Erinnern heißt kämpfen“: Die Zukunft des Strafjustizzentrums in München

Das früh­mor­gend­lich erleuch­te­te Straf­jus­tiz­zen­trum am 9. Dezem­ber 2015, dem Tag, als die NSU-Ter­ro­ris­tin erst­mals aus­sa­gen woll­te — der „Gla­mour“ der Haupt­an­ge­klag­ten trieb viel Publi­kum in den Saal A101 (Foto: Burschel)

Das Mün­che­ner Straf­jus­tiz­zen­trum ist weit mehr als ein funk­tio­na­ler Ort für juris­ti­sche Abläu­fe. Der­zeit steht es im Mit­tel­punkt einer Debat­te über sei­ne Zukunft: Soll­te es abge­ris­sen oder einer neu­en Nut­zung zuge­führt wer­den? Noch ist das Gebäu­de in Betrieb, aber sei­ne sym­bo­li­sche und his­to­ri­sche Bedeu­tung wirft die Fra­ge auf, ob und wie man die­sen Ort bewah­ren soll­te, wenn die Gerich­te wie geplant umziehen.

Es ist ein Ort, der in der Geschich­te der deut­schen Jus­tiz und ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit rech­tem Ter­ror und neo­na­zis­ti­schen Netz­wer­ken eine sym­bo­li­sche und tief­grei­fen­de Bedeu­tung erlangt hat. Über Jahr­zehn­te hin­weg war es Schau­platz bedeu­ten­der Ver­fah­ren, die nicht nur juris­tisch, son­dern auch poli­tisch und gesell­schaft­lich von größ­ter Rele­vanz waren. Dazu zäh­len unter ande­rem der Pro­zess, der die ras­sis­tisch moti­vier­te Mord­se­rie des „Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds“ (NSU) ver­han­del­te, sowie der gegen den Waf­fen­lie­fe­ran­ten des Atten­tä­ters vom Olym­pia-Ein­kaufs­zen­trum (OEZ), der im Juli 2016 neun Men­schen eben­falls aus ras­sis­ti­schen Moti­ven dort ermor­det hat.

In einer Zeit, in der rech­te Gewalt und rech­ter Ter­ror immer wie­der und immer mehr auf erschre­cken­de Wei­se in Deutsch­land zuta­ge tre­ten, rückt die Dis­kus­si­on um das Straf­jus­tiz­zen­trum in ein neu­es Licht. Im Rah­men einer Podi­ums­dis­kus­si­on, orga­ni­siert von der Initia­ti­ve „Jus­tiz­zen­trum­Er­hal­ten / Abbre­chen­Ab­bre­chen“, gin­gen die Podi­ums­gäs­te der Fra­ge nach, ob das Jus­tiz­zen­trum als Ort des Geden­kens an die hier ver­han­del­ten Gewalt­ver­bre­chen erhal­ten blei­ben soll­te, um Raum zu bie­ten für eine gesell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser Geschich­te, die­sen Geschichten.

Auf dem Panel saßen Gise­la Koll­mann, die ihren Enkel Giu­lia­no Koll­mann bei dem rech­ten Anschlag im OEZ ver­lor, Patryc­ja Kowals­ka, eine Unter­stüt­ze­rin der Initia­ti­ve „Mün­chen OEZ Erin­nern“, Fried­rich Bur­schel von der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung & NSU Watch sowie der Jour­na­list Robert Andre­asch, der für die Anti­fa­schis­ti­sche Informations‑, Doku­men­ta­ti­ons- und Archiv­stel­le Mün­chen arbei­tet. Sie alle ver­bin­det das Anlie­gen, dass die Opfer rech­ter Gewalt nicht ver­ges­sen wer­den und dass der Staat end­lich Ver­ant­wor­tung über­nimmt – sowohl für die lücken­lo­se Auf­klä­rung sol­cher Taten als auch für die Aner­ken­nung des rech­ten Ter­rors als sys­te­mi­sches Problem.

Der OEZ-Anschlag und die Kämp­fe der Angehörigen

Im Jahr 2016 ereig­ne­te sich der rechts­ter­ro­ris­ti­scher Anschlag im Mün­che­ner Olym­pia-Ein­kaufs­zen­trum. Neun Men­schen, über­wie­gend mit fami­liä­rer Migra­ti­ons­ge­schich­te, fie­len dem Anschlag zum Opfer, dar­un­ter auch Giu­lia­no Koll­mann, der damals 19-jäh­ri­ge Enkel von Gise­la Koll­mann. Der Täter, mit tief ver­wur­zel­ten ras­sis­ti­schen und völ­kisch-natio­na­len Über­zeu­gun­gen, plan­te die Tat sys­te­ma­tisch und fand dabei Unter­stüt­zung von einem Waf­fen­händ­ler, der ihn mit der Mord­waf­fe sowie „aus­rei­chend“ Muni­ti­on ver­sorg­te. Trotz offen­sicht­li­cher Hin­wei­se auf die rech­te Moti­va­ti­on, ver­har­mos­te man die Hin­ter­grün­de des Anschlags lan­ge. Die Behör­den spra­chen von einem „Amok­lauf“, nicht von rech­tem Terror.

