Vielfalt und Homogenität – Aspekte und Inkonsistenzen des Ethnopluralismusdiskurses

Mit der euro­pa­wei­ten Akti­on Defend Euro­pe woll­te die Iden­ti­tä­re Bewe­gung 2017 die NGOs, wel­che im Mit­tel­meer­raum Men­schen­le­ben ret­ten, dif­fa­mie­ren und deren Arbeit als „Schlep­per­ak­ti­vi­tä­ten“[1] dar­stel­len. Sie­ben Jah­re spä­ter mie­tet sie im Rah­men der aktu­el­len Kam­pa­gne No Way – Do Not Come To Euro­pe Wer­be­flä­chen in afri­ka­ni­schen Län­dern. Die Iden­ti­tä­re Bewe­gung meint, dadurch die loka­le Bevöl­ke­rung auf­klä­ren (oder auch ermah­nen) zu kön­nen, dass sich die gefähr­li­che Rei­se nach Euro­pa nicht lohnt.[2] Den Vor­wurf des Ras­sis­mus weist die Iden­ti­tä­re Bewe­gung zurück: „Wir ste­hen ande­ren Kul­tu­ren und Völ­kern nicht ableh­nend gegen­über. Wir ver­ste­hen die Welt als plu­ra­les Gebil­de viel­fäl­ti­ger kul­tu­rel­ler Ent­wür­fe und Lebens­aus­drü­cke mit einer kon­kre­ten ört­li­chen Bestimmt­heit und geschicht­li­chen Ent­wick­lung“[3].

Die­ser und ähn­li­chen Erklä­run­gen der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung liegt eine bestimm­te Welt­an­schau­ung zu Grun­de. Expli­zit bezieht sie sich an ande­rer Stel­le posi­tiv auf den Eth­no­plu­ra­lis­mus im Sin­ne Alain de Benoists, den Intel­lek­tu­el­len der Nou­vel­le Droi­te in Frank­reich.[4] Im All­ge­mei­nen bezeich­net die Idee des Eth­no­plu­ra­lis­mus Vor­stel­lun­gen, die davon aus­ge­hen, dass Men­schen hin­sicht­lich ihrer ‚eth­nisch-kul­tu­rel­len‘ Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit ungleich sind. Im Sin­ne Benoists ist damit zunächst kei­ne Ungleich­wer­tig­keit im Sin­ne eines euge­ni­schen Ras­sen­be­griffs gemeint, son­dern eine Aner­ken­nung ver­schie­de­ner Kul­tu­ren.[5] Es ent­steht sogar der Ein­druck, dass die Viel­falt der Kul­tu­ren im eth­no­plu­ra­lis­ti­schen Den­ken geschätzt werde.

Im Fol­gen­den wer­den Aspek­te und Inkon­sis­ten­zen der posi­ti­ven Bezug­nah­me auf den Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus auf­ge­zeigt, um schließ­lich die Fra­ge zu beant­wor­ten, wel­che poli­ti­schen und prak­ti­schen Impli­ka­tio­nen aus dem Begriff abge­lei­tet wer­den können.

Die sub­stan­zia­li­sier­te Kultur

Die Eth­nie trägt nach Benoist sowohl die „Idee der Ras­se als auch […] der Kul­tur“[6] in sich. Die Bezie­hung zwi­schen der ver­meint­li­chen ‚Ras­se‘ und der Kul­tur bezeich­net Benoist als eine der Poten­tia­li­tät.[7] Die­sem Gedan­ken nach bil­det eine ‚Ras­se‘ den Boden für die (Schicksals-)Geschichte und Kul­tur.[8] So führt der fran­zö­si­sche Rechts­in­tel­lek­tu­el­le die ver­schie­de­nen Kul­tu­ren auf ein jeweils unter­schied­li­ches bio­lo­gis­ti­sches Fun­da­ment  zurück. Die Kul­tur bil­det somit in gewis­ser Wei­se den Über­bau der Biologie.

Hen­ning Eich­berg gilt als der­je­ni­ge, der den Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus popu­la­ri­siert und im deut­schen Dis­kurs maß­geb­lich geprägt hat. In den 70er Jah­ren ver­öf­fent­lich­te der Sozio­lo­gie und His­to­ri­ker in der neu­rech­ten Zeit­schrift Jun­ges Forum einen Auf­satz, in dem er wie Benoist die Über­zeu­gung ver­tritt, dass sub­stan­zi­el­le Unter­schie­de zwi­schen den Kul­tu­ren hin­sicht­lich ihres „Ver­hal­tens, Wahr­neh­mens und Den­kens“[9] bestehen. Eich­berg unter­nimmt eine Kri­tik an den west­li­chen Ent­wick­lungs­hil­fen, die einen „[naiv-eth­no­zen­trisch linea­ren] Maß­stab von hoch- bzw. unter­ent­wi­ckelt“[10] vor­aus­set­zen und rät dazu „auf alle Inter­ven­tio­nen in ande­re Kul­tu­ren hin­ein zu ver­zich­ten“[11]. Jede Kul­tur sol­le sei­ner Ansicht nach selbst­be­stimmt ent­schei­den, wie und ob die­se sich ent­wi­ckeln möch­te. Einem uni­ver­sel­len Begriff der Ent­wick­lung setzt der Eth­no­plu­ra­lis­mus dem eige­nen Anspruch nach die Aner­ken­nung jener unter­schied­li­chen Vor­stel­lun­gen ent­ge­gen, wie die Gesell­schaft orga­ni­siert wer­den soll.

Eben­so ent­steht der Ein­druck, dass es sich bei den ‚Kul­tu­ren‘ um ein abge­schlos­se­nes Gan­zes han­delt. Der Mensch wird nach Benoist in einen Kul­tur­kreis hin­ein­ge­bo­ren und fin­det eine bereits exis­tie­ren­de Kul­tur vor. Er habe die­se anzu­neh­men, „weil es sei­ne Kul­tur ist und weil er ihr Erbe ist“[12]. Von Außen­ste­hen­den kön­ne die­se Kul­tur nie ver­stan­den wer­den, weil die­se nicht über den Zugang ver­fü­gen, wie Kul­tur­ange­hö­ri­ge dies tun.[13] Die Kul­tur ist folg­lich ein rigi­des Gebil­de, das den kla­ren Blick nach außen nicht ermög­licht. Von Hajo Fun­ke wird die­ses Ver­ständ­nis als eine „Sub­stan­zia­li­sie­rung von Kul­tur“[14] bezeich­net. Anders als Benoist meint, exis­tie­ren Kul­tu­ren aber nicht als Mono­li­then im luft­lee­ren Raum. Kul­tu­ren sind im ste­ti­gen Wan­del begrif­fen. Ihnen liegt eine Dyna­mik zugrun­de, weil die­se im Ver­lau­fe der Zeit von unter­schied­li­chen Men­schen, sowohl von inner­halb, als auch von außer­halb, geprägt wor­den sind und geprägt wer­den. Eben­so erle­ben Men­schen in mul­ti­kul­tu­rel­len Kon­tex­ten, wie etwa im bilin­gua­len Auf­wach­sen unter­schied­li­che Kul­tu­ren, die sich ver­mi­schen kön­nen. Inso­fern las­sen sich die­se auch nicht fein säu­ber­lich von­ein­an­der tren­nen, kate­go­ri­sie­ren und den ein­zel­nen Men­schen zuord­nen. Benoist jedoch behaup­tet eine natür­lich Ver­bin­dung des ein­zel­nen Men­schen zu sei­ner Kul­tur. Men­schen sol­len sich für die Kul­tur ent­schei­den und für die­se ein­ste­hen, die ihrer ‚eth­ni­schen‘ Her­kunft, ihrem Aus­se­hen nach entspricht.

