitbekommen habe: Drei „südländisch“ aussehende Männer hätten sich im Laden aufgehalten, einer von ihnen hätte dem späteren Opfer „aufgeregt und wütend“ damit gedroht, wiederzukommen.
Zunächst konnte die Polizei natürlich noch nicht wissen, dass es sich um den dritten Mord als Teil einer Serie handelte. Am 9. September 2000 war der türkische Blumenhändler Enver Şimşek in seinem Transportwagen an einer Ausfallstraße bei Nürnberg ebenfalls mit zwei Tatwaffen erschossen worden. Elf Monate später, am 13. Juni 2001, also gerade einmal zwei Wochen vor der Ermordung Taşköprüs war — ebenfalls in Nürnberg — der türkische Staatsangehörige Abdurrahim Özüdoğru in seiner Änderungsschneiderei mit einer Pistole Marke Česká 83 ermordet worden. Das ergab die unmittelbar nach den beiden Taten vorgenommenen kriminaltechnische Untersuchung des Bundeskriminalamtes (BKA). Mit der Česká 83 war dieselbe Waffe als Tatwaffe verwendet worden. Vom Polizeipräsidium Mittelfranken (Nürnberg) war das schon fünf Tage nach der Tat in einer Pressemitteilung kommuniziert worden.[1]
Über Hamburg hinaus
Der Wissensstand der Hamburger Ermittler*innen zu der Mordsache Taşköprü sollte sich aber schnell und gravierend ändern. Als sie noch am Tattag zu dem Mord an Taşköprü ein Fernschreiben an bundesweite Dienststellen absetzten, meldeten sich schon kurz darauf die Nürnberger Kolleg*innen, die in der Mordsache Özüdoğru ermittelten. Offenbar kam ihnen der Modus Operandi der Mordtat bekannt vor. Jahre später, Ende Juni 2005 nach dem siebten Mord in der Serie, rapportierte das Hamburger Abendblatt die Aussage eines ungenannten Hamburger Ermittlers aus der Mordkommission: Sie seien noch am späten Abend des 27. Juni 2001 von Nürnberger Kolleg*innen angerufen worden. Dadurch sei ihnen klar geworden, „dass der Fall über Hamburg hinausgeht“. (HAB v. 23.6.2005) Einen Tag später informierten die Nürnberger Polizist*innen ihre Hamburger Kolleg*innen per Fax darüber, dass „die gleiche Tatwaffe“ bei der Tötung von zwei türkischen Staatsbürgern verwendet worden sei. Das war eine außerordentlich wichtige Information. Die Ermittler*innen sowohl in Hamburg wie auch in Nürnberg hätten also allen Grund dazu gehabt – umgangssprachlich formuliert – Alarm zu schlagen: Es war doch definitiv klar, dass man mit einer Mordserie in zwei großen Städten in der Bundesrepublik konfrontiert war. Und was passierte nun? Richtig: Zwecks genauer Prüfung der Tatwaffe wandten sich die Hamburger Ermittler*innen an das BKA und warteten. Wie lange? Es sollte lange zwei Monate, sprich bis zum 31. August 2001, dauern, bis das BKA die Identität der Tatwaffen im Hamburger und den beiden Morden an Şimşek und Özüdoğru feststellte. Gleich dazu die nächste Frage: Warum hat das BKA die eigentlich seit Ende Juni 2001 anstehende kriminaltechnische Untersuchung erst Ende August abgeschlossen? In München hatte sich, keine 72 Stunden zuvor, der nächste Mord, der vierte in der Serie, ereignet: Am 29. August 2001 zwischen 10.35 und 10.50 Uhr erschossen die Mörder im „Frischmarkt“ in der Bad-Schachener-Straße 14 in München den hinter dem Kassentresen stehenden 38-jährigen türkischen Gemüsehändler Habil Kılıç. Das BKA ermittelte hier binnen kürzester Frist, schon am 4. September, dass es sich um dieselbe Česká 83-Tatwaffe wie bei den drei vorangegangen Morden gehandelt hatte. Denkbar wäre auch, dass sich nach dem Mord an Kilic sowohl das BKA wie auch die Hamburger Ermittler*innen mit einem Mal an die noch offene Anfrage bezüglich der Tatwaffe von Hamburg von Ende Juni 2001 erinnert hatten.