Gise­la Koll­mann berich­tet in der Dis­kus­si­on von den Erfah­run­gen, die sie wäh­rend des Pro­zes­ses gegen den Waf­fen­händ­ler im Straf­jus­tiz­zen­trum in der Nym­phen­bur­ger­stra­ße mach­te. „Ich woll­te nur, dass er mir ein­mal in die Augen sieht, aber er konn­te es nicht“, erzählt sie. Koll­manns Erleb­nis­se im Gerichts­saal sind sym­pto­ma­tisch für die Art und Wei­se, wie staat­li­che Insti­tu­tio­nen mit den Betrof­fe­nen umge­hen: Ohne Empa­thie, ohne wirk­li­ches Ver­ständ­nis für den Schmerz und das Trau­ma, das sol­che Taten hin­ter­las­sen.  Flos­keln wie „Sie müs­sen kei­ne Angst haben, dass er ihre ande­ren Kin­der tötet“ hät­ten die­se Miß­ach­tung sehr deut­lich gemacht, sagt Gise­la Koll­mann. Die Hin­ter­blie­ben wer­den durch den Pro­zess wei­ter trau­ma­ti­siert – dies­mal durch den Staat, der sie hät­te schüt­zen und unter­stüt­zen sollen.

Die­se Erfah­run­gen sind kei­ne Ein­zel­fäl­le. Die Initia­ti­ve „Mün­chen OEZ Erin­nern“, der auch ande­re Ange­hö­ri­ge und Über­le­ben­de des Anschlags ange­hö­ren, kämpft seit Jah­ren dafür, dass der Anschlag als das aner­kannt wird, was er war: ein rechts­ter­ro­ris­ti­scher Angriff. Patryc­ja Kowals­ka, die die Initia­ti­ve unter­stützt, betont, dass die­ser Kampf nicht nur ein per­sön­li­cher ist. Es geht um das poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Bewusst­sein, dass rech­ter Ter­ror ein sys­te­ma­ti­scher Angriff auf das Leben und die Wür­de von Men­schen ist – moti­viert  durch grup­pen­be­zo­ge­nen Hass und getra­gen von rech­ter Ideologie.

Par­al­le­len zum NSU-Prozess

Auch im gigan­ti­schen, 438 Tage dau­ern­den NSU-Ver­fah­ren dort wur­den die Ange­hö­ri­gen der Opfer oft igno­riert und ihre Inter­es­sen aktiv miss­ach­tet. Der NSU, eine neo­na­zis­ti­sche Ter­ror­zel­le, war für die Mor­de an zehn Men­schen, über­wie­gend Migran­ten, ver­ant­wort­lich. Doch ähn­lich wie im OEZ-Fall wur­de auch hier lan­ge an einem Nar­ra­tiv fest­ge­hal­ten, das die Ver­ant­wor­tung des Staa­tes und die Rol­le eines hin­ter dem Kern-Trio ste­hen­den, umfang­rei­chen rech­ten Netz­werks klein­re­de­te. Die jah­re­lan­gen Ermitt­lun­gen und der anschlie­ßen­de Gerichts­pro­zess zeig­ten, wie tief struk­tu­rel­le Igno­ranz und insti­tu­tio­nel­les Ras­sis­mus ver­an­kert sind, wenn es um die Auf­klä­rung und Ver­fol­gung rech­ten Ter­rors geht.

Der NSU-Pro­zess offen­bar­te zudem, dass der NSU kei­nes­wegs iso­liert agier­te. Ein brei­tes Netz­werk von Unter­stüt­zern half der Ter­ror­grup­pe, sich jah­re­lang dem Zugriff der Behör­den zu ent­zie­hen. Beob­ach­ter des Pro­zes­ses beto­nen, dass weit über 100 Per­so­nen in die­ses Netz­werk invol­viert waren, vie­le von ihnen als akti­ve Mit­tä­ter oder Unter­stüt­zer. Trotz die­ser kla­ren Bewei­se wur­de im Pro­zess ver­sucht, die Ver­ant­wor­tung des Staa­tes und der Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den her­un­ter­zu­spie­len, die den NSU über zahl­rei­che Informant*innen in unmit­tel­ba­rer Nähe der Täter*innen und über das Geld für deren Diens­te erst über­haupt mit auf­ge­baut und unter Beob­ach­tung gehabt hät­ten, aber dann eben nicht gestoppt hätten.