In sei­nem 2023 erschie­ne­nen Werk Wir und die Ande­ren ope­riert Benoist eher mit dem Begriff der Iden­ti­tät als dem der Eth­nie. Die deut­sche Iden­ti­tä­re Bewe­gung beruft sich expli­zit auf die­ses Werk und bezeich­net Iden­ti­tät als Resul­tat von unter­schied­li­chen kol­lek­ti­ven und indi­vi­du­el­len Fak­to­ren, wobei letz­te­res auch die „Mar­ker der eth­no­kul­tu­rel­len Iden­ti­tät ent­hal­ten“[15]. Ziel der Bewe­gung sei es, die Iden­ti­tät des deut­schen Vol­kes zu bewah­ren, ohne die Exis­tenz ande­rer Völ­ker zu negie­ren. Benoist meint eben­falls, dass die eige­ne Kul­tur geför­dert und ver­tei­digt wer­den kön­ne, ohne dass ande­re Men­schen ver­ach­tet wer­den müs­sen.[16] Wie­so muss aber die eige­ne Kul­tur ver­tei­digt wer­den und was ist damit gemeint?

Der Uni­ver­sa­lis­mus als Bedrohung

Der ethi­sche Uni­ver­sa­lis­mus ver­eint alles Mensch­li­che unter all­ge­mein­gül­ti­gen Prin­zi­pi­en. Eine sol­che Vor­stel­lung liegt der All­ge­mei­nen Erklä­rung der Men­schen­rech­te der Ver­ein­ten Natio­nen zugrun­de. Arti­kel 2 besagt, dass allen Men­schen die in der Erklä­rung ent­hal­te­nen Rech­te und Frei­hei­ten unab­hän­gig von den ihnen zuge­schrie­be­nen oder ange­bo­re­nen Merk­ma­len zuste­hen.[17] Benoist erkennt den ein­zel­nen Men­schen als Indi­vi­du­um jedoch nicht an, son­dern sub­su­miert die­sen unter sei­ne ‚Kul­tur‘. Es gebe „nur Kul­tu­ren [gibt], die alle ihre eige­nen Merk­ma­le und ihre eige­nen Geset­ze haben“[18]. An die Stel­le eines Uni­ver­sa­lis­mus setzt Benoist einen all­ge­mei­nen Rela­ti­vis­mus. Die­se Beson­der­hei­ten der unter­schied­li­chen Kul­tu­ren sei­en durch den uni­ver­sel­len Anspruch all­ge­mein­gül­ti­ger Prin­zi­pi­en bedroht. Dage­gen for­mu­liert Benoist die The­se, dass „das Pfle­gen des kol­lek­ti­ven Ichs viel­leicht das bes­te Mit­tel ist, einen Bei­trag zum Uni­ver­sel­len zu leis­ten“[19]. Hier ver­wi­ckelt sich Benoist in einen Selbst­wi­der­spruch: ent­ge­gen sei­ner Ableh­nung eines jeden Uni­ver­sa­lis­mus ver­tritt er einen neu­en, wenn er die Unter­wer­fung unter die Kul­tur als ein all­ge­mein­gül­ti­ges Prin­zip for­dert. Doch es bleibt nicht bei einer nüch­ter­nen Ableh­nung: der Uni­ver­sa­lis­mus kommt dem Ras­sis­mus gleich, da bei­de tota­li­sie­rend sind und so jeg­li­che Unter­schie­de zwi­schen Völ­kern bestrei­ten.[20] Dass der Ras­sis­mus Anders­ar­tig­kei­ten erst pro­du­ziert und poten­ziert, negiert er.

Die deut­sche Iden­ti­tä­re Bewe­gung schließt sich eben­falls der Kri­tik Benoists an, dass der Uni­ver­sa­lis­mus eine Unter­drü­ckungs­ideo­lo­gie ist.[21] Sie sieht den „Glo­ba­lis­mus“[22] als den Haupt­grund dafür an, dass die Ver­schie­den­hei­ten zwi­schen den Völ­kern und Kul­tu­ren auf­ge­ho­ben wer­den.[23] Die­ser ver­drän­ge die Bedeu­tung der regio­na­len Iden­ti­tät zuguns­ten der Vor­stel­lung einer uni­ver­sel­len Mensch­heit. Benoist betont eben­falls, dass der Uni­ver­sa­lis­mus „häu­fig ledig­lich die Mas­ke für unein­ge­stan­de­ne Beherr­schungs­prak­ti­ken war“[24].

Hen­ning Eich­berg hin­ge­gen for­mu­liert eine merk­wür­di­ge Kapi­ta­lis­mus­kri­tik. Sei­ner Ansicht nach ist die Xeno­pho­bie Resul­tat des Kapi­ta­lis­mus, wel­cher durch sei­ne leis­tungs­zen­trier­ten Anfor­de­run­gen die Arbei­ten­den in exis­ten­zi­el­ler Angst zurück­lässt. Die­se Angst wird zur Pro­jek­ti­ons­flä­che für den Hass gegen ihnen frem­de Men­schen. Gleich­zei­tig behaup­tet er, dass die Deut­schen sich selbst nicht als ‚Volk‘ aner­ken­nen wür­den.[25] Eich­berg scheint es nicht in den Sinn zu kom­men, dass der Frem­den­hass die eige­ne Aner­ken­nung als ‚Volk‘ vor­aus­setzt. Der Hass auf frem­de Men­schen kann gera­de als die Fol­ge der Auf­fas­sung eines ‚deut­schen Vol­kes‘ ver­stan­den wer­den. In die­sem Fal­le exis­tiert ein deut­sches Volks­ver­ständ­nis – es ist jedoch ein rassistisches.

Viel­falt und Homogenität

Die Viel­falt [der Kul­tu­ren] ist etwas Gutes, denn jeder wah­re Reich­tum beruht auf ihr“[26]. Mit die­sen Wor­ten möch­te Benoist beto­nen, dass die Ver­schie­den­hei­ten zwi­schen den Kul­tu­ren zu wert­schät­zen sind und sug­ge­riert Tole­ranz. Gleich­zei­tig schreibt er in Kul­tur­re­vo­lu­ti­on von rechts, dass bei zuneh­men­der Ein­wan­de­rung Grup­pen mit unter­schied­li­chen eth­nisch-kul­tu­rel­len Iden­ti­tä­ten „Kul­tur­ver­lust“[27], Aus­gren­zung sowie einen Anstieg an Kri­mi­na­li­tät erfah­ren. Eben­falls kön­ne „Ras­sen­ver­mi­schung“[28] zu einem Ver­lust der Kul­tur füh­ren, kri­ti­siert Benoist. Der fran­zö­si­sche Rechts­in­tel­lek­tu­el­le kon­sta­tier, dass die Viel­falt der Kul­tu­ren anzu­er­ken­nen und wert­zu­schät­zen ist, die­se soll­ten mög­lichst getrennt von­ein­an­der exis­tie­ren. Er spricht gar von einer „wech­sel­sei­ti­gen Ent­ko­lo­ni­sa­ti­on“[29]. Benoist rela­ti­viert damit das his­to­ri­sche Ver­bre­chen des Kolo­nia­lis­mus durch das vemeint­lich ver­gleich­ba­re Übel einer mulit­kul­tu­rel­len Gesell­schaft. Die­se Rela­ti­vie­rung liegt eine ras­sis­ti­sche Vor­stel­lung von gesell­schaft­li­cher Homo­ge­ni­tät zu Grun­de. Kul­tu­ren gehö­ren von­ein­an­der ent­zerrt und seg­re­giert, da sich die­se andern­falls gegen­sei­tig scha­den und jeweils von der eige­nen Iden­ti­tät ent­frem­den kön­nen. Die Viel­falt wird von Benoist nur aus der Fer­ne gewür­digt – im bes­ten Fal­le inter­agiert man gar nicht mit die­ser und ver­bleibt in der eige­nen Homogenität.

