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Reichsbürger vor LG München: „Grüß Gott an die Kinder Satans“
Von Tabitha Potthoff
Der Prozess gegen den Reichsbürger Johannes M., der unter anderem wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung, Volksverhetzung, Nachstellung sowie Anstiftung zu Straftaten angeklagt war, endete vor dem Staatsschutzsenat des Landgerichts München mit einer Verurteilung zu 2 Jahren und 10 Monaten Freiheitsentzug.
Bereits beim Betreten des Saals wird M. von seinen etwa 20 Anhänger*innen empfangen, die ihn mit freudigen Gesten und warmen Worten begrüßen. Der Angeklagte, der in seiner Erscheinung an einen charismatischen Prediger erinnert, wendet sich durchweg seiner Fangemeinde zu. Mit einer Darstellung von Jesus in den Händen verteilt er Küsse und Grüße in die Menge – das Gericht ignoriert er dabei demonstrativ und wendet ihm den Rücken zu. Im Plädoyer der Vertreterin der Generalstaatsanwaltschaft München, Staatsanwältin Stefanie Ruf, wird die volle Tragweite von M. Taten und deren Konsequenzen unmissverständlich dargestellt.
Die BRD-Firmen
Johannes M. hat sich in den letzten Jahren als Kopf einer über Telegram organisierten Gruppe etabliert. Auf dem unterdessen gesperrten Account verbreitete er Verschwörungsfantasien, die zu einer Melange aus antisemitischen Ideologien, staatsfeindlichen Positionen wie der aus den USA stammenden QAnon-Erzählung und Pandemieleugnungen mit Christlichen Versatzstücken verrührt werden. Zentral ist M.s Überzeugung, dass ein „zionistischer Plan“ auf die Vernichtung des „deutschen Volkes“ abziele und Deutschland seit über einem Jahrhundert im Krieg lebe. Er bestreitet konsequent die Existenz der BRD und sieht damit Behörden und staatliche Institutionen als illegal an und beschuldigt sie, in pädokriminelle Machenschaften verwickelt zu sein. Auch er selbst sieht sich als Opfer und wirft dem Gericht Nötigung und Verschleppung durch Schergen der in Delaware (USA) registrierten aus 47.000 Privatfirmen bestehenden BRD vor.
Institutionen als Hassobjekte
M.s Attacken richteten sich gegen eine Vielzahl von Institutionen. Besonders betroffen waren Arztpraxen und Schulen, die nach seiner Ansicht über Impfungen und Corona-Schutzmaßnahmen das Wohl der Kinder gefährdeten. Aber auch Jugendämter, Polizeibeamt*innen und Mitarbeiter*innen des Gerichts, die er als kriminell und pädophil beschimpft, werden nicht verschont. Der Ablauf der von M. losgetretenen Aktionen war stets ähnlich: Zunächst rief er persönlich in den betreffenden Institutionen an, hielt einen wirren Monolog über die angeblich dort stattfindenden kriminellen Machenschaften und stieß teils direkte Gewaltandrohungen und Tötungsvorhersagen aus. Er geht davon aus, dass in naher Zeit „das Militär“ unter Führung des Commanders in Chief, Donald J. Trump, über seine Widersacher „richten“ und diese exekutieren werde — das teilte er den zum Teil tief geschockten Betroffenen am Telefon auch so mit.
Doch bei einem einzigen Anruf bleibt es nicht. Müller forderte anschließend stets seine Anhänger*innen auf Telegram auf, ebenfalls bei den betreffenden Institutionen anzurufen, um dort tätige Personen systematisch zu terrorisieren. Kontaktdaten und Fotos der Opfer verbreitete er vielfach in der Chatgruppe und die Aufrufe zur Gewalt häuften sich – wobei sich Müller selbst widersprüchlich stets als Pazifist bezeichnet hatte.
„Die Herren in Schwarz“
Die langanhaltende Einschüchterung durch Müllers Gruppe hinterließ bei den Betroffenen tiefe Spuren. Die Staatsanwältin berichtet von traumatisierten Mitarbeitenden in Jugendämtern, die Polizeischutz benötigen und kurzzeitig schließen mußten. Beschäftigte trauten sich nicht mehr alleine nach Hause, Polizist*innen überlegten, ob sie ihre Dienstwaffen mitnehmen sollten, Ärzt*innen sahen sich gezwungen, ihre Praxen zu schließen und sich krankschreiben zu lassen. Die Angst und der psychische Druck sind allgegenwärtig – viele Opfer leiden bis heute unter Schlaflosigkeit und schweren Belastungsreaktionen. Nicht alle schafften es, vor Gericht auszusagen.
Nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft, lässt der Angeklagte keine Gelegenheit aus, das Gericht zu verunglimpfen. Die Staatsanwältin wird von ihm in herabwürdigender Weise als „blonde Tusse“ bezeichnet, während er das gesamte Gericht als „pädokriminell“ und „illegitim“ beschimpft.
In der anschließenden kurzen Pause sammeln sich M.s Anhänger, um untereinander kollektiv ihr Unverständnis gegenüber dem Gericht kundzutun. Die tiefe Ablehnung gegenüber der Institution Gericht und die Glorifizierung des Angeklagten werden in dieser Gruppe deutlich. Als der Prozess fortgesetzt wird, wendet sich das Geschehen der Verteidigung M.s zu.
Doch bevor sein Verteidiger überhaupt zu sprechen beginnt, wird dieser von M. selbst unterbrochen. In einem bizarren Akt der Selbstinszenierung beschuldigt M. seinen Anwalt, Teil krimineller Machenschaften zu sein, und erklärt offen, dass er sich von den beiden Verteidigern unter keinen Umständen vertreten lassen wolle. Er bezeichnet die Mitglieder des Gerichts lediglich als „Herren in Schwarz“ und verweigert jegliche Anerkennung der juristischen Autorität. Stattdessen interagiert er mit Gesten mit seinen Anhänger*innen oder versinkt in Gebeten.
Anwalt schweigt zur Verteidigung
Trotz Müllers aufgebrachter Intervention versucht sein Anwalt, die Verteidigung in mildernder Absicht fortzusetzen, beschränkt sich jedoch auf einige Worte, die sich vor allem auf die juristische Frage der Bildung einer kriminellen Vereinigung konzentrieren, deren Bildung der Jurist nicht zu erkennen vermochte. Jede weitere inhaltliche Verteidigung unterbleibt unter diesen Umständen jedoch.
Erlösungsfantasien
Im weiteren Verlauf fordert der Vorsitzende Richter M. zu seinem letzten Wort vor der Urteilsverkündung auf. Er nutzt diese Gelegenheit, um ein weiteres Mal seine umfassende Verschwörungsideologie in epischer Breite darzulegen. Er spricht davon, dass nur ein Drittel der Menschheit, diejenigen, die „auf dem richtigen Weg“ seien, gerettet werden könnten, während die übrigen zwei Drittel, darunter auch der Senat, dem Gericht Gottes anheimfallen würden. Er wendet sich provokativ an die Prozessbeteiligten: „Grüß Gott an die Kinder Satans“.
M.s Rede mündet schließlich in einem Schwall bizarrer Verschwörungserzählungen, die verschiedene historische und aktuelle Themen und Persönlichkeiten miteinander verweben. Der „Tag des Herrn“, so prophezeit er, stünde unmittelbar bevor, eine Art Endzeitmoment, der das Schicksal der Menschheit besiegeln werde. Dabei verknüpft er aktuelle politische Akteure wie Donald Trump mit fantastischen Narrativen über elektromagnetische Strahlen und geheime Knöpfe. Auch Annalena Baerbock taucht in seinen Theorien auf– angeblich maskiert mit einer Silikonhaut. Während dieser verstörenden Ausführungen hält M. durchgehend eine Bibel in der Hand, aus der er stellenweise Passagen zitiert, um seine wirren Theorien mit religiöser Beglaubigung zu untermauern. M.s Rede endet, wie sie begonnen hat: mit einem Mix aus religiösem Pathos, Bedrohungsszenarien und wilden Verschwörungsgeschichten, die das Bild eines radikalisierten und unberechenbaren Individuums zeichnen.
Das Urteil
Als tags darauf das Urteil gegen M. verkündet werden soll, richtet er einen wissenden Blick in die Menge und sagt zu seinen Anhängerinnen: „Man müsse nur Gott vertrauen.“ Noch während der Richter das Urteil verliest, unterbricht Müller ihn und erklärt, der Richter besiegele gerade „sein eigenes Todesurteil“.
M. wird schließlich zu 2 Jahren und 10 Monaten Haft verurteilt — 14 Monate weniger als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Daraufhin beginnt die verzückte Menge einen Choral für und mit ihrem Helden anzustimmen. Alle Zuschauer*innen werden des Saales verwiesen. Kein Publikum – keine Bühne mehr — nun ging der Prozess, den Müller bislang immer wieder in die Länge gezogen hatte, nun zügig zu Ende.