Auch im NSU-Pro­zess war der Gerichts­saal geprägt von einer bedrü­cken­den Hier­ar­chie. Die 93 Nebenkläger*innen, die Fami­li­en der Opfer, die im Ver­fah­ren von mehr als 60 Rechtsanwält*innen ver­tre­ten wur­den, saßen im Saal A101 unter der Tri­bü­ne, auf der die Pres­se und die Öffent­lich­keit über ihnen thron­ten. Die­se räum­li­che Anord­nung spie­gel­te die rea­le Mar­gi­na­li­sie­rung der Opfer und ihrer Ange­hö­ri­gen wider, die um Gehör und Aner­ken­nung kämpf­ten, wäh­rend die staat­li­chen Insti­tu­tio­nen ver­such­ten die eige­nen Ver­säum­nis­se zu verdecken.

Die Bedeu­tung der Räu­me des Justizzentrums

Ange­sichts die­ser Geschich­te wird die his­to­ri­sche Bedeu­tung der Räu­me des Jus­tiz­zen­trums beson­ders deut­lich. Die­se Wän­de haben Zeu­gen­be­rich­te von Men­schen gehört, deren Fami­li­en durch rech­ten Ter­ror zer­stört wur­den. Sie haben die Bemü­hun­gen gese­hen, den Staat zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen, und zugleich das Schei­tern staat­li­cher Insti­tu­tio­nen, sich der vol­len Wahr­heit über die­se Ver­bre­chen zu stel­len. Die Pro­zes­se, die hier statt­fan­den, sind Zeug­nis­se eines fort­wäh­ren­den Kamp­fes – nicht nur gegen die Täter, son­dern auch gegen eine Gesell­schaft, die all­zu oft wegschaut.

Das Jus­tiz­zen­trum könn­te, wenn es mit einem Ort des Geden­kens — etwa im A101 — erhal­ten blie­be, all die­se Geschich­ten bewah­ren. Es wäre ein Mahn­mal, das nicht nur an die Opfer erin­ner­te, son­dern auch dar­an, wie insti­tu­tio­nel­les Ver­sa­gen rech­ten Ter­ror ermög­licht und begüns­tigt hat.

Reichsbürger“-Prozesse und die Kon­ti­nui­tät rech­ten Terrors

Nicht nur ver­gan­ge­ne Pro­zes­se sind hier von Bedeu­tung: In den glei­chen Hal­len fin­den heu­te die „Reichsbürger“-Prozesse statt.

Die „Reichs­bür­ger“, eine Bewe­gung, die die Legi­ti­mi­tät der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ablehnt und sich oft durch rech­te, anti­se­mi­ti­sche und ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sche Über­zeu­gun­gen aus­zeich­net, ste­hen der­zeit im Zen­trum zahl­rei­cher Gerichts­ver­fah­ren. Die­se Pro­zes­se, die eben­falls im Jus­tiz­zen­trum geführt wer­den, knüp­fen direkt an die Tra­di­ti­on der Aus­ein­an­der­set­zung mit rech­tem Ter­ror an. Wie schon bei den NSU-Mor­den und dem OEZ-Anschlag zeigt sich auch hier, dass rech­te Ideo­lo­gien nicht iso­liert, son­dern in Netz­wer­ken agie­ren – unter­stützt wer­den die Akteur*innen von Gleich­ge­sinn­ten, teils mit weit­rei­chen­den Ver­bin­dun­gen in gesell­schaft­li­che und staat­li­che Strukturen.

Die­se Kon­ti­nui­tät rech­ter Gewalt und ihre bedroh­li­che Prä­senz in der Gegen­wart ver­deut­li­chen, wie not­wen­dig eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der Geschich­te des Jus­tiz­zen­trums ist. Der Abriss die­ses sym­bol­träch­ti­gen Ortes wäre ein Ver­lust, der weit über das rein Archi­tek­to­ni­sche hinausgeht.