Deutlich zu lange Frist
Ende August 2013 wurde der Abschlussbericht des ersten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestages zum NSU-Komplex veröffentlicht. In ihren gemeinsamen Bewertungen erklärten sich alle Fraktionen mit den in Bezug auf die Mordsache Taşköprü ungewöhnlich schleppend durchgeführten Ermittlungen nicht zufrieden. Eine „deutlich zu lange Frist“ ist da vermerkt. Ja, so darf man es wohl formulieren, um dann noch nachzuschieben, dass leider „nicht geklärt werden konnte, wer für die Verzögerung die Verantwortung trug“, zumal „nach dem nächsten Mord in München (…) die Feststellung der Serienzugehörigkeit weniger als eine Woche“ gedauert habe.[2]
Doch es kommt noch besser: Das Polizeipräsidium Mittelfranken veröffentlichte aus direktem Anlass der Ermordung von Kılıç am 5. September 2001 eine Pressemeldung. In Bezug auf den „Mord an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg“ wird nun in der Überschrift auf einen „Zusammenhang mit Mordfall in München“ hingewiesen: „Auf Grund des Schusswaffenvergleichs“ bei den Morden an Şimşek (9.9.200) und Özüdoğru (13.6.2001) sei „eine Identität der Tatwaffen festgestellt“ worden. Nun sei auch „der türkische Staatsangehörige Habil K. in seinem Obst- und Gemüseladen erschossen aufgefunden“ worden. In der Pressemitteilung wird von der Polizei nicht von einer Mordserie gesprochen, aber weiter wird ausgeführt: „Wie jetzt feststeht, ist auch im Münchener Fall die Tatwaffe identisch. Alle Fälle sind bisher noch nicht geklärt.“[3] Alle Fälle? Der Mord an Süleyman Taşköprü wird doch explizit nicht erwähnt. Warum wird er von der Polizei auch zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht zu „allen Fällen“ gezählt? Und das obwohl ein paar Tage zuvor vom BKA die Identität der Tatwaffe bestätigt worden war.
„Türkische Mentalität“
Nächste Frage: Wie lange dauerte es denn nun bis die Ermittler*innen dazu bereit waren, die Öffentlichkeit von dem Mord an Taşköprü als Teil derselben Mordserie zu unterrichten? Kurze Antwort: Zwei weitere Monate. Erst am 9. November 2001 setzte das Polizeipräsidium Mittelfranken die Öffentlichkeit via Pressemitteilung nun auch über einen, wie sie formulierte, „Zusammenhang jetzt auch mit Mordfall in Hamburg“ in Kenntnis. Vier Monate waren nun vergangen nachdem die Nürnberger Ermittler*innen die Hamburger Polizeikolleg*innen im Mordfall Taşköprü auf den unmittelbaren Zusammenhang mit einer Mordserie aufmerksam gemacht hatten. Immerhin findet sich in dieser Pressemitteilung erstmals der Begriff „Mordserie“. Hier hielt es die Polizei für angezeigt, darauf hinzuweisen, dass sich „nach Zeugenangaben (…) zwei Tage vor dem Verbrechen (an Taşköprü) drei Türken in dem Laden aufgehalten haben und sich mit dem späteren Mordopfer in sehr aggressiver Weise gestritten haben.“[4]
Die Polizei fertigte nach diesen Angaben ein Phantombild an. Die zu der Pressemitteilung hinzugefügte Bildveröffentlichung zeigte zwei „südländisch“ aussehende Verdächtige. Den Betrachter*innen wird so nahegelegt, es habe sich um einen Streit „unter den Türken“ gehandelt.. Ignoriert wurden die gegenläufigen Angaben in den Tatbeobachtungen des Vaters von Süleyman Taşköprü, der ja ausgeschlossen hatte, dass die beiden Täter „südländisch“ ausgesehen hätten, auch weil von ihm deren Haarfarbe als hell beschrieben worden war. Denkbar hier, dass die Polizeibeamt*innen dieser Aussage aus einem bestimmten Grund keine besondere Aufmerksamkeit schenken wollten: So formulierte diese Pressemitteilung eine in der Sache zwar falsche, gleichwohl für die weiteren polizeilichen Ermittlungen in den nächsten Jahren wirksame rassistische Erzählung: „Die Ermittlungen gestalteten sich aufgrund der türkischen Mentalität und der damit verbundenen Zurückhaltung sowie der Sprachbarriere von Anfang an sehr schwierig.“
Keine Soko für Hamburg
Auch heute noch türmen sich die weiter offenen Fragen zu den Ermittlungen der Hamburger Polizei im Mordfall Taşköprü auf. Wie mag denn gerade in den ersten Monaten nach dem 27. Juni 2001 die Zusammenarbeit zwischen den Hamburger und den Nürnberger Strafverfolgungsbehörden ausgesehen haben, die der Öffentlichkeit in der Pressemitteilung vom 9.11.2001 als „eng“ vorgestellt worden war? Wie eng konnte sie gewesen sein, wenn schon im Nürnberger Fernschreiben vom 28. Juni 2001 darauf hingewiesen wurde, dass zwei Tötungsdelikte an türkischen Staatsbürgern in Nürnberg mit der gleichen Tatwaffe verübt worden seien? Und warum wurde in Hamburg nicht wie in Nürnberg Mitte September 2001 eine Soko gebildet, als allmählich klar wurde, dass es sich um eine Mordserie handelte? Fragen über Fragen.