Es bleibt unklar, wie und ob sich Müllers Anhänger*innen in seiner Abwesenheit weiter organisieren werden. Die Frage, ob die Gruppe ohne ihren Anführer weiterbesteht und möglicherweise auch weiter radikalisiert, bleibt offen.
Die Offenbarung des Johannes M. – weiterer Reichsbürgerprozess vor dem Landgericht München
Dem Reichsbürger Johannes M. werden unter anderem die Bildung einer kriminellen Vereinigung, Volksverhetzung, Beleidigung und Bedrohung vorgeworfen.
„Pädokriminelle Machenschaften“
Konkret heißt das, dass er Behörden, darunter Jugendämter, Polizei, Gerichte, und Ärzt*innen aufs übelste beschimpfte und sie durch Anrufe selbst terrorisierte oder von seinen Anhänger*innen — die er auf Telegram gewinnen konnte — terrorisieren ließ. Er bedrohte sie mit dem Tod und stellte ganz in Reichsbürger-Manier ihre Legitimation in Frage. Dabei verkündet er, die Bedrohten würden bald von US-amerikanischen Militärs auf Grundlage eines Dekrets von Donald Trump abgeurteilt und hingerichtet.
Seine Ideologie fußt dabei auf kruden Verschwörungsideologien, die stark antisemitisch durchsetzt sind. Er spricht von „Zionisten“, die die Welt beherrschten, leugnet die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und wittert in jeder Behörde „pädokriminelle Machenschaften“. Zudem ist er Anhänger der QAnon-Verschwörungsidee, die besagt, dass „Eliten“ Kinder in unterirdische Tunnelsysteme entführten und missbrauchten, um ihr Blut für Verjüngungssera zu nutzen.
Maskenzwang und Sorgerecht
Das könnte auch der Grund sein, weshalb er sich für zwei seiner Anhängerinnen eingesetzt hat. Als Jugendämter bei den beiden Müttern bei Frankfurt und in Weiden Kontrollen durchführten, weil sie ihre Kinder während der Pandemie wegen des Maskenzwangs nicht in die Schule schickten. Sie fürchteten um ihr Sorgerecht. Daraufhin kontaktierten sie Johannes M. Dieser erteilte den beiden Müttern telefonisch klare Anweisungen, was zu tun sei, und begann mit seinen „Terror-Telefonaten“ bei zuständigen Ämtern und der Polizei.
Er scheint außerdem ein ziemlich fanatischer Christ zu sein. Jedenfalls hält er auch im Gerichtssaal ausgedruckte Jesus- und andere Heiligenbilder in den Händen, betet mit ihnen und küsst sie sogar auf theatralische Weise während der Beweisaufnahme. Dabei kehrt er dem Gericht fast durchgehend den Rücken zu und hält stattdessen zwinkernd Augenkontakt mit seinen mehr als zwanzig Anhänger*innen, die regelmäßig im Zuschauer*innenraum sitzen.
Mit dem Rücken zum Gericht
Diese, sowie alle weiteren Zuschauer*innen und Journalist*innen müssen zunächst eine doppelte Durchsuchung über sich ergehen lassen, bevor sie in den in brutalistischem Stil gebauten Sitzungssaal eingelassen werden, der wie aus der Zeit gefallen wirkt.
Auf Beobachter*innen wirkt Johannes M. selbstsicher. Er scherzt mit dem Publikum, unter ihnen auffällig viele Frauen. Sie sprechen ihm Mut zu, „bald habe er es geschafft“. Auch sie beten für ihn und rufen ihm Segenswünsche zu. Während der Verhandlung sucht er immer wieder den Blickkontakt und die Bestätigung seiner „Fans“. Er steht die gesamte Zeit mit dem Rücken zu den Richter*innen, setzt sich nie hin, bewegt sich fahrig und grinst in sich hinein.