Warum der Mord an Süleyman Taşköprü so lange als Teil der NSU-Serie verschleiert wurde

Zur Erin­ne­rung an den 23. Todes­tag von Süley­man Taşköprü

Süley­man Taş­köprü bat am Mitt­woch, 27. Juni 2001, gegen 10.45 Uhr sei­nen Vater Ali, sich um den Ein­kauf von Waren zu küm­mern. Danach muss er in sei­nem Gemü­se­la­den in der Schüt­zen­stra­ße 39 in Alto­na von sei­nen Mör­dern über­rascht wor­den sein. Sie erschos­sen ihn mit drei Kugeln, abge­ge­ben aus zwei Pis­to­len, einer Čes­ká 83 und einer Bruni. Als sein Vater um unge­fähr 11.15 Uhr wie­der zurück­kehr­te, fand er sei­nen Sohn auf dem Fuß­bo­den des Ver­kaufs­rau­mes lie­gend mit einer blu­ten­den Kopf­ver­let­zung vor. Wenig spä­ter konn­te der Not­arzt nur noch den Tod fest­stel­len. Kurz dar­auf traf die Poli­zei ein und nahm die Ermitt­lun­gen in dem Tötungs­de­likt auf. Die loka­le Pres­se in der Stadt (BILD-Zei­tung, Ham­bur­ger Mor­gen­post, Ham­bur­ger Abend­blatt) berich­te­ten dazu in den fol­gen­den Tagen. Im Ham­bur­ger Abend­blatt (HAB) war über einen „mys­te­riö­sen Mord am hell­lich­ten Tag“ sowie einer „Hin­rich­tung im Gemü­se­la­den“ zu lesen. Aus der Sicht der poli­zei­li­chen Ermittler*innen lag das Motiv „noch völ­lig im Dun­keln“. Dem Abend­blatt war es aber hier wich­tig, dahin­ge­hend über das Motiv zu spe­ku­lie­ren, dass für die Tat „Schutz­geld­erpres­sung“ in Fra­ge kom­me, wo „in vie­len Fäl­len (…) die ver­bo­te­ne kur­di­sche PKK dahin­ter“ ste­cke. (HAB v. 28.6.2001)

Vater Taşköprü: Deutsche Täter

Noch am Tag des Mor­des ver­nahm die Poli­zei Taş­köprüs Vater das ers­te Mal. Er habe bei sei­ner Rück­kehr vor dem Geschäft zwei Män­ner gese­hen, gab er zu Pro­to­koll. Bei­de hät­ten gleich aus­ge­se­hen und sei­en 25 bis 30 Jah­re alt gewe­sen. Auf die Fra­ge: „Deut­sche oder Tür­ken?“, ant­wor­te­te er: Deut­sche. Ein Streit, in den sein Sohn habe ver­wi­ckelt sein kön­nen, sei ihm nicht bekannt gewe­sen. Zwei Tage spä­ter gab es eine zwei­te Ver­neh­mung. Er bekräf­tig­te erneut, bei sei­ner Rück­kehr zum Laden zwei männ­li­che Per­so­nen im Bereich vor dem Laden gese­hen zu haben, die sich in süd­li­che Rich­tung ent­fernt hät­ten. Er beschrieb sie als etwa 1,78 Meter groß und jung, höchs­tens 25 Jah­re alt. Ob „deutsch“ oder „aus­län­disch“, wuss­te er nicht genau zu sagen, aber er schloss aus, dass sie „süd­län­disch“ gewe­sen sei­en. Ihre Haar­far­be sei hell gewe­sen. Es gab jedoch im Zusam­men­hang mit der Tat­zeit noch wei­te­re Zeu­gin­nen. Eine gab dabei an, sie habe in den ver­gan­ge­nen etwa 14 Tagen mehr­fach einen BMW beob­ach­tet, des­sen Fah­rer mit Süley­man Taş­köprü gespro­chen habe, weder freund­lich noch aggres­siv. Eine genaue­re Beschrei­bung konn­te sie nicht geben, es habe sich jedoch um einen „Süd­län­der“ gehan­delt, gab die­se Zeu­gin zu Pro­to­koll. Eine wei­te­re Zeu­gin sag­te aus, sie habe in ihrer Woh­nung über dem Geschäft einen lau­ten Streit zwi­schen zwei Män­nern wahr­ge­nom­men. Auf die Fra­ge, ob auf Deutsch oder „aus­län­disch“ gebrüllt wor­den sei, woll­te sie nicht aus­schlie­ßen, dass auch „tür­ki­sche Wor­te“ gefal­len sei­en. Eine drit­te Zeu­gin berich­te­te von einem weni­ge Tage zurück­lie­gen­den Streit, den sie mit­be­kom­men habe: Drei „süd­län­disch“ aus­se­hen­de Män­ner hät­ten sich im Laden auf­ge­hal­ten, einer von ihnen hät­te dem spä­te­ren Opfer „auf­ge­regt und wütend“ damit gedroht, wiederzukommen.