Die Hamburger Sicherheitsbehörden haben den parlamentarischen Untersuchungshausschüssen zum NSU bislang allein Kriminaloberrat Felix Schwarz als Zeugen zur Verfügung gestellt. Und der trat seinen Dienst in der diesbezüglichen Mordkommission erst ab dem 1. Februar des Jahres 2006 an. Insofern konnte er bei seinen Befragungen im Berliner und Mecklenburger Untersuchungsausschuss für die Zeit der polizeilichen Ermittlungen in Hamburg in der Mordsache Taşköprü in den Jahren 2001 ‑2003 vieles allenfalls vom Hörensagen kolportieren.
Grüne Schritte
Mitte April 2023 wurde der Antrag der Partei Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft auf die Einsetzung einen NSU-Untersuchungsausschusses abgelehnt. Bei Annahme hätte dieses Gremium in weniger als sechs Monaten seine Arbeit aufnehmen können. Von der Fraktion der Grünen war der Antrag der Linken trotz eines gegenläufigen Parteitagsbeschlusses nicht unterstützt worden. Gemeinsam mit der SPD nahm sie in der Bürgerschaft den Antrag an, nunmehr die „Aufarbeitung des NSU-Komplexes im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie“ durchzuführen.[5] Das sei doch „ein großer Schritt in Richtung umfassenderer Aufklärung“, gaben sich die Grünen in einer Pressemitteilung damals überzeugt. Mehr noch: Die Grünen bezeichneten es als ganz „entscheidend (…), dass die Aufklärungsarbeit nun endlich und intensiv vorangetrieben wird.“ Eben dies „sollte der Fokus der Debatte sein und bleiben.“[6] Wie wurde nun die Aufklärungsarbeit „intensiv vorangetrieben?“ Die Fortschritte sind schleppend: Nach jüngster Auskunft der Pressestelle der Hamburger Bürgerschaft gibt es inzwischen bei der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft einen Beirat, der zunächst nur damit beauftragt ist, ein Vergabeverfahren bis zum Ende das Jahres 2024 abzuschließen, „so dass mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung zum Jahresbeginn 2025 begonnen werden kann. Ein Büro für den Beirat ist nicht eingerichtet, er tagt in den Sitzungsräumen der Bürgerschaft.“ (Mail an den Verfasser vom 18.6.2024)
Somit darf zunächst einmal trocken festgestellt werden: Der von den Grünen Mitte April 2023 vor mehr als einem Jahr versprochene „große Schritt“ in Sachen „umfassender“ NSU-Aufklärung in Hamburg ist bislang unterblieben. Für die seit April 2023 als Alternative zu einem Untersuchungsausschuss angestrebte „wissenschaftliche Studie“ existiert auch am 23. Todestag von Süleyman Taşköprü noch nicht einmal eine Ausschreibung.