Zu seinen beiden Pflichtverteidigern sucht er ebenfalls keinen Kontakt. Er bezeichnete sie sogar als „vermutlich pädokriminell“, lehnt ihre Unterstützung kategorisch als „illegal“ ab. Stattdessen fällt der Angeklagte ständig sämtlichen Prozessbeteiligten ins Wort und brüllt die immer gleichen Phrasen. Weil er dabei immer wieder den Senat, die Staatsanwältinnen und anwesende Polizei heftig beleidigt, hagelt es regelmäßig Ordnungsgelder bzw. Hafttage. Das Gericht inklusive des erfahrenen Vorsitzenden Richters wirkt dabei bisweilen etwas hilflos. Der Vorsitzende versucht die Vernehmungen trotz massiver Störungen so gut es geht sicher zu stellen. Vielleicht setzt M. beim Ordnungsgeld auf die Unterstützung seiner Fans – seine populäre Telegram-Gruppe hatte zwischenzeitlich über 50.000 Follower*innen und spendete reichlich. So aberwitzig und absurd seine Thesen auch sein mögen, die Zahl seiner Anhänger*innen zeigt, dass er und seine Ideologie durchaus Resonanz finden. Seine „Jünger*innen“ jedenfalls wirken wie eine eingespielte, vielleicht sogar befreundete Gruppe. Indem sie sich voll und ganz auf sein abstruses Denken und seine „Fangemeinde“, wie sie auch der Vorsitzende nennt, eingelassen haben, könnten sie sich möglicherweise sozial isoliert haben und immer weiter in den Bann des Gurus geraten sein, so jedenfalls wirken sie, ihre Weltsicht ist auf M. fokussiert und hermetisch gegen Einwände — zum Beispiel, dass seine Prophezeiungen noch nie eingetreten sind — abgeschirmt. „Ja, ich glaube das schon alles, was der Johannes sagt“, äußert dann auch eine von ihnen auf kritische Nachfragen.
Pandemie als Kipppunkt
Während der Covid-19-Pandemie rutschten so ganze Bevölkerungsgruppen in Verschwörungsglauben und damit auch oft in rechte Ideologien ab. Johannes M.s Drohungen gegenüber einer Kinderärzt*innenpraxis, die Corona-Impfungen anbot, sind da nur die Spitze des Eisbergs.
Mit den Anhänger*innen von Johannes M. kommt man schnell ins Gespräch: In einer Sitzungspause – die Kammer beschließt gerade ein weiteres Ordnungsgeld gegen den querulantischen Angeklagten– erzählt eine von ihnen, wie sie auf den Kanal des Angeklagten stieß: Zunächst sei sie darauf aufmerksam geworden, wie Bill Gates seine Mitarbeiter*innen behandle und hätte dann seine Verwicklung in die WHO und Vorhaben, Impfstoffe zu verteilen, kritisiert. Als Trump der WHO Teile der Unterstützung entzog, begann sie Vertrauen in dessen Politik zu fassen und sah sich Videos seiner Reden an. Der ihrer Meinung nach abschließende Schritt war es dann, ebenfalls Videos von Reichsbürger*innen zu konsumieren, deren Inhalte sie dann „schlüssig“ fand.
Kein klinischer Wahn
Eine forensisch-psychiatrische Sachverständige sagte vor Gericht aus, dass Johannes M. eventuell von Wahnvorstellungen betroffen sei, sie ihn aber zur abschließenden Beurteilung dessen nicht ausreichend kennengelernt habe. In zwei Einzelgesprächen, sprach der offenbar mehrmals davon, von Gott auserwählt zu sein, tatsächlich die biblische „Offenbarung des Johannes“ zu erfüllen. Diese Behauptung stellte Johannes M. vor Gericht heftig in Abrede: Er beleidigte die Sachverständige und alle weiteren Beteiligten, sodass der Sitzungstag deutlich in die Länge gezogen wurde und seine Ordnungsgelder weiter in die Höhe schossen. Vor allem ein weiterer Sachverständiger, sowie der vom Gericht bestellte psychiatrischer Gutachter betonten aber, dass die Grenze zwischen Ideologie und Wahn meist fließend verlaufe. Weil er seine Thesen immer mit realen Bezugspunkten verknüpfe, gäbe es keine Anhaltspunkte für einen ausgesprochenen klinischen Wahn. Diese Einschätzungen machen eine Einstufung des Angeklagten als schuldunfähig durch das Gericht sehr unrealistisch.
In den zurückliegenden Prozesstagen vor der Sommerpause werden M.s Fans immer unruhiger und aufmüpfiger, werden vom Vorsitzenden ermahnt und mit Räumung bedroht. Der Prozess dauert an. Ein Urteil wird zu Ende September erwartet.