Zunächst konn­te die Poli­zei natür­lich noch nicht wis­sen, dass es sich um den drit­ten Mord als Teil einer Serie han­del­te. Am 9. Sep­tem­ber 2000 war der tür­ki­sche Blu­men­händ­ler Enver Şimşek in sei­nem Trans­port­wa­gen an einer Aus­fall­stra­ße bei Nürn­berg eben­falls mit zwei Tat­waf­fen erschos­sen wor­den. Elf Mona­te spä­ter, am 13. Juni 2001, also gera­de ein­mal zwei Wochen vor der Ermor­dung Taş­köprüs war — eben­falls in Nürn­berg — der tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge Abdur­ra­him Özüd­oğru in sei­ner Ände­rungs­schnei­de­rei mit einer Pis­to­le Mar­ke Čes­ká 83 ermor­det wor­den. Das ergab die unmit­tel­bar nach den bei­den Taten vor­ge­nom­me­nen kri­mi­nal­tech­ni­sche Unter­su­chung des Bun­des­kri­mi­nal­am­tes (BKA). Mit der Čes­ká 83 war die­sel­be Waf­fe als Tat­waf­fe ver­wen­det wor­den. Vom Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken (Nürn­berg) war das schon fünf Tage nach der Tat in einer Pres­se­mit­tei­lung kom­mu­ni­ziert wor­den.[1]

Über Ham­burg hinaus

Der Wis­sens­stand der Ham­bur­ger Ermittler*innen zu der Mord­sa­che Taş­köprü soll­te sich aber schnell und gra­vie­rend ändern. Als sie noch am Tat­tag zu dem Mord an Taş­köprü ein Fern­schrei­ben an bun­des­wei­te Dienst­stel­len absetz­ten, mel­de­ten sich schon kurz dar­auf die Nürn­ber­ger Kolleg*innen, die in der Mord­sa­che Özüd­oğru ermit­tel­ten. Offen­bar kam ihnen der Modus Ope­ran­di der Mord­tat bekannt vor. Jah­re spä­ter, Ende Juni 2005 nach dem sieb­ten Mord in der Serie, rap­por­tier­te das Ham­bur­ger Abend­blatt die Aus­sa­ge eines unge­nann­ten Ham­bur­ger Ermitt­lers aus der Mord­kom­mis­si­on: Sie sei­en noch am spä­ten Abend des 27. Juni 2001 von Nürn­ber­ger Kolleg*innen ange­ru­fen wor­den. Dadurch sei ihnen klar gewor­den, „dass der Fall über Ham­burg hin­aus­geht“. (HAB v. 23.6.2005) Einen Tag spä­ter infor­mier­ten die Nürn­ber­ger Polizist*innen ihre Ham­bur­ger Kolleg*innen per Fax dar­über, dass „die glei­che Tat­waf­fe“ bei der Tötung von zwei tür­ki­schen Staats­bür­gern ver­wen­det wor­den sei. Das war eine außer­or­dent­lich wich­ti­ge Infor­ma­ti­on. Die Ermittler*innen sowohl in Ham­burg wie auch in Nürn­berg hät­ten also allen Grund dazu gehabt – umgangs­sprach­lich for­mu­liert – Alarm zu schla­gen: Es war doch defi­ni­tiv klar, dass man mit einer Mord­se­rie in zwei gro­ßen Städ­ten in der Bun­des­re­pu­blik kon­fron­tiert war. Und was pas­sier­te nun? Rich­tig: Zwecks genau­er Prü­fung der Tat­waf­fe wand­ten sich die Ham­bur­ger Ermittler*innen an das BKA und war­te­ten. Wie lan­ge?  Es soll­te lan­ge zwei Mona­te, sprich bis zum 31. August 2001, dau­ern, bis das BKA die Iden­ti­tät der Tat­waf­fen im Ham­bur­ger und den bei­den Mor­den an Şimşek  und Özüd­oğru fest­stell­te. Gleich dazu die nächs­te Fra­ge: War­um hat das BKA die eigent­lich seit Ende Juni 2001 anste­hen­de kri­mi­nal­tech­ni­sche Unter­su­chung erst Ende August abge­schlos­sen?  In Mün­chen hat­te sich, kei­ne 72 Stun­den zuvor, der nächs­te Mord, der vier­te in der Serie, ereig­net: Am 29. August 2001 zwi­schen 10.35 und 10.50 Uhr erschos­sen die Mör­der im „Frisch­markt“ in der Bad-Schach­e­ner-Stra­ße 14 in Mün­chen den hin­ter dem Kas­sen­t­re­sen ste­hen­den 38-jäh­ri­gen tür­ki­schen Gemü­se­händ­ler Habil Kılıç. Das BKA ermit­tel­te  hier bin­nen kür­zes­ter Frist, schon am 4. Sep­tem­ber, dass es sich um die­sel­be Čes­ká 83-Tat­waf­fe wie bei den drei vor­an­ge­gan­gen Mor­den gehan­delt hat­te. Denk­bar wäre auch, dass sich nach dem Mord an Kilic sowohl das BKA wie auch die Ham­bur­ger Ermittler*innen mit einem Mal an die noch offe­ne Anfra­ge bezüg­lich der Tat­waf­fe von Ham­burg von Ende Juni 2001 erin­nert hatten.