Fußnoten:
[1] Polizeipräsidium Mittelfranken POL-MFR: (1123) Mordfall Özüdoğru — hier: Zusammenhang mit Mordfall Şimşek, PM vom 18.6.2001, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/257963
[4] Polizeipräsidium Mittelfranken POL-MFR: 2073. Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg und München hier: Aktueller Ermittlungsstand: 9.11.2001 mit Bildveröffentlichungen Zusammenhang jetzt auch mit Mordfall in Hamburg, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/298764
Die Akustik-Elemente im alten NSU-Gerichtssaal A 101 im Strafjustizzentrum München, in dem das dritte Reuß-Verfahren nun verhandelt wird
Sie wollten den Staat stürzen und bauten einen militärischen Arm für einen gewaltsamen Sturm auf den Bundestag auf: So lässt sich die Anklage der Bundesanwaltschaft (BAW) gegen die acht in München vor dem Oberlandesgericht (OLG) angeklagten Mitglieder der Reichsbürgergruppe um Prinz Heinrich XIII Reuß zusammenfassen.
Hochverrat und Staatsgefährdung
In Frankfurt und Stuttgart wird schon seit einigen Wochen der Prozess gegen 18 weitere Mitglieder dieser Gruppe – in Frankfurt Prinz Reuß auch persönlich – eröffnet. Unter den Angeklagten große Teile der politischen Führungsriege der Verschwörer*innen und des militärischen Arms, den so genannten Heimatschutzkompanien (HSK). Neben hochverräterischen Absichten und der Vorbereitung staatsgefährdender schwerer Straftaten wird ihnen die Gründung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen.
Als nun in München die 8 Angeklagten vorgeführt wurden, hielt sich allerdings das öffentliche und mediale Interesse in Grenzen – verglichen zumal mit dem Promi-Verfahren in Frankfurt, wo Reuß selbst, aber auch die einstige AfD-Bundestagsabgeordnete und Ex-Richterin Malsack-Winkemann und die beiden ehemaligen hohen Bundeswehr-Offiziere von Pescatore und Eder vor Gericht stehen.
Der erwartete Andrang wie zu Zeiten des NSU-Prozesses blieb in München aus. Dieser hatte damals im selben Gerichtssaal A 101 stattgefunden und zumindest einige der Gesichter unter den Journalist*innen und Verteidiger*innen von damals waren wieder dabei.
Die Besucher*innen wurden nicht nur durch ein großes Polizeiaufgebot im Saal, inklusive Absperrungen und gründlicher Durchsuchungen eingeschüchtert. Sie mussten außerdem sämtliche Taschen, technischen Geräte und Trinkflaschen abgeben. Auch die kahlen Betonwände des großen Saales wirkten durchaus erdrückend.
Croissants und Handyverbot
„Ich werde selbstverständlich jeden Tag Croissants mitbringen“ scherzte der Pressesprecher des Oberlandesgerichts, Laurent Lafleur, zwei Wochen vor Prozessbeginn gegenüber den Journalist*innen bei einer Führung durch den Gerichtssaal. Trotz dieser bemühten Freundlichkeiten blieben die Auflagen des Gerichts für Pressevertreter*innen dennoch hart: Sie mussten am Zugang zum Pressebereich einem Justizbeamten vorweisen, dass ihre Handys ausgeschaltet waren, und konnten ihre Laptops nur ohne Internetverbindung nutzen.
Der gesamte Vormittag war nach den Eröffnungsformalia der mehrstündigen Verlesung der Anklageschrift gewidmet. Die Sitzungsvertreter*innen des Generalbundesanwaltes im Verfahren fächerten darin die Planungen der Gruppe in den Jahren 20 – 22 auf: Die Angeklagten in München seien demnach unter anderem auch für Ämter in der Putschist*innen-Regierung vorgesehen und in Waffengeschäfte verwickelt gewesen. Außerdem werde einigen von ihnen vorgeworfen, für den Aufbau der insgesamt über 280 geplanten HSK-Truppen, die Rekrutierung und Vernetzung mit Unterstützer*innen, sowie die Gewährleistung einer abhörsicheren Kommunikation etwa über Satellitentelefone zuständig gewesen zu sein.
Außerdem schilderte die Bundesanwaltschaft im Detail das Weltbild der Reichsbürger*innen: So würden die Anhänger*innen an die krude Verschwörungserzählung Q‑Anon glauben, die im Kern besagt, dass „die Eliten“ Kinder in unterirdischen Tunnelsystemen gefangen hielten, um sie zu misshandeln und aus ihrem Blut Verjüngungsserum zu gewinnen.
Eine der Angeklagten habe sich in der Schweiz auch mehrmals mit den Eltern eines vermeintlich in diese Unterwelt entführten Kindes getroffen.