Horoskope für den Umsturz: „Chef-Astrologin“ sagt im Reuß-Verfahren aus
Hildegard L. hat schon vieles erlebt: Sie hat zwei Mal ein Studium abgeschlossen, arbeitete als Elektroingenieurin, als Lehrerin in einer Berufsschule, Unternehmerin, Programmiererin und zuletzt als Astrologin und Mitarbeiterin einer AfD-Bundestagsabgeordneten. Außerdem hat sie zwei Mal geheiratet und in zweiter Ehe zwei Kinder bekommen. Weshalb sie für den nächsten Lebensabschnitt den Weg einer mutmaßlichen Rechtsterroristin wählte und in Folge dessen seit über anderthalb Jahren in Untersuchungshaft sitzt, versucht der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München aktuell herauszufinden.
Eltern waren Impfgegner*innen
Ihr wird vorgeworfen gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Reichsbürger*innengruppe rund um Prinz Heinrich XIII. Reuß den militärischen Sturz der Bundesregierung und den Aufbau eines Rats als Putschregierung geplant zu haben — oder zumindest mitwissend gewesen zu sein. L. entscheidet sich als erste der acht in München angeklagten Personen auszusagen und legt ein umfangreiches, bisweilen langatmiges Teilgeständnis ab.
Zunächst breitet sie im Schneckentempo, sehr ausführlich und über anderthalb Prozesstage hinweg, ihren Lebenslauf aus. Schon zu Beginn stellt L. klar: Ihre Eltern hätten keines ihrer Kinder impfen lassen. Trotzdem hätten sie sich nie mit Kinderkrankheiten angesteckt, behauptet sie. Ansonsten klingt ihre Vita zunächst unauffällig: L. berichtet auch über Familienzerwürfnisse und berufliche Hochs und Tiefs.
Rote Seidenunterwäsche
An einem gewissen Punkt der Verlesung ihrer Aussage werden ihre Erzählungen allerdings esoterisch Nach dem Kontakt zu einer Astrologin und einem Medium, beginnt sie an deren Voraussagen zu glauben. Sie arbeitet ein paar Jahre später schließlich selbst als Astrologin und Kartenlegerin, gründet sogar einen Verlag dafür und gibt regelmäßig Seminare. Ihr Interesse, beziehungsweise ihre Dienste bezeichnet sie als „rein wissenschaftlich-mathematisch“.
Zwischenzeitlich glaubt sie nicht nur, die Erkrankungen von Menschen sehen, sondern diese auch selbst lindern zu können. Auf einem Seminar habe sie eine für sie elementare Weisheit erfahren: Um ihre Lebensenergie zu schützen, würde ihr empfohlen, möge sie entweder Chakren-Steine kaufen oder Seidenunterwäsche tragen. Am besten rote, vier Zentimeter unterhalb des Bauchnabels ansetzend. Während sich im Gericht daraufhin offenbar einige das Lachen verkneifen müssen oder peinlich berührt sind, erzählt L. von diesem absurden Ereignis wie von jedem anderen. Sie legt den Kopf schief und lächelt Zustimmung erheischend die Vorsitzende Richterin Illini an.
Überfall auf Bundestag geplant
In folgenden Prozesstagen äußert sich L. aber schließlich auch zur Anklage und beantwortet umfassend Fragen zu ihrer Einlassung: Sie habe von dem Mitangeklagten und Freund Thomas T. von der Gruppe gehört, sie hätten vor allem über Corona-Maßnahmen für Kinder geredet, diese verhindern wollen. Bei anschließenden Sitzungen des Rats, der über die Umsturzregierung entscheiden sollte, wären sie und T. zwar dabei gewesen, hätten allerdings nur als Beobachter*innen tätig werden dürfen. Von Schießtrainings hätte sie zwar gewusst, von den Plänen zum bewaffneten Überfall auf den Bundestag durch ehemalige KSK-Soldaten allerdings erst sehr spät erfahren.
Gerade das zweifelt die Bundesanwaltschaft allerdings an. Diese konfrontiert L. mit Chatverläufen mit der ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Malsack-Winkemann. So schreibt L. nach einem Schießtraining der Reichsbürger*innen: „Die würden doch kein Training machen, wenn da nix laufen würde“, und bestätigt ihr, dass „es nicht mehr lange dauern würde“. Es sei laut Bundesanwaltschaft also naheliegend, dass L. zu diesem Zeitpunkt durchaus über den Putschplan Bescheid wusste. Laut L.s Einlassung sei sie zu diesem Zeitpunkt allerdings noch unwissend gewesen.