Zuguns­ten der Homo­ge­ni­tät sprach sich auch Carl Schmitt aus. Das Frem­de wird als Bedro­hung beschrie­ben, wel­che durch die Demo­kra­tie als homo­ge­ne Enti­tät aus­ge­löscht wer­den soll.[30] Schmitt meint, dass sich auch dann noch von einer Demo­kra­tie spre­chen lässt, wenn eine Grup­pe aus­ge­schlos­sen ist.[31] Die­se Homo­ge­ni­tät wird inner­halb des natio­nal­staat­li­chen Rah­mens ange­strebt. In Rück­be­sin­nung auf die Kern­idee des Eth­no­plu­ra­lis­mus gibt es dann nach Schmitt auch kei­ne uni­ver­sa­lis­ti­sche Staa­ten­welt, son­dern ein „Plu­ri­ver­sum“[32]. Im Gegen­satz zu Schmitts Bezug­nah­me auf den neu­zeit­li­chen Natio­nal­staat bezeich­net Benoist die Idee von inner­staat­li­cher Homo­ge­ni­tät hin­sicht­lich ‚eth­no-kul­tu­rel­ler‘ Aspek­te als eine illu­so­ri­sche Vor­stel­lung. Ihm zufol­ge sol­le sich die kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät regio­nal beschrän­ken, da sich auf die­ser Ebe­ne Men­schen fin­den, die tat­säch­lich mit den glei­chen Pro­ble­men zu kämp­fen haben.[33]

Die Vor­stel­lung, Homo­ge­ni­tät auf natio­nal­staat­li­cher Ebe­ne her­zu­stel­len, lehnt Eich­berg eben­falls ab und plä­diert für die Akzep­tanz von unter­schied­li­chen ‚Stäm­men‘ inner­halb eines Staa­ten­ge­bil­des.[34] Benoist und Eich­berg stel­len sich gegen die Idee eines völ­ki­schen Natio­na­lis­mus, betrach­ten aber Kul­tu­ren als von­ein­an­der getrennt exis­tie­ren­de Enti­tä­ten – wenn auch inner­halb glei­cher Staatsgrenzen.

Pierre Krebs ist der Lei­ter des soge­nann­ten Thu­le-Semi­nars, wel­ches nach eige­ner Aus­sa­ge eine „For­schungs- und Lehr­ge­mein­schaft für die indo-euro­päi­sche Kul­tur“[35]ist. Er ver­knüpft die Iden­ti­tät eben­falls nicht mit dem Natio­nal­staat, son­dern wei­tet die­se auf ganz Euro­pa aus. Sich die­ser Iden­ti­tät anzu­neh­men, bedeu­tet für ihn auch „die Bewah­rung der Unter­schie­de und die kul­tu­rel­le Auto­no­mie der euro­päi­schen Min­der­hei­ten“[36] ernst zu neh­men. Krebs bezieht sich aller­dings dezi­diert nicht auf den Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus, den er als ver­al­tet betrach­tet. Eher ver­wen­det er den Begriff des „euro­päi­schen Eth­nobe­wusst­seins“[37]. Nach Krebs‘ Vor­stel­lung bedeu­tet dies die Über­win­dung der „[zer­stö­ren­den] Assi­mi­la­ti­on frem­der Eth­ni­en […] und die ganz natür­li­che und über­all ver­ständ­li­che Rück­kehr der Immi­gran­ten in das Land ihrer Vor­fah­ren“[38]. Was Krebs als eine Natür­lich­keit dar­stellt, bedeu­tet in prak­ti­scher Kon­se­quenz die Zwangs­um­sied­lung von Mil­lio­nen von Men­schen, die nicht dem pseu­do­wis­sen­schaft­li­chen Bild eines Euro­pä­ers entsprechen.

Remi­gra­ti­on als eine Kon­se­quenz des Ethnopluralismus

Wäh­rend rechts­in­tel­lek­tu­el­le Vor­den­ker wie Benoist und Eich­berg die Idee einer Mas­sen­aus­wei­sung ableh­nen, wird die­se etwa von Pierre Krebs oder Mar­tin Sell­ner, dem bekann­tes­ten Gesicht der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung Deutsch­lands und Öster­reichs, gefor­dert. Sell­ner bezieht sich in einem Inter­view posi­tiv auf den Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus und betont dabei das Selbst­be­stim­mungs­recht der ‚Völ­ker‘ und Kul­tu­ren. Sell­ner tritt für „Mas­sen­rück­füh­run­gen“[39] als Teil einer durch Selbst­be­stim­mung gerecht­fer­tig­ten Migra­ti­ons­po­li­tik ein. So kön­nen sei­ner Ansicht nach Men­schen ande­rer Her­kunft außer Lan­des ver­wie­sen wer­den, wenn das ‚ein­hei­mi­sche‘ Volk befin­det, dass „die wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Kapa­zi­täts­gren­zen unse­rer Auf­nah­me- und Assi­mi­la­ti­ons­fä­hig­keit“[40] aus­ge­schöpft sei­en. Dies bedeu­tet, dass Migrant_innen und Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund der rei­nen Will­kür einer bestimm­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pe aus­ge­lie­fert sind.

Der Staat sol­le Sell­ner zufol­ge die ‚eth­nisch-kul­tu­rel­le‘ Iden­ti­tät schüt­zen, da die­se für eine Demo­kra­tie unab­ding­bar sei. Er spricht selbst von einem „mono­kul­tu­rel­len [Staat]“[41]. Damit knüpft Sell­ner an Carl Schmitts Demo­kra­tie­ver­ständ­nis an, wel­cher, wie zuvor erwähnt, eben­falls auf inner­staat­li­che Homo­ge­ni­tät abzielt – auch unter Anwen­dung von Gewalt. In einem Bei­trag für Sezes­si­on im Netz, des­sen ver­ant­wort­li­cher Redak­teur Götz Kubit­schek ist, führt Sell­ner meh­re­re his­to­ri­sche Bei­spie­le für „Remi­gra­ti­on“[42] an, offen­bar mit der Absicht, die­ses Vor­ha­ben zu nor­ma­li­sie­ren. Er bestrei­tet, dass die Depor­ta­ti­on von zahl­rei­chen Men­schen mit den Men­schen­rech­ten oder der Ver­fas­sung kon­f­li­gie­ren wür­den.[43] Zur Grup­pe der aus­zu­wei­sen­den Men­schen zählt Sell­ner ‚Asyl­be­trü­ger‘ und Men­schen ohne deut­scher Staats­bür­ger­schaft, „die eine kul­tu­rel­le, wirt­schaft­li­che und kri­mi­no­lo­gi­sche Belas­tung dar­stel­len“[44]. Eben­falls aus­ge­wie­sen wer­den sol­len jene Men­schen, die sich auf Dau­er nicht einer ‚Leit­kul­tur‘ im Land anpas­sen. Die­se Leit­kul­tur sei Aus­druck der ‚eth­nisch-kul­tu­rel­len‘ Iden­ti­tät inner­halb natio­nal­staat­li­cher Gren­zen. Wer gut assi­mi­liert ist, das ent­schei­det der­je­ni­ge, der ein ‚Erbe‘ der ‚Eth­nie‘ sei. Die deut­sche Iden­ti­tä­re Bewe­gung for­dert, dass das Staats­bür­ger­schafts­recht an die Her­kunft geknüpft wer­den soll­te.[45]

Im Janu­ar 2024 berich­te­te das Inves­ti­ga­tiv­por­tal Cor­rec­tiv von einem gehei­men Tref­fen zwi­schen Rechts­extre­men — unter den Anwe­sen­den waren unter ande­rem Politiker_innen der Wer­te­uni­on sowie der AfD und Mar­tin Sell­ner. Zen­tra­ler Inhalt die­ses Tref­fen waren Plä­ne zur „Remi­gra­ti­on“. Die­se Repor­ta­ge lös­te einen öffent­li­chen Auf­schrei aus, gefolgt von zahl­rei­chen Demons­tra­tio­nen in ganz Deutsch­land. Mar­tin Sell­ner zieht dar­aus ande­re Schlüs­se: „Mit die­ser sym­bo­li­schen und theo­re­ti­schen Schwung­mas­se kann die Visi­on der Remi­gra­ti­on den Gra­ben über­sprin­gen und in der Mit­te der Gesell­schaft lan­den“[46].