Deut­lich zu lan­ge Frist

Ende August 2013 wur­de der Abschluss­be­richt des ers­ten Par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­aus­schus­ses des  Bun­des­ta­ges zum NSU-Kom­plex ver­öf­fent­licht. In ihren gemein­sa­men Bewer­tun­gen erklär­ten sich alle Frak­tio­nen mit den in Bezug auf die Mord­sa­che Taş­köprü unge­wöhn­lich schlep­pend durch­ge­führ­ten Ermitt­lun­gen nicht zufrie­den. Eine „deut­lich zu lan­ge Frist“ ist da ver­merkt. Ja, so darf man es wohl for­mu­lie­ren, um dann noch  nach­zu­schie­ben, dass lei­der „nicht geklärt wer­den konn­te, wer für die Ver­zö­ge­rung die Ver­ant­wor­tung trug“, zumal „nach dem nächs­ten Mord in Mün­chen (…) die Fest­stel­lung der Seri­en­zu­ge­hö­rig­keit weni­ger als eine Woche“ gedau­ert habe.[2]

Doch es kommt noch bes­ser: Das Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken ver­öf­fent­lich­te aus direk­tem Anlass der Ermor­dung von Kılıç am 5. Sep­tem­ber 2001 eine Pres­se­mel­dung. In Bezug auf den „Mord an tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in Nürn­berg“ wird nun in der Über­schrift auf einen „Zusam­men­hang mit Mord­fall in Mün­chen“ hin­ge­wie­sen: „Auf Grund des Schuss­waf­fen­ver­gleichs“ bei den Mor­den an Şimşek (9.9.200) und Özüd­oğru (13.6.2001) sei „eine Iden­ti­tät der Tat­waf­fen fest­ge­stellt“ wor­den. Nun sei auch „der tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge Habil K. in sei­nem Obst- und Gemü­se­la­den erschos­sen auf­ge­fun­den“ wor­den. In der Pres­se­mit­tei­lung wird von der Poli­zei nicht von einer Mord­se­rie gespro­chen, aber wei­ter wird aus­ge­führt: „Wie jetzt fest­steht, ist auch im Mün­che­ner Fall die Tat­waf­fe iden­tisch. Alle Fäl­le sind bis­her noch nicht geklärt.“[3] Alle Fäl­le? Der Mord an Süley­man Taş­köprü wird doch expli­zit nicht erwähnt. War­um wird er von der Poli­zei auch zu die­sem Zeit­punkt offen­bar nicht zu „allen Fäl­len“ gezählt? Und das obwohl ein paar Tage zuvor vom BKA die Iden­ti­tät der Tat­waf­fe bestä­tigt wor­den war.

Türkische Mentalität“

Nächs­te Fra­ge: Wie lan­ge dau­er­te es denn nun bis die Ermittler*innen dazu bereit waren, die Öffent­lich­keit von dem Mord an Taş­köprü als Teil der­sel­ben Mord­se­rie zu unter­rich­ten? Kur­ze Ant­wort: Zwei wei­te­re Mona­te. Erst am 9. Novem­ber 2001 setz­te das Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken die Öffent­lich­keit via Pres­se­mit­tei­lung nun auch über einen, wie sie for­mu­lier­te, „Zusam­men­hang jetzt auch mit Mord­fall in Ham­burg“ in Kennt­nis. Vier Mona­te waren nun ver­gan­gen nach­dem die Nürn­ber­ger Ermittler*innen die Ham­bur­ger Polizeikolleg*innen im Mord­fall Taş­köprü auf den unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hang mit einer Mord­se­rie auf­merk­sam gemacht hat­ten. Immer­hin fin­det sich in die­ser Pres­se­mit­tei­lung erst­mals der Begriff „Mord­se­rie“. Hier hielt es die Poli­zei für ange­zeigt, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass sich „nach Zeu­gen­an­ga­ben (…) zwei Tage vor dem Ver­bre­chen (an Taş­köprü) drei Tür­ken in dem Laden auf­ge­hal­ten haben und sich mit dem spä­te­ren Mord­op­fer in sehr aggres­si­ver Wei­se gestrit­ten haben.“[4]