„Birgit-Beruhigungsaktionen“
Ein weiterer Chatverlauf nach dem ersten Ratstreffen zeige außerdem, so die BAW, dass L. Malsack-Winkemann auf deren Frage, ob sie im Rat dabei sei, „Na klar!“ geantwortet habe. Zuvor beteuerte L., dass bei diesem Treffen noch keine personellen Entscheidungen getroffen worden seien und sie auch nicht in diese miteinbezogen worden sei.
Die Konfrontation mit den Chats verunsichert L. im Gericht: Sie kann die Frage nur ausweichend beantworten. L. sagt, ihre Aufgabe wäre es gewesen Malsack-Winkemann zu beruhigen, für die sie schon während ihres Bundestags- Mandats gearbeitet habe. Sie nennt diese „typische Birgit-Beruhigungsaktionen“.
Verschwiegenheit bei Strafe des Todes
Die Verschwiegenheitserklärung, die L. zum zweiten Ratstreffen unterschreiben musste, nahm L. offenbar nicht sonderlich ernst — auch wenn Zuwiderhandlungen mit der Todesstrafe geahndet werden sollten. Kund*innen erzählte die Astrologin von den Treffen und Inhalten. Das Gespräch mit einer ihrer Klientinnen ließ die mithörende Polizei besonders aufhorchen: L. erzählte, dass Listen über systemkonforme Personen angelegt werden müssten, und plauderte aus, dass eine „Allianz“, bestehend aus verschiedenen Militärs und Geheimdiensten bald eingreifen würde.
L.s zwei Verteidiger, die sich aufgrund der hohen Anzahl von Angeklagten in die eine Ecke der hintersten Anklagebank quetschen müssen, scheinen teilweise nicht ganz mit ihren Antworten zufrieden zu sein. Sie bitten um eine Pause, vermutlich um auf Mandantin einzuwirken und ihrem Gedächtnis hin und wieder auf die Sprünge zu helfen.
Ist die Angeklagte L. dement?
Der Anwalt eines weiteren Angeklagten versucht durch die Forderung nach einem psychiatrischen Gutachten sogar L.s gesamte Aussage anzuzweifeln. Er sei der Meinung, L. leide an einer Demenz und könne nicht weiter aussagen, sagte er.
Weshalb L. sich zu der Anklageschrift äußert, während beispielsweise Thomas T. bereits durch seine Anwält*innen bekannt gegeben hat, dass er schweigen wird, bleibt nur zu vermuten. Bei der Schwere der Vorwürfe kann aber angenommen werden, dass L. und ihre Verteidigung eventuell auf ein milderes Urteil und damit eine kürzere Haftstrafe spekulieren.
Terminiert bis Juli 2025
Weitere Fragen verschiedener Verteidiger*innen und Unterbrechungen zu ihrer Beantwortung ziehen das Verfahren bisweilen in die Länge. Die Anwälte von L. bitten im Gericht darum, dass die anderen Verteidiger*innen ihre Fragen bis Ende Juli stellen mögen, um im August die Vernehmung von L. abschließen zu können.
Der ursprünglich bis Januar 2025 terminierte Prozess ist kürzlich bereits bis Juli 2025 verlängert worden.
OEZ-Anschlag: An ihre Namen und ihre Leben erinnern
„We will shine for these nine“ — So lautet das Motto des Bündnisses „München erinnern!“ zum diesjährigen Gedenken an das rechtsterroristische Attentat im Olympia Einkaufszentrum (OEZ) vor genau acht Jahren, am 22. Juli 2016. Acht Jugendliche und eine Erwachsene, ihre Namen stehen im Zentrum des Erinnerns: Armela, Can, Dijamant, Guiliano, Hüseyin, Roberto, Sabine, Selçuk und Sevda, verloren ihr Leben bei dem Anschlag im Juli 2016 im OEZ. Erst viele Jahre und etliche Gutachten später war es offiziell: Es war kein „Amoklauf“, wie die Medien die Tat all die Jahre framten, sondern ein rechtsterroristischer Anschlag. Seitdem kämpfen Angehörige darum gehört zu werden.
Apsilon zollt Respekt
Am Wochenende gedachten etliche Hundert Menschen der Ermordeten bereits bei einem Konzert, einem Podium und einer Lesung. Viele Beiträge auf den Bühnen betonten, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem sei. Der Berliner Rapper Apsilon zeigte sich berührt davon, zum Gedenken eingeladen worden zu sein, und erzählte auf der kleinen Musikbühne und in seinen Songtexten von Rassismus-Erfahrungen seit seiner Kindheit.