Schluss

Der Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus beruft sich in einem basa­len Sin­ne auf die Aner­ken­nung der Ungleich­heit der Kul­tu­ren, ohne die­se abzu­wer­ten. Die Kul­tur wird essen­tia­li­siert und bio­lo­gi­siert, indem sie an den Begriff der ‚Eth­nie‘ oder gar der ‚Ras­se‘ geknüpft wird. Die Vor­stel­lung, dass jede Kul­tur ihrer eige­nen Logik folgt und dem­nach kei­ne Ver­gleich­bar­keit mög­lich ist, ver­un­mög­licht jedes uni­ver­sa­lis­ti­sche Prin­zip. Der Uni­ver­sa­lis­mus erken­ne die Unter­schie­de der Kul­tu­ren nicht an und sei durch die­se Nega­ti­on der Viel­falt unter­drü­cke­risch. Eben­so bestehe die Gefahr, dass sich die Kul­tu­ren gegen­sei­tig über­frem­den, wes­halb die­se mög­lichst getrennt von­ein­an­der exis­tie­ren müs­sen. Obwohl Alain de Benoist und Hen­ning Eich­berg die Mas­sen­aus­wei­sung von Men­schen ande­rer Her­kunft ableh­nen, stre­ben Pierre Krebs und Mar­tin Sell­ner mit der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung die Zwangs­de­por­ta­ti­on zahl­rei­cher Men­schen zuguns­ten einer „mono­kul­tu­rel­len“[47] Gesell­schaft an. Der Eth­no­plu­ra­lis­mus ist anschluss­fä­hi­ge für völ­kisch-natio­na­lis­ti­sches Gedan­ken­gut und wird als rela­tiv loses theo­re­ti­sches Kon­zept von rechts­ra­di­ka­len Akteu­ren als Grund­la­ge her­an­ge­zo­gen, um die Deu­tungs­ho­heit dar­über aus­zu­üben, wie und wel­che Men­schen zusam­men­le­ben sol­len. In die­sem Sin­ne ist die Kul­tur als Bezugs­punkt anstel­le der ‚Ras­se‘ „ein blo­ßes Deck­bild für den bru­ta­len Herr­schafts­an­spruch“[48].

Vie­len Dank an das anti­fa­schis­ti­sche pres­se­ar­chiv und bil­dungs­zen­trum ber­lin e.V. (apa­biz) für die Bereit­stel­lung der Materialien.

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Iden­ti­tä­re Bewe­gung: The­men, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, o.D., https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​t​h​e​m​e​n​/​#​g​l​o​b​a​l​i​s​mus (abge­ru­fen am 30.11.2024).

Krau­se, Peter: Ein­wan­de­rung bedroht unse­re kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät nicht. Alain de Benoist, Vor­den­ker der Neu­en Rech­ten in Frank­reich, über Ras­sis­mus und Anti­ras­sis­mus, Ideo­lo­gien und Frem­den­feind­lich­keit, Ber­lin: Jun­ge Frei­heit, 1998.

Krebs, Pierre: Wofür wir kämp­fen, In: ahnen​rad​.org – Die Geis­tes­ge­gen­wart der Zukunft, 2020, https://​ahnen​rad​.org/​2​0​2​0​/​0​5​/​1​6​/​w​o​f​u​e​r​-​w​i​r​-​k​a​e​m​p​f​en/ (abge­ru­fen am 30.11.2024).

Schmitt, Carl: Der Begriff des Poli­ti­schen, 9. kor­ri­gier­te Auf­la­ge, Ber­lin: Dun­cker & Hum­blot, 2015.

Schmitt, Carl: Die geis­tes­ge­schicht­li­che Lage des heu­ti­gen Par­la­men­ta­ris­mus, 10. Auf­la­ge, Ber­lin: Dun­cker & Hum­blot, 2017.

Sell­ner, Mar­tin: Wie­der­vor­la­ge: Remi­gra­ti­on ist kei­ne Erfin­dung unse­rer Zeit, in: Sezes­si­on, 2024, https://​sezes​si​on​.de/​6​8​6​0​2​/​r​e​m​i​g​r​a​t​i​o​n​-​i​s​t​-​k​e​i​n​e​-​e​r​f​i​n​d​u​n​g​-​u​n​s​e​r​e​r​-​z​eit (abge­ru­fen am 30.11.2024).

Ver­ein­te Natio­nen: All­ge­mei­ne Erklä­rung der Men­schen­rech­te, in: Ver­ein­te Natio­nen, 1948, https://​unric​.org/​d​e​/​a​l​l​g​e​m​e​i​n​e​-​e​r​k​l​a​e​r​u​n​g​-​m​e​n​s​c​h​e​n​r​e​c​h​te/ (abge­ru­fen am 30.11.2024).

Wage­ner, Mar­tin: Über die Iden­ti­tä­re Bewe­gung – Ein Gespräch mit Mar­tin Sell­ner, Ber­lin: Kind­le Direct Publi­shing, 2021, S. 15.


[1] Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Unse­re Mis­si­on. Die patrio­ti­sche Wen­de, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, o.D., https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​m​i​s​s​i​on/ (abge­ru­fen am 29.11.2024).

[2] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: „No Way – Do not come to Euro­pe“ – Iden­ti­tä­re Auf­klä­rungs­kam­pa­gne in Afri­ka gestar­tet, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, o.D., https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​n​e​u​i​g​k​e​i​t​e​n​/​n​o​-​w​a​y​-​d​o​-​n​o​t​-​c​o​m​e​-​t​o​-​e​u​r​o​p​e​-​i​d​e​n​t​i​t​a​e​r​e​-​a​u​f​k​l​a​e​r​u​n​g​s​k​a​m​p​a​g​n​e​-​i​n​-​a​f​r​i​k​a​-​g​e​s​t​a​r​t​et/ (abge­ru­fen am 29.11.2024).

[3] Iden­ti­tä­re Bewegung.

[4] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Skan­da­li­sie­rung ohne Skan­dal, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, 2016, https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​n​e​u​i​g​k​e​i​t​e​n​/​s​k​a​n​d​a​l​i​s​i​e​r​u​n​g​-​o​h​n​e​-​s​k​a​n​d​al/ (abge­ru­fen am 29.11.2024).

[5] Vgl. Benoist, Alain d.: Wir und die ande­ren, Ber­lin: Jun­ge Frei­heit, 2008, S.60.

[6] Benoist, Alain d.: Kul­tur­re­vo­lu­ti­on von rechts, Kre­feld: Sinus, 1985, S. 57.

[7] Vgl. Ebd.

[8] Vgl. Ebd. S. 55.