Irre Narrative und realer Terrorismus
Außerdem habe die Gruppe für ihr Vorhaben immer wieder Kontakt und Unterstützung bei offiziellen Vertreter*innen der russischen Föderation etwa im Generalkonsulat in Frankfurt und in Bratislava gesucht.
Vor allem die ablehnende Haltung zu Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 hätte die Gruppe radikalisiert und geeint. Die in München angeklagte und als Gesundheitsministerin der Putschist*innen vorgesehene Ärztin, Melanie R., habe laut Anklage beispielsweise immer wieder Vorträge zu den Auswirkungen von Impfungen mit dem während der Pandemie neu entwickelten MRNA-Serum gehalten.
Prozessbeobachter*innen diskutierten in der Mittagspause, ob die Umsturzpläne wohl ohne die Pandemie zustande gekommen wären. Außerdem stellten sie sich die Frage, ob die „Gruppe Reuß“ nur ein Beispiel für das Umkippen ganzer Bevölkerungsgruppen in verschwörungsideologisches Denken darstelle. Immerhin seien sie nicht die einzigen, die im Laufe der Zeit aufgeflogen und jetzt peu-á-peu angeklagt würden. Neben den „Reuß-Prozessen“ laufen derzeit auch Prozesse gegen die „Kaiserreichgruppe“/„Patriotische Vereinigung, die vorhatte, Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu entführen, sowie gegen den „Reichsbürger-Star“ Johannes M..
Der verlesene Anklagesatz im Reuß-Verfahren verdeutlicht durchaus die Absurdität der Gesinnung der Angeklagten. Jenseits der zum Teil irrwitzigen Verschwörungserzählungen konnte die Bundesanwaltschaft vor allem durch die Aufzählung der von der Gruppe gehorteten Waffen samt Munition, Waffenteilen und weiterer Militärausstattung den Ernst der Absichten der Gruppe veranschaulichen. Unter anderem habe die Gruppe, der auch hochrangige KSK-Offiziere angehörten, versucht, Soldat*innen des Kommandos Spezialkräfte (KSK) zu rekrutierten, um die „Heimatschutzkompanien“ aufzubauen.
Antisemitisch, rassistisch und faschistisch
Dennoch mag manchen in der Anklage eine Einordnung der völkisch-nationalistischen und in Teilen faschistischen Ideologie der angeklagten Reichsbürger*innen gefehlt haben. Nur nebenbei erwähnt die BAW die rassistischen Ansichten zur Migrationspolitik – eine Einstufung der Verschwörungserzählungen rund um Q‑Anon als antisemitisch blieb gänzlich aus.
Diese Aussparungen könnten auf einige vor allem deshalb fatal wirken, da sie einen großen Teil der Gefahr verkennen, die von der „Gruppe Reuß“ ausging. Wäre es zu dem, mit Hilfe der AfD-Abgeordneten geplanten Angriff auf den Bundestag und einer Machtübernahme gekommen, lässt sich ahnen, wie die neuen Machthaber*innen mit migrantischen und geflüchteten Personen verfahren wären. Der Begriff der „Re-Migration“ und die Pläne für Massendeportationen von Millionen sind ja derzeit in aller Munde.
Obwohl sich zwischenzeitlich fast doppelt so viele Justiz- und Polizeibeamt*innen wie Zuschauer*innen auf den Tribünen aufhielten, konnten dort auch einige vermutliche Unterstützer*innen der Angeklagten ausgemacht werden. Ein protestierender Schreihals, warf noch vor Verlesung des Anklagesatzes der Bundesanwaltschaft vor „die Falschen anzuklagen“ und spielte damit vermutlich auf die Verschwörung rund um Q‑Anon an. Er wurde allerdings sehr schnell abgeführt. Etwas moderater verhielten sich zwei Frauen, die mit ausgebreiteten Armen von unterschiedlichen Seiten der Zuschauer*innentribüne offenbar Energie in den Gerichtssaal zu schicken versuchten — bis ihre Hände nach einigen Stunden müde wurden. Ob ihre Aura das Gericht und die Vorsitzende Richterin Dagmar Illini milde stimmen wird, muss sich noch zeigen.
Sterndeuterin im Dienste der AfD-Abgeordneten
An diesem Phänomen wurde aber auch deutlich, wie wichtig den Reichsbürger*innen um Reuß diese Art der Spiritualität ist: So war eine der Münchner Angeklagten, Hildegard L., als astrologische Mitarbeiterin der in Frankfurt mitangeklagten AfD-MdB Malsack-Winkemann angestellt.