Die Poli­zei fer­tig­te nach die­sen Anga­ben ein Phan­tom­bild an. Die zu der Pres­se­mit­tei­lung hin­zu­ge­füg­te Bild­ver­öf­fent­li­chung zeig­te zwei „süd­län­disch“ aus­se­hen­de Ver­däch­ti­ge. Den Betrachter*innen wird so nahe­ge­legt, es habe sich  um einen Streit „unter den Tür­ken“ gehan­delt.. Igno­riert wur­den die gegen­läu­fi­gen Anga­ben in den Tat­be­ob­ach­tun­gen des Vaters von Süley­man Taş­köprü, der ja aus­ge­schlos­sen hat­te, dass die bei­den Täter „süd­län­disch“ aus­ge­se­hen hät­ten, auch weil von ihm deren Haar­far­be als hell beschrie­ben wor­den war. Denk­bar hier, dass die Polizeibeamt*innen die­ser Aus­sa­ge aus einem bestimm­ten Grund kei­ne beson­de­re Auf­merk­sam­keit schen­ken woll­ten: So for­mu­lier­te die­se Pres­se­mit­tei­lung eine in der Sache zwar fal­sche, gleich­wohl für die wei­te­ren poli­zei­li­chen Ermitt­lun­gen in den nächs­ten Jah­ren wirk­sa­me ras­sis­ti­sche Erzäh­lung: „Die Ermitt­lun­gen gestal­te­ten sich auf­grund der tür­ki­schen Men­ta­li­tät und der damit ver­bun­de­nen Zurück­hal­tung sowie der Sprach­bar­rie­re von Anfang an sehr schwierig.“

Kei­ne Soko für Hamburg

Auch heu­te noch tür­men sich die wei­ter offe­nen Fra­gen zu den Ermitt­lun­gen der Ham­bur­ger Poli­zei im Mord­fall Taş­köprü auf. Wie mag denn gera­de in den ers­ten Mona­ten nach dem 27. Juni 2001 die Zusam­men­ar­beit zwi­schen den Ham­bur­ger und den Nürn­ber­ger Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den aus­ge­se­hen haben, die der Öffent­lich­keit in der Pres­se­mit­tei­lung vom 9.11.2001 als „eng“ vor­ge­stellt wor­den war?  Wie eng konn­te sie gewe­sen sein, wenn schon im Nürn­ber­ger Fern­schrei­ben vom 28. Juni 2001 dar­auf hin­ge­wie­sen wur­de, dass zwei Tötungs­de­lik­te an tür­ki­schen Staats­bür­gern in Nürn­berg mit der glei­chen Tat­waf­fe ver­übt wor­den sei­en? Und war­um wur­de in Ham­burg nicht wie in Nürn­berg Mit­te Sep­tem­ber 2001 eine Soko gebil­det, als all­mäh­lich klar wur­de, dass es sich um eine Mord­se­rie han­del­te? Fra­gen über Fragen.

Die Ham­bur­ger Sicher­heits­be­hör­den haben den par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­haus­schüs­sen zum NSU bis­lang allein Kri­mi­nal­ober­rat Felix Schwarz als Zeu­gen zur Ver­fü­gung gestellt. Und der trat sei­nen Dienst in der dies­be­züg­li­chen Mord­kom­mis­si­on erst ab dem 1. Febru­ar des Jah­res 2006 an. Inso­fern konn­te er bei sei­nen Befra­gun­gen im Ber­li­ner und Meck­len­bur­ger Unter­su­chungs­aus­schuss für die Zeit der poli­zei­li­chen Ermitt­lun­gen in Ham­burg in der Mord­sa­che Taş­köprü in den Jah­ren 2001 ‑2003 vie­les allen­falls vom Hören­sa­gen kolportieren.