[9] Eich­berg, Hen­ning:  Eth­no­plu­ra­lis­mus. Eine Kri­tik des nai­ven Eth­no­zen­tris­mus und der Ent­wick­lungs­hil­fe, in: Jun­ges Forum, Nr. 5, 1973, S. 6.

[10] Ebd. S. 4.

[11] Ebd. S. 10.

[12] Benoist, 1985, S. 61.

[13] Vgl. Ebd. S. 55.

[14] Fun­ke, Hajo: Rechts­extre­me Ideo­lo­gien, stra­te­gi­sche Ori­en­tie­run­gen und Gewalt, in: Mar­tin Gers­ter (Hrsg.), Stra­te­gien der extre­men Rech­ten, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2009, S. 25.

[15] Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Mission.

[16] Vgl. Benoist, 1985, S. 61.

[17] Vgl. Ver­ein­te Natio­nen: All­ge­mei­ne Erklä­rung der Men­schen­rech­te, in: Ver­ein­te Natio­nen, 1948, https://​unric​.org/​d​e​/​a​l​l​g​e​m​e​i​n​e​-​e​r​k​l​a​e​r​u​n​g​-​m​e​n​s​c​h​e​n​r​e​c​h​te/ (abge­ru­fen am 30.11.2024).

[18] Benoist, Alain d.: Gleich­heits­leh­re, Welt­an­schau­ung und Moral; die Aus­ein­an­der­set­zung von Nomi­na­lis­mus und Uni­ver­sa­lis­mus, in: Pierre Krebs (Hrsg.), Das unver­gäng­li­che Erbe. Alter­na­ti­ven zum Prin­zip der Gleich­eit, Tübin­gen: Gra­bert, 1981, S. 87.

[19] Benoist, 1985, S. 61.

[20] Krau­se, Peter: Ein­wan­de­rung bedroht unse­re kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät nicht. Alain de Benoist, Vor­den­ker der Neu­en Rech­ten in Frank­reich, über Ras­sis­mus und Anti­ras­sis­mus, Ideo­lo­gien und Frem­den­feind­lich­keit, Ber­lin: Jun­ge Frei­heit, 1998, S. 3.

[21] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: The­men, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, o.D., https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​t​h​e​m​e​n​/​#​g​l​o​b​a​l​i​s​mus (abge­ru­fen am 30.11.2024).

[22] Ebd.

[23] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Mission.

[24] Benoist, 2008, S. 63.

[25] Vgl. Eich­berg, Hen­ning: Das gute Volk: Über mul­ti­kul­tu­rel­les Mit­ein­an­der, in: Ästhe­tik & Kom­mu­ni­ka­ti­on, Jg. 23, Nr. 84, 1994,S. 79–82.

[26] Benoist, 1981, S.87.

[27] Benoist, 1985, S. 65.

[28] Ebd., S.64.

[29] Ebd., S. 67.

[30] Vgl. Schmitt, Carl: Die geis­tes­ge­schicht­li­che Lage des heu­ti­gen Par­la­men­ta­ris­mus, 10. Auf­la­ge, Ber­lin: Dun­cker & Hum­blot, 2017, S. 14.

[31] Ebd., S. 15.

[32] Schmitt, Carl: Der Begriff des Poli­ti­schen, 9. kor­ri­gier­te Auf­la­ge, Ber­lin: Dun­cker & Hum­blot, 2015, S.50.

[33] Vgl. Krau­se, 1998, S. 4.

[34] Vgl. Eich­berg, 1994, S. 81.

[35] Krebs, Pierre: Wofür wir kämp­fen, In: ahnen​rad​.org – Die Geis­tes­ge­gen­wart der Zukunft, 2020, https://​ahnen​rad​.org/​2​0​2​0​/​0​5​/​1​6​/​w​o​f​u​e​r​-​w​i​r​-​k​a​e​m​p​f​en/ (abge­ru­fen am 30.11.2024).

[36] Ebd.

[37] Ebd.

[38] Ebd.

[39] Sell­ner, Mar­tin: Wie­der­vor­la­ge: Remi­gra­ti­on ist kei­ne Erfin­dung unse­rer Zeit, in: Sezes­si­on, 2024, https://​sezes​si​on​.de/​6​8​6​0​2​/​r​e​m​i​g​r​a​t​i​o​n​-​i​s​t​-​k​e​i​n​e​-​e​r​f​i​n​d​u​n​g​-​u​n​s​e​r​e​r​-​z​eit (abge­ru­fen am 30.11.2024).

[40] Wage­ner, Mar­tin: Über die Iden­ti­tä­re Bewe­gung – Ein Gespräch mit Mar­tin Sell­ner, Ber­lin: Kind­le Direct Publi­shing, 2021, S. 15.

[41] Ebd., S. 14.

[42] Sell­ner, 2024.

[43] Vgl. Ebd.

[44] Ebd.

[45] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Themen.

[46] Sell­ner, 2024.

[47] Wage­ner, 2021, S. 14.

[48] Ador­no, Theo­dor W.: Schuld und Abwehr,  in: Gesam­mel­te Schrif­ten (Bd. 9.2). Sozio­lo­gi­sche Schrif­ten II.2, Frank­furt am Main: Suhr­kamp, S. 276.

Radikale Substruktur – Wie die AfD ihre neonazistische Basis reorganisiert

Die Jun­ge Alter­na­ti­ve (JA) bie­tet und bie­dert sich den Bau­ern­pro­tes­ten vor dem Bran­den­bur­ger Tor im Janu­ar 2024 an: Sie durf­ten dort mit Sym­pa­thien rech­nen gera­de wegen ihrer boden­stän­di­gen neo­fa­schis­ti­schen Ideo­lo­gie (Foto: Burschel)

Die vom Bun­desam für Ver­fas­sungs­schutz als „gesi­chert rechts­extrem“ ein­ge­stuf­te Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on der AfD steht vor einem grund­le­gen­den Wan­del. Ver­fas­sungs­schutz-Chef Jörg Mül­ler bezeich­ne­te sie in einer Pres­se­mit­tei­lung als „Stra­ßen­trup­pe der AfD“ und als eine Gefahr für die Demo­kra­tie. Sie gilt als noch radi­ka­li­sier­ter als die Mut­ter­par­tei selbst – eine Ein­schät­zung, die zuneh­mend auch inner­halb der AfD für Span­nun­gen sorgt.[1] Als Lösungs­an­satz steht eine Umstruk­tu­rie­rung nach dem Vor­bild der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Jungsozialist*innen (Jusos) zur Debat­te. Die­se Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on der SPD ist eng in die Par­tei­struk­tur ein­ge­bun­den, was eine ein­fa­che­re Kon­trol­le und Über­prü­fung ein­zel­ner Mit­glie­der ermög­licht. Durch die­se Ände­run­gen wür­den alle AfD-Mit­glie­der unter 36 Jah­ren auto­ma­tisch Mit­glie­der der JA wer­den. Die JA, eine Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on, die sich durch dezi­diert natio­na­lis­ti­sche und ras­sis­ti­sche Rhe­to­rik aus­zeich­net, hat wie­der­holt Auf­merk­sam­keit durch ihre Radi­ka­li­tät erregt. Kritiker*innen wie die Lin­ken-Abge­ord­ne­te Mar­ti­na Ren­ner argu­men­tie­ren, dass die geplan­te Ein­glie­de­rung nicht pri­mär auf orga­ni­sa­to­ri­sche Effi­zi­enz abzielt, son­dern viel­mehr den Zweck ver­folgt, die JA-Mit­glie­der vor staat­li­chen Maß­nah­men und einem poten­zi­el­len Ver­bot zu schützen.