Dringlicher Tenor der Veranstaltung war es, dass sich eben auch und vor allem Nicht-Betroffene von Rassismus solidarisch verhalten sollten. Es sei auch ihre Aufgabe, auf die Gefahr rassistischer Ideologie und Gewalt hinzuweisen und die Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Am eigentlichen Gedenktag, dem Montag, 22. Juli, versammelten sich abends Angehörige der Opfer, viele Unterstützer*innen und Trauernde am Ort des Anschlags vor dem OEZ. Es waren Lieder zu hören, die die Getöteten gerne gehört haben oder solche, mit denen Freund*innen und die Familien an sie erinnerten.
Gedenken nach 8 Jahren am Tatort selbst, dem Olympia Einkaufszentrum (OEZ) in München, am 22.7.24/caption]
Schmerz des Vermissens
Oberbürgermeister Dieter Reiter verwies darauf, dass München die Stadt mit den meisten rechtsterroristischen Anschlägen in Nachkriegsdeutschland sei. Auch er betonte die Wichtigkeit, auf die Wünsche der Angehörigen einzugehen und sprach von München als „bunter und demokratischer Stadt“.
Nach dem Stadtoberhaupt sprachen die Angehörige der Getöteten: Dabei erzählten sie nicht nur von dem Leben ihrer verlorenen Kinder und Geschwister und der ermordeten Mutter und Ehefrau, sondern vom Gefühl des Vermissens. Eine der Angehörigen forderte zudem mehr Aufklärung über das Vorgehen der Polizei und Behörden zum Tatzeitpunkt. Sie äußerte deutliche Kritik am Umgang mit dem Anschlag und seiner Einstufung als Amoklauf durch den bayerischen Innenminister Joachim Herrmann. Eine weitere Angehörige äußerte ihre tiefe Sorge über die zunehmende Macht der völkisch-nationalistischen Partei AfD.
Zum Zeitpunkt des Attentats versammelten sich Freund*innen und Familien an dem für die Verstorbenen errichteten Denkmal und ließen Luftballons aufsteigen. In einer Schweigeminute gedachten alle Anwesenden der getöteten Menschen.
Der Täter mag alleine geschossen haben – dennoch steht der Anschlag in München nicht vereinzelt im Raum, sondern ist nur ein Beispiel für rassistische Morde in Deutschland. Das Attentat in Hanau, der antisemitische Anschlag auf die Synagoge in Halle, die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walther Lübcke, aber auch der jüngste Brandanschlag auf eine Familie in Solingen, zahlreiche brennende Unterkünfte für Geflüchtete oder der von der Polizei getötete Mouhamed Lamine Dramé sind nur einige Beispiele, bei denen Menschen aufgrund einer rassistisch-nationalistischen Ideologie der Täter ihr Leben verloren.
Netzwerk der Betroffenen
Diese schrecklichen Taten zu verknüpfen und zusammen zu sehen, ist für die Angehörigen wichtig. Die Verwandten und Freund*innen der Opfer rassistischer Morde in verschiedenen Städten Deutschlands sind inzwischen gut vernetzt und besuchen sich gegenseitig bei Gedenkveranstaltungen, war während der Gedenkveranstaltung zu hören. Die Angehörigen aus München versicherten, dass ihnen das Gefühl, mit ihrer Trauer und Wut nicht alleine zu sein, Kraft gebe.
Tell their stories
Unter den Anwesenden wurde das Heftchen „Tell their Stories“ verteilt. In dem berührenden Booklet veröffentlichen Angehörige etlicher der Ermordeten Bilder, Gedichte, Erinnerungen und Geschichten aus dem Leben der Opfer. Die Botschaft auch hier: Nicht nur die Namen der Getöteten dürfen niemals in Vergessenheit geraten – auch ihre Geschichten müssen gehört werden!
CSD: Dürum und Ayran in Sonneberg
„Das Herz schlägt links“, sagt Sandro Kessel, seines Zeichens Stadtrat von Sonneberg für das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW). Vor dem Rathaus sammelt sich langsam eine immer bunter und lauter werdende Menschenmenge, aufgekratzt und erwartungsvoll, Regenbogen- und Queer-Fahnen, dazwischen auch Parteifahnen, die Grünen, Jusos, Linksjugend Solid, dominierend die „Partei der Humanisten“ (PdH). Sie sind alle zur ersten „Christopher Street Day“-Parade (CSD) in die verschlafene südthüringische Kleinstadt gekommen, um dort – im wahrsten Sinne es Wortes – Farbe, oder vielmehr viele bunte und schillernde Farben zu bekennen. Gegen einen braun und brauner werdenden Alltag, in dem die AfD den Ton angibt und mit Robert Sesselmann den ersten faschistischen Landrat in Deutschland nach 1945 stellt. Jedenfalls hat sich in Sonneberg und in Südthüringen die Lage von Menschen, die nicht ins rechte Weltbild passen, erheblich verschlechtert, laut der Opferberatungsstelle Ezra ist der Landkreis neben der Landeshauptstadt Erfurt und der Mittelstadt Weimar unterdessen zum dritten Hotspot rechter Gewalt geworden.