Außerdem war sie spirituelle Beraterin von Reuß und seiner politischen Führungsriege.
Ein Ende nicht abzusehen
Ein 36-seitiges, längliches Opening–Statement des ehemaligen Verteidigers der NSU-Terroristin Beate Zschäpe, Wolfgang Heer, und jede Menge angekündigter Anträge verschiedener weiterer Verteidiger*innen gaben bereits am ersten Tag einen Vorgeschmack darauf, wie sich der Prozess bis zum geplanten Ende im Januar 2025 oder darüber hinaus in die Länge ziehen könnte. Es bleibt spannend, wie die Dreiteilung des Prozesses sich auf das Verfahren auswirken wird und welche Strategien die Angeklagten und ihre Verteidiger*innen anwenden werden. Vor allem das Spannungsfeld zwischen Verschwörungserzählungen und rechtem Terror könnte das Verfahren prägen. Wie die Richter*innen dieses beurteilen werden, sowie der Ausgang des Prozesses bleiben zunächst offen.
„Democrazy“ heißt ein Schwerpunkt auf dem diesjährigen Münchener Dokumentarfilmfestival Dok.fest und widmet sich den „auseinanderstrebenden Kräften innerhalb europäischer Demokratien“, wie es im Programmheft heißt. Mit „crazy“ ist noch mild umschrieben, mit welchem politisch und ästhetisch aus der Zeit gefallenen Streifen Deutschland in dieser Reihe vertreten ist. Mit „Fragmente aus der Provinz“ vom Dokumentarfilmer Martin Weinhart lief auf dem Dok.fest ein Film, der die bevorstehenden Dammbrüche der Faschisierung in Ostdeutschland in fahrlässiger Weise verharmlost und ohne Kenntnis der wahren Situation vor Ort zur Normalisierung beiträgt.
Tommy Frenck im Fokus
Um was geht es: der Film spielt in Südthüringen, wo seit Jahrzehnten der Neonazi Tommy Frenck der weitgehend hilflosen (Zivil-)Gesellschaft auf der Nase herumtanzt. Und Frenck ist das Thema, das der Film geradezu mikroskopisch in den Fokus nimmt. Zur Erinnerung: der aus Schleusingen stammende Mittdreißiger ist weit über die Grenzen Thüringens hinaus für sein Agieren als Faschist bekannt und mischt spätestens als Wirt der Gaststätte „Goldener Löwe“ in Kloster Veßra den strukturschwachen Landstrich auf. Er betreibt diese Gaststätte, wo das Führerschnitzel am 20. April immer 8.88 Euro kostet, die Versandhandel druck18 bzw. 88 für Nazi-Outfit, Naziliteratur und Nazidevotionalien, organisiert in der Nachbarschaft die größten Rechtsrock-Konzerte im ganzen Land mit über 6000 teilnehmenden Hardcore-Nazis – auf dem Privatgrund des AfD-Politikers Bodo Dressel — und lotet die wachsweichen Genzen der heimischen Demokratie auf kommunaler und Landesebene aus – entweder in seiner Jugend für die NPD, dann deren Nachfolge-Partei „Die Heimat“ und die Wählergemeinschaft Bündnis Zukunft Hildburghausen. Als Landratskandidat erhielt er 2018 17 Prozent der Stimmen, 2022 30 Prozent als Bürgermeisterkandidat in Kloster Veßra.