Ideologische Verankerung der Jungen Alternative

Die Jun­ge Alter­na­ti­ve für Deutsch­land (JA) zählt rund 2.500 Mit­glie­der und wur­de 2013 als völ­ki­sche Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on gegrün­det, die von Anfang an rechts­po­pu­lis­tisch in Erschei­nung trat und als Schar­nier zur neo­na­zis­ti­schen Rech­ten agier­te. Wie vie­le Bewe­gun­gen der Neu­en Rech­ten über­nimmt auch die JA die Inhal­te der AfD und spitzt die­se häu­fig zu. Trotz einem auf dem Bun­des­kon­gress 2016 gefass­ten Beschluss, sich von rechts­extre­mis­ti­schen Grup­pie­run­gen zu distan­zie­ren, bestehen wei­ter­hin enge Ver­bin­dun­gen etwa zur „Iden­ti­tä­ren Bewe­gung“ (IB). Trotz der soge­nann­ten „Unver­ein­bar­keits­lis­te“, nach der die AfD kei­ne Rechts­extre­men auf­neh­men dürf­te, wur­de Jan­nis Geor­ge auf­grund einer Akti­on der IB, deret­we­gen er sich vor Gericht ver­ant­wor­ten muss­te, in den Lan­des­vor­stand der JA gewählt.[2]

Auch mit der mut­maß­li­chen ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung der „Säch­si­schen Sepa­ra­tis­ten“, wel­che eine ras­sis­ti­sche, anti­se­mi­ti­sche und apo­ka­lyp­ti­sche Ideo­lo­gie pro­pa­gie­ren, gab es sei­tens der JA bereits Über­schnei­dun­gen.  Die „Säch­si­schen Sepa­ra­tis­ten“ haben die Vor­stel­lung eines „frei­en Sach­sens“, das sich von der Bun­des­re­pu­blik abspal­ten soll. Anfang Novem­ber 2024 wur­den ein AfD-Stadt­rat und wei­te­re AfD-Mit­glie­der unter dem Ver­dacht, Mit­glie­der der „Säch­si­schen Sepa­ra­tis­ten“ zu sein und sich an deren gewalt­be­rei­ten Aktio­nen zu betei­li­gen, fest­ge­nom­men. Die Mit­glie­der wur­den mitt­ler­wei­le aus der Par­tei ausgeschlossen.

Die Pro­gram­ma­tik der JA lässt sich durch eine star­ke Ori­en­tie­rung an eth­no-natio­na­lis­ti­schen und anti-plu­ra­lis­ti­schen Idea­len cha­rak­te­ri­sie­ren. Auf ihrer Web­site wer­den Aus­sa­gen wie „Deut­sche Jugend ist rechts und geht auf­recht“ und „Unser Volk zuerst“ pro­mi­nent plat­ziert. Dies offen­bart eine völ­kisch gepräg­te Welt­an­schau­ung, die mit der Idee einer offe­nen Gesell­schaft nichts zu tun hat. Sol­che Äuße­run­gen und die enge ideo­lo­gi­sche Nähe zu ande­ren faschis­ti­schen Strö­mun­gen zei­gen, dass die JA ein Sam­mel­be­cken für radi­ka­le Posi­tio­nen gewor­den ist. Die Ver­wei­ge­rung, sich dem „woken, lin­ken Zeit­geist“ zu beu­gen, wird von der JA hoch­ge­hal­ten und ist im Grund­satz­pa­pier der JA verankert.

Die Ver­stri­ckung pro­mi­nen­ter Mit­glie­der wie etwa des Bun­des­vor­sit­zen­den der JA und AfD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Han­nes Gnauck, der bereits vom Mili­tä­ri­schen Abschirm­dienst (MAD) als „Ver­dachts­fall Rechts­extre­mis­mus“ ein­ge­stuft wur­de, unter­streicht die ideo­lo­gi­sche Grund­aus­rich­tung der Organisation.

Kontrolle und Schutz

Die AfD argu­men­tiert, die Ein­glie­de­rung der JA die­ne der bes­se­ren Kon­trol­le und Inte­gra­ti­on ihrer Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on. Doch die­se Argu­men­ta­ti­on wirft eini­ge Wider­sprü­che auf: Ist es tat­säch­lich Kon­trol­le, wenn eine Par­tei ihre Struk­tur so erwei­tert, dass radi­ka­le Ele­men­te insti­tu­tio­nel­len Schutz genie­ßen? Oder han­delt es sich hier­bei um eine bewuss­te Ent­schei­dung, die den Zweck ver­folgt, ein Ver­bot der JA unmög­lich zu machen?

Der Schritt der Ein­glie­de­rung, der auf dem bevor­ste­hen­den Par­tei­tag im Janu­ar 2025 in Rie­sa beschlos­sen wer­den soll, zeigt, dass die AfD ihre Ver­ant­wor­tung nicht in der Distan­zie­rung von extre­mis­ti­schen Ten­den­zen sieht, son­dern viel­mehr im insti­tu­tio­nel­len Schutz ihrer Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on. Durch die­se Ent­schei­dung liegt nun der Ver­dacht eher noch näher, dass die AfD die Struk­tu­ren demo­kra­ti­scher Rechts­staat­lich­keit nicht als nor­ma­ti­ven Rah­men aner­kennt, son­dern als läs­ti­ges Hin­der­nis, das es stra­te­gisch zu über­win­den gilt.

Die geplan­te Inte­gra­ti­on der Jun­gen Alter­na­ti­ve in die AfD ist also mehr als ein bloß orga­ni­sa­to­ri­scher Vor­gang. Sie ist auch ein Signal: Die AfD stellt den Schutz ihrer radi­ka­len Sub­struk­tur über die Ver­ant­wor­tung für die inak­zep­ta­blen Inhal­te, die durch die­se pro­pa­giert wer­den. Damit ent­steht ein geschlos­se­nes Sys­tem, das sowohl gegen Kri­tik von außen als auch Selbst­re­fle­xi­on von innen abschirmt.

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[1] SWR Kul­tur. (Jahr, Monat Tag). Jun­ge Alter­na­ti­ve: Ein Trei­ber für die Radi­ka­li­sie­rung der AfD [Audio]. Abge­ru­fen von https://​www​.swr​.de/​s​w​r​k​u​l​t​u​r​/​l​e​b​e​n​-​u​n​d​-​g​e​s​e​l​l​s​c​h​a​f​t​/​j​u​n​g​e​-​a​l​t​e​r​n​a​t​i​v​e​-​e​i​n​-​t​r​e​i​b​e​r​-​f​u​e​r​-​d​i​e​-​r​a​d​i​k​a​l​i​s​i​e​r​u​n​g​-​d​e​r​-​a​f​d​-​1​0​0​.​h​tml

[2] „Vom Gerichts­saal in den Vor­stand: AfD-Nach­wuchs wählt rechts­extre­men Akti­vis­ten.“ Zugriff am [Datum], https://www.zvw.de/stuttgart-region/vom-gerichtssaal-in-den-vorstand-afd-nachwuchs‑w%C3%A4hlt-rechtsextremen-aktivisten_arid-883946.

Erinnern heißt kämpfen“: Die Zukunft des Strafjustizzentrums in München

Das früh­mor­gend­lich erleuch­te­te Straf­jus­tiz­zen­trum am 9. Dezem­ber 2015, dem Tag, als die NSU-Ter­ro­ris­tin erst­mals aus­sa­gen woll­te — der „Gla­mour“ der Haupt­an­ge­klag­ten trieb viel Publi­kum in den Saal A101 (Foto: Burschel)

Das Mün­che­ner Straf­jus­tiz­zen­trum ist weit mehr als ein funk­tio­na­ler Ort für juris­ti­sche Abläu­fe. Der­zeit steht es im Mit­tel­punkt einer Debat­te über sei­ne Zukunft: Soll­te es abge­ris­sen oder einer neu­en Nut­zung zuge­führt wer­den? Noch ist das Gebäu­de in Betrieb, aber sei­ne sym­bo­li­sche und his­to­ri­sche Bedeu­tung wirft die Fra­ge auf, ob und wie man die­sen Ort bewah­ren soll­te, wenn die Gerich­te wie geplant umziehen.