Grüne Schritte

Mit­te April 2023 wur­de der Antrag der Par­tei Die Lin­ke in der Ham­bur­ger Bür­ger­schaft auf die Ein­set­zung einen NSU-Unter­su­chungs­aus­schus­ses abge­lehnt. Bei Annah­me hät­te die­ses Gre­mi­um in weni­ger als sechs Mona­ten sei­ne Arbeit auf­neh­men kön­nen. Von der Frak­ti­on der Grü­nen war der Antrag der Lin­ken trotz eines gegen­läu­fi­gen Par­tei­tags­be­schlus­ses nicht unter­stützt wor­den. Gemein­sam mit der SPD nahm sie in der Bür­ger­schaft den Antrag an, nun­mehr die „Auf­ar­bei­tung des NSU-Kom­ple­xes im Rah­men einer wis­sen­schaft­li­chen Stu­die“ durch­zu­füh­ren.[5] Das sei doch „ein gro­ßer Schritt in Rich­tung umfas­sen­de­rer Auf­klä­rung“, gaben sich die Grü­nen in einer Pres­se­mit­tei­lung damals über­zeugt.  Mehr noch: Die Grü­nen bezeich­ne­ten es als ganz „ent­schei­dend (…), dass die Auf­klä­rungs­ar­beit nun end­lich und inten­siv vor­an­ge­trie­ben wird.“ Eben dies „soll­te der Fokus der Debat­te sein und blei­ben.“[6] Wie wur­de nun die Auf­klä­rungs­ar­beit „inten­siv vor­an­ge­trie­ben?“ Die Fort­schrit­te sind schlep­pend: Nach jüngs­ter Aus­kunft der Pres­se­stel­le der Ham­bur­ger Bür­ger­schaft gibt es inzwi­schen  bei der Prä­si­den­tin der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft einen Bei­rat, der zunächst nur damit beauf­tragt ist, ein Ver­ga­be­ver­fah­ren bis zum Ende das Jah­res 2024 abzu­schlie­ßen, „so dass mit der wis­sen­schaft­li­chen Auf­ar­bei­tung zum Jah­res­be­ginn 2025 begon­nen wer­den kann. Ein Büro für den Bei­rat ist nicht ein­ge­rich­tet, er tagt in den Sit­zungs­räu­men der Bür­ger­schaft.“ (Mail an den Ver­fas­ser vom 18.6.2024)

Somit darf zunächst ein­mal tro­cken fest­ge­stellt wer­den: Der von den Grü­nen Mit­te April 2023 vor mehr als einem Jahr ver­spro­che­ne  „gro­ße Schritt“ in Sachen „umfas­sen­der“ NSU-Auf­klä­rung in Ham­burg ist bis­lang unter­blie­ben. Für die seit April 2023 als Alter­na­ti­ve zu einem Unter­su­chungs­aus­schuss ange­streb­te „wis­sen­schaft­li­che Stu­die“ exis­tiert auch am 23. Todes­tag von Süley­man Taş­köprü noch nicht ein­mal eine Ausschreibung.

 

Fuß­no­ten:

[1] Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken POL-MFR: (1123) Mord­fall Özüd­oğru — hier: Zusam­men­hang mit Mord­fall Şimşek, PM vom 18.6.2001, URL: https://​www​.pres​se​por​tal​.de/​b​l​a​u​l​i​c​h​t​/​p​m​/​6​0​1​3​/​2​5​7​963

[2] BT-Drs. 1714600 v. 22.8.2013, S. 835

[3] Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken (Nürn­berg) POL-MFR: (1705) Mord an tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in Nürn­berg — hier: Zusam­men­hang mit Mord­fall in Mün­chen, PM vom 5.9.2001, URL: https://​www​.pres​se​por​tal​.de/​b​l​a​u​l​i​c​h​t​/​p​m​/​6​0​1​3​/​2​7​9​915

[4] Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken POL-MFR: 2073. Mor­de an tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in Nürn­berg und Mün­chen hier: Aktu­el­ler Ermitt­lungs­stand: 9.11.2001 mit Bild­ver­öf­fent­li­chun­gen Zusam­men­hang jetzt auch mit Mord­fall in Ham­burg, URL: https://​www​.pres​se​por​tal​.de/​b​l​a​u​l​i​c​h​t​/​p​m​/​6​0​1​3​/​2​9​8​764

[5] FHHH Drs. 2211561 v. 12.4.2023

[6] Grü­ne Ham­burg, NSU-Auf­klä­rung: Umfas­sen­de Stu­die als wich­ti­ger Schritt Rich­tung umfas­sen­de­rer Auf­klä­rung, PM vom 13.4.2023, URL: https://​www​.grue​ne​-ham​burg​.de/​n​su/

Zum Wei­ter­le­sen

Frak­ti­on DIE LINKE in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft, Der NSU-Kom­plex in Ham­burg / Das Recht auf Auf­klä­rung ver­jährt nicht, Ham­burg 2023