BSW drängt sich ins Bild
Trotzdem bleibt es an diesem Samstag, während die 650 Teilnehmende zählende Pride laut und fröhlich durch die fast ausgestorbenen Straßen der idyllisch gelegenen Stadt zieht, ruhig. Es zeigen sich kaum Einwohner*innen, Passant*innen geben sich freundlich tolerant. „Solange hinterher die Straßen nicht dreckig sind“, sagt eine junge Frau, sei das okay. Die erwarteten Gegendemonstrant*innen und Störungen bleiben völlig aus. Auch die Polizei gibt sich freundlich und entspannt, war ja auch nichts.
Also bleibt nur das BSW. Viele der Teilnehmenden stecken schon während des Zuges die Köpfe zusammen und fragen sich, weshalb diese erklärtermaßen trans- und queerfeindliche Partei sich hier so in die stolze Pride drängt. Sandro Kessel bleibt dabei, seine neue Partei BSW — er kommt ursprünglich von „Die Partei“ – gehöre hier mit dazu. Seinen T‑Shirt-Ärmel hat er extra hochgerollt, damit man sein umfangreiches Till-Lindemann-Tatoo nur ja gut sehen kann. Auch das bei einem CSD ein eher verstörendes Statement, wenn man sich die Debatte um den Rammstein-Frontmann ins Gedächtnis ruft. Auf die queerfeindlichen Statements seiner neuen Parteiführerin angesprochen, lässt Kessel seinen schrägen Vorstellungen von Geschlechtsumwandlung freien Lauf und meint, die gesetzliche Möglichkeit, „jedes Jahr einmal sein Geschlecht zu wechseln“, das gehe einfach zu weit.
Tolles Bühnenprogramm am PIKO-Platz
Natürlich ticken die Uhren in einem winzigen Provinznest im ehemaligen Zonenrand anders. Im Rathaus haben sich – in ihrer Not, möchte man sagen – SPD, Linke und eben BSW zusammengetan, um Fraktionsstärke gegen die übermächtige AfD zu erlangen. Da nimmt man es dann mit der „rot-roten“ Abgrenzung vielleicht nicht mehr so genau. Es bleibt dann der Grünen-Landtagsabgeordneten Madeleine Henfling überlassen, auf der Bühne der Abschlusskundgebung noch einmal das ganze entlarvende Wagenknecht-Zitat von den „skurrilen Minderheiten“ zu zitieren und ihr Unverständnis darüber auszudrücken, dass die Organisator*innen von #CSDinSonneberg sich nicht klar abgrenzten, sondern auch noch dem stellvertretenden BSW-Kreisvorsitzenden Steffen Schütz die Bühne für einen Redebeitrag überlassen. Ihre Kritik wird von lautstarken, zustimmenden Buh-Rufen der auf dem PIKO-Platz (benannt nach der weltberühmten DDR-Modelleisenbahn-Fabrik) versammelten Menge begleitet.
Die Organisator*innen bleiben dabei: Frederic Forkel (PdH Coburg) sagt, man wolle dem BSW diesmal die Chance geben „sich zu bewähren“. Tue es das nicht, sei es das nächste mal raus.
Leider verblassen hinter der Irritation über die BSW-Beteiligung die gute Stimmung, die engagierten antifaschistischen Redebeiträge und die starke klassenkämpferische Solidaritätserklärung des DGB-Jugendsekretärs Gregor Gallner mit dem Anliegen des CSD und den Teilnehmenden. Und das mitreißende Bühnenprogramm mit dem programmatischen Song „Dürüm und Ayran in der Thüringer Kleinstadt“ von Maurice Conrad und Bruneau, mit dem von Fans umlagerten Youtube-Star „Yu“ und der beeindruckenden Rapperin „Latifa Iguma“ aus dem ostthüringischen Gera.
Dieser Beitrag erschien zuerst in bearbeiteter Version im ND.