Es ist ein Ort, der in der Geschich­te der deut­schen Jus­tiz und ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit rech­tem Ter­ror und neo­na­zis­ti­schen Netz­wer­ken eine sym­bo­li­sche und tief­grei­fen­de Bedeu­tung erlangt hat. Über Jahr­zehn­te hin­weg war es Schau­platz bedeu­ten­der Ver­fah­ren, die nicht nur juris­tisch, son­dern auch poli­tisch und gesell­schaft­lich von größ­ter Rele­vanz waren. Dazu zäh­len unter ande­rem der Pro­zess, der die ras­sis­tisch moti­vier­te Mord­se­rie des „Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds“ (NSU) ver­han­del­te, sowie der gegen den Waf­fen­lie­fe­ran­ten des Atten­tä­ters vom Olym­pia-Ein­kaufs­zen­trum (OEZ), der im Juli 2016 neun Men­schen eben­falls aus ras­sis­ti­schen Moti­ven dort ermor­det hat.

In einer Zeit, in der rech­te Gewalt und rech­ter Ter­ror immer wie­der und immer mehr auf erschre­cken­de Wei­se in Deutsch­land zuta­ge tre­ten, rückt die Dis­kus­si­on um das Straf­jus­tiz­zen­trum in ein neu­es Licht. Im Rah­men einer Podi­ums­dis­kus­si­on, orga­ni­siert von der Initia­ti­ve „Jus­tiz­zen­trum­Er­hal­ten / Abbre­chen­Ab­bre­chen“, gin­gen die Podi­ums­gäs­te der Fra­ge nach, ob das Jus­tiz­zen­trum als Ort des Geden­kens an die hier ver­han­del­ten Gewalt­ver­bre­chen erhal­ten blei­ben soll­te, um Raum zu bie­ten für eine gesell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser Geschich­te, die­sen Geschichten.

Auf dem Panel saßen Gise­la Koll­mann, die ihren Enkel Giu­lia­no Koll­mann bei dem rech­ten Anschlag im OEZ ver­lor, Patryc­ja Kowals­ka, eine Unter­stüt­ze­rin der Initia­ti­ve „Mün­chen OEZ Erin­nern“, Fried­rich Bur­schel von der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung & NSU Watch sowie der Jour­na­list Robert Andre­asch, der für die Anti­fa­schis­ti­sche Informations‑, Doku­men­ta­ti­ons- und Archiv­stel­le Mün­chen arbei­tet. Sie alle ver­bin­det das Anlie­gen, dass die Opfer rech­ter Gewalt nicht ver­ges­sen wer­den und dass der Staat end­lich Ver­ant­wor­tung über­nimmt – sowohl für die lücken­lo­se Auf­klä­rung sol­cher Taten als auch für die Aner­ken­nung des rech­ten Ter­rors als sys­te­mi­sches Problem.

Der OEZ-Anschlag und die Kämp­fe der Angehörigen

Im Jahr 2016 ereig­ne­te sich der rechts­ter­ro­ris­ti­scher Anschlag im Mün­che­ner Olym­pia-Ein­kaufs­zen­trum. Neun Men­schen, über­wie­gend mit fami­liä­rer Migra­ti­ons­ge­schich­te, fie­len dem Anschlag zum Opfer, dar­un­ter auch Giu­lia­no Koll­mann, der damals 19-jäh­ri­ge Enkel von Gise­la Koll­mann. Der Täter, mit tief ver­wur­zel­ten ras­sis­ti­schen und völ­kisch-natio­na­len Über­zeu­gun­gen, plan­te die Tat sys­te­ma­tisch und fand dabei Unter­stüt­zung von einem Waf­fen­händ­ler, der ihn mit der Mord­waf­fe sowie „aus­rei­chend“ Muni­ti­on ver­sorg­te. Trotz offen­sicht­li­cher Hin­wei­se auf die rech­te Moti­va­ti­on, ver­har­mos­te man die Hin­ter­grün­de des Anschlags lan­ge. Die Behör­den spra­chen von einem „Amok­lauf“, nicht von rech­tem Terror.

Gise­la Koll­mann berich­tet in der Dis­kus­si­on von den Erfah­run­gen, die sie wäh­rend des Pro­zes­ses gegen den Waf­fen­händ­ler im Straf­jus­tiz­zen­trum in der Nym­phen­bur­ger­stra­ße mach­te. „Ich woll­te nur, dass er mir ein­mal in die Augen sieht, aber er konn­te es nicht“, erzählt sie. Koll­manns Erleb­nis­se im Gerichts­saal sind sym­pto­ma­tisch für die Art und Wei­se, wie staat­li­che Insti­tu­tio­nen mit den Betrof­fe­nen umge­hen: Ohne Empa­thie, ohne wirk­li­ches Ver­ständ­nis für den Schmerz und das Trau­ma, das sol­che Taten hin­ter­las­sen.  Flos­keln wie „Sie müs­sen kei­ne Angst haben, dass er ihre ande­ren Kin­der tötet“ hät­ten die­se Miß­ach­tung sehr deut­lich gemacht, sagt Gise­la Koll­mann. Die Hin­ter­blie­ben wer­den durch den Pro­zess wei­ter trau­ma­ti­siert – dies­mal durch den Staat, der sie hät­te schüt­zen und unter­stüt­zen sollen.

Die­se Erfah­run­gen sind kei­ne Ein­zel­fäl­le. Die Initia­ti­ve „Mün­chen OEZ Erin­nern“, der auch ande­re Ange­hö­ri­ge und Über­le­ben­de des Anschlags ange­hö­ren, kämpft seit Jah­ren dafür, dass der Anschlag als das aner­kannt wird, was er war: ein rechts­ter­ro­ris­ti­scher Angriff. Patryc­ja Kowals­ka, die die Initia­ti­ve unter­stützt, betont, dass die­ser Kampf nicht nur ein per­sön­li­cher ist. Es geht um das poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Bewusst­sein, dass rech­ter Ter­ror ein sys­te­ma­ti­scher Angriff auf das Leben und die Wür­de von Men­schen ist – moti­viert  durch grup­pen­be­zo­ge­nen Hass und getra­gen von rech­ter Ideologie.

Par­al­le­len zum NSU-Prozess

Auch im gigan­ti­schen, 438 Tage dau­ern­den NSU-Ver­fah­ren dort wur­den die Ange­hö­ri­gen der Opfer oft igno­riert und ihre Inter­es­sen aktiv miss­ach­tet. Der NSU, eine neo­na­zis­ti­sche Ter­ror­zel­le, war für die Mor­de an zehn Men­schen, über­wie­gend Migran­ten, ver­ant­wort­lich. Doch ähn­lich wie im OEZ-Fall wur­de auch hier lan­ge an einem Nar­ra­tiv fest­ge­hal­ten, das die Ver­ant­wor­tung des Staa­tes und die Rol­le eines hin­ter dem Kern-Trio ste­hen­den, umfang­rei­chen rech­ten Netz­werks klein­re­de­te. Die jah­re­lan­gen Ermitt­lun­gen und der anschlie­ßen­de Gerichts­pro­zess zeig­ten, wie tief struk­tu­rel­le Igno­ranz und insti­tu­tio­nel­les Ras­sis­mus ver­an­kert sind, wenn es um die Auf­klä­rung und Ver­fol­gung rech­ten Ter­rors geht.