Nazi-Versteher-Filme
Die Frage ist nun, warum Martin Weinhart es für richtig hält, mit seiner Kamera diesem Menschen wirklich auf die Pelle zu rücken und Löcher in den Bauch zu fragen – und ihn so hoffähig zu machen, zu normalisieren und zu verharmlosen. So, wie Weinhart sich auch beim Publikumsgespräch im Anschluss an die Filmvorführung in der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in München gab, scheint er zu glauben, einen ganz großen Coup gelandet zu haben und der Welt wirklich mal ungeschminkt einen Neonazi vorzuführen. Dass sein Agieren sträflich geschichtslos ist, offenbart ein Blick in die 1990-er Jahre, wo die Nazi-Versteher-Filme „Stau – jetzt geht‘s los“ (1992), „Beruf Neonazi“ (1993) (übrigens über den Münchener Neonazi Ewald Althans), „Führer Ex“ und viele weitere mit ihren distanzlos intimen Nahaufnahmen von Nazis heftig hinterfragt und in langen Diskussionen letztlich doch verworfen wurden. Wenn der Münchener Filmemacher Weinhart dann auch noch resümiert, mit Frenck könne man gut reden und der wolle doch auch nur irgendwie dazu gehören, dröhnt einem der Ärzte-Song vom „stummen Schrei nach Liebe“ in den Ohren. Weinreich bietet Frenck in gefühlt einem Fünftel des Films ausführlich und kaum hinterfragt Gelegenheit, seine sattsam bekannte, unverhohlen menschenverachtende, rassistische und in Tradition des historischen Nationalsozialismus stehende Ideologie auszubreiten. Es wird auch wahrlich unangenehm körperlich, wenn Frenck seine Nazi-Tattoos erläutern, Bank drücken und alle nur erdenklichen Nazi-T-Shirts wie auf einer Modenschau präsentieren darf. Die Kamera fährt durch die Küche von Frencks Gasthaus, beobachtet die Zubereitung von Essen in der vollgestellten, ekligen Küche und führt Postangestellte beim Abtransport von massenweise Versandstücken vor. Fassungslos fragt man sich, wer das im Jahre 2024 noch braucht, um den Schuss zu hören. Zumal Frenck routiniert die Inszenierung seiner Person durch den allenfalls harmlos nachfragenden Filmemacher nutzt, um ungefiltert und freundlich lächelnd seine haarsträubende Ideologie – natürlich inklusive N‑Wort – in die Kamera zu sprechen. Sicher kann sich Weinhart auch nicht an Michel Friedmanns Interview mit dem fanatischen Holocaust-Leugner Horst Mahler 2010 erinnert, wo Friedmann dachte, weiß Gott wie er den verbohrten Nazi da vorgeführt habe: Tatsache bleibt, dass Mahler damals entspannt die Gelegenheit nutzte, seine Leugnung der Shoah einmal mehr zu wiederholen.
Mit Maaßen on the road
Aber nicht genug damit: der Film hat einen weiteren Protagonisten, nämlich Hans-Georg Maaßen, den einstigen Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, den eine rechtsoffene CDU im Wahlkreis Wahlkreis Suhl/Schmalkalden-Meiningen/Hildburghausen/Sonneberg (Sonneberg? Ja: Sonneberg!) 2021 als Bundestagskandidaten aufstellte. Als solcher tingelt er im Film durch Südthüringen und nimmt an allerlei gnadenlos stumpf wirkenden Volksbeslustigungen teil und gibt sich mit seinem Null-Charisma bürgernah. Höhepunkt dieser Segmente des Films ist eine Wanderung, welche die einstige Thüringer CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht organisiert hat und zu der sich selbst Landesvater Bodo Ramelow von der Linkspartei zu kommen genötigt fühlte. Gemeinsam stapfen die Wandersleut‘ durch die Landschaft, lupfen immer wieder ein Schnäpschen und stellen in Weinharts Vorstellung wohl die Verkörperung der bundesrepublikanischen Demokratie dar: Maaßen, Ramelow, Lieberknecht und dazu noch der einstige CDU-Innenminister, Shrek Trautvetter.
Unverzeihlich
Dass Maaßen unterdessen mit seiner Werteunion selbst aus dem Rahmen der CDU rechts aus dem Bild gekippt ist, kümmert Weinhart ebensowenig wie die Gesamtsituation in Thüringen, wo mit einem Wahlsieg der AfD bei etwa 30 Prozent der Wählerstimmen und einem politischen Desaster zu rechnen ist. Thüringen – kennt Weinhart die zahllosen Stichworte, die Thüringen in Zeiten der Faschisierung umreißen, nicht: NSU, Ballstädt, Höcke, Heise, Fretterode usw. Weinhart muss so besoffen von seinem Material gewesen sein, dass er wohl dachte, er würde nun mit diesen Bildern unsterblich. Das mag man ihm vielleicht noch verzeihen, nicht aber seine sträfliche Banalisierung eines unerträglichen braunen Ist-Zustandes. Und der offensichtlich in dieser Frage schwer überforderten Jury des Dok.festes – dessen Leiter Daniel Sponsel das unsägliche Gespräch nach der Filmvorführung höchstselbst moderierte – auch nicht.