Der NSU-Pro­zess offen­bar­te zudem, dass der NSU kei­nes­wegs iso­liert agier­te. Ein brei­tes Netz­werk von Unter­stüt­zern half der Ter­ror­grup­pe, sich jah­re­lang dem Zugriff der Behör­den zu ent­zie­hen. Beob­ach­ter des Pro­zes­ses beto­nen, dass weit über 100 Per­so­nen in die­ses Netz­werk invol­viert waren, vie­le von ihnen als akti­ve Mit­tä­ter oder Unter­stüt­zer. Trotz die­ser kla­ren Bewei­se wur­de im Pro­zess ver­sucht, die Ver­ant­wor­tung des Staa­tes und der Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den her­un­ter­zu­spie­len, die den NSU über zahl­rei­che Informant*innen in unmit­tel­ba­rer Nähe der Täter*innen und über das Geld für deren Diens­te erst über­haupt mit auf­ge­baut und unter Beob­ach­tung gehabt hät­ten, aber dann eben nicht gestoppt hätten.

Auch im NSU-Pro­zess war der Gerichts­saal geprägt von einer bedrü­cken­den Hier­ar­chie. Die 93 Nebenkläger*innen, die Fami­li­en der Opfer, die im Ver­fah­ren von mehr als 60 Rechtsanwält*innen ver­tre­ten wur­den, saßen im Saal A101 unter der Tri­bü­ne, auf der die Pres­se und die Öffent­lich­keit über ihnen thron­ten. Die­se räum­li­che Anord­nung spie­gel­te die rea­le Mar­gi­na­li­sie­rung der Opfer und ihrer Ange­hö­ri­gen wider, die um Gehör und Aner­ken­nung kämpf­ten, wäh­rend die staat­li­chen Insti­tu­tio­nen ver­such­ten die eige­nen Ver­säum­nis­se zu verdecken.

Die Bedeu­tung der Räu­me des Justizzentrums

Ange­sichts die­ser Geschich­te wird die his­to­ri­sche Bedeu­tung der Räu­me des Jus­tiz­zen­trums beson­ders deut­lich. Die­se Wän­de haben Zeu­gen­be­rich­te von Men­schen gehört, deren Fami­li­en durch rech­ten Ter­ror zer­stört wur­den. Sie haben die Bemü­hun­gen gese­hen, den Staat zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen, und zugleich das Schei­tern staat­li­cher Insti­tu­tio­nen, sich der vol­len Wahr­heit über die­se Ver­bre­chen zu stel­len. Die Pro­zes­se, die hier statt­fan­den, sind Zeug­nis­se eines fort­wäh­ren­den Kamp­fes – nicht nur gegen die Täter, son­dern auch gegen eine Gesell­schaft, die all­zu oft wegschaut.

Das Jus­tiz­zen­trum könn­te, wenn es mit einem Ort des Geden­kens — etwa im A101 — erhal­ten blie­be, all die­se Geschich­ten bewah­ren. Es wäre ein Mahn­mal, das nicht nur an die Opfer erin­ner­te, son­dern auch dar­an, wie insti­tu­tio­nel­les Ver­sa­gen rech­ten Ter­ror ermög­licht und begüns­tigt hat.

Reichsbürger“-Prozesse und die Kon­ti­nui­tät rech­ten Terrors

Nicht nur ver­gan­ge­ne Pro­zes­se sind hier von Bedeu­tung: In den glei­chen Hal­len fin­den heu­te die „Reichsbürger“-Prozesse statt.

Die „Reichs­bür­ger“, eine Bewe­gung, die die Legi­ti­mi­tät der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ablehnt und sich oft durch rech­te, anti­se­mi­ti­sche und ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sche Über­zeu­gun­gen aus­zeich­net, ste­hen der­zeit im Zen­trum zahl­rei­cher Gerichts­ver­fah­ren. Die­se Pro­zes­se, die eben­falls im Jus­tiz­zen­trum geführt wer­den, knüp­fen direkt an die Tra­di­ti­on der Aus­ein­an­der­set­zung mit rech­tem Ter­ror an. Wie schon bei den NSU-Mor­den und dem OEZ-Anschlag zeigt sich auch hier, dass rech­te Ideo­lo­gien nicht iso­liert, son­dern in Netz­wer­ken agie­ren – unter­stützt wer­den die Akteur*innen von Gleich­ge­sinn­ten, teils mit weit­rei­chen­den Ver­bin­dun­gen in gesell­schaft­li­che und staat­li­che Strukturen.

Die­se Kon­ti­nui­tät rech­ter Gewalt und ihre bedroh­li­che Prä­senz in der Gegen­wart ver­deut­li­chen, wie not­wen­dig eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der Geschich­te des Jus­tiz­zen­trums ist. Der Abriss die­ses sym­bol­träch­ti­gen Ortes wäre ein Ver­lust, der weit über das rein Archi­tek­to­ni­sche hinausgeht.

Kulturen des Verdrängens und Erinnerns — Rezension

Die­se neue Publi­ka­ti­on reiht sich in die Viel­zahl derer ein, die in den letz­ten Jah­ren zum The­ma der Nicht_Erinnerungen an die ras­sis­ti­sche Gewalt der 1990 er Jah­re erschie­nen sind. Sie fragt danach, wie die ras­sis­ti­sche Gewalt erin­nert wird, und von wem und in wel­cher Form?

«Kul­tu­ren des Ver­drän­gens und Erin­nerns» legt den Fokus auf den August 1992, als in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen ein Heim für Geflüch­te­te bela­gert und ange­grif­fen wird, eine Men­schen­men­ge zuschaut, und die Angrei­fe­rIn­nen anfeu­ert. Es geht also, und selbst das ist heu­te kaum öffent­lich sag­bar, um Gewalt, Schmerz, Leid und Trau­ma­ta, und den indi­vi­du­el­len wie den gesell­schaft­li­chen Umgang damit.

Das Buch ent­hält eine Ein­lei­tung und 14 Arti­kel, Anga­ben zu den Autor*innen des Ban­des, die Infor­ma­tio­nen zu deren Per­spek­ti­ve oder Sprech­po­si­ti­on hät­ten bie­ten kön­nen, feh­len bedau­er­li­cher­wei­se. Die His­to­ri­ke­rin Fran­ka Mau­bach plä­diert vehe­ment dafür, ras­sis­ti­sche Gewalt auch in die spe­zi­fi­sche loka­le und regio­na­le Situa­ti­on ein­zu­bet­ten und sie nicht nur als Aus­druck gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Stim­mun­gen zu ver­ste­hen. Die Tübin­ger Rechts­extre­mis­mus­for­sche­rin Tan­ja Tho­mas und Fabi­an Virch­ow wei­sen gut begrün­det dar­auf hin, dass die Erin­ne­rungs­kul­tur wei­ter­hin von der Mehr­heits­ge­sell­schaft geprägt, wenn nicht domi­niert sei. Dies füh­re unter ande­rem dazu, dass die Stim­men und Per­spek­ti­ven von Betrof­fe­nen, Opfern und Über­le­ben­den beharr­lich über­gan­gen wer­den. Oli­ver Ples­sow, Geschichts­di­dak­ti­ker und die Demo­kra­tie­päd­ago­gin Gud­run Hein­rich, bei­de von der Uni­ver­si­tät Ros­tock  skiz­zie­ren in ihren Tex­ten jeweils die Situa­ti­on in Ros­tock selbst, hin­ter­fra­gen den auch von akti­vis­ti­schen Krei­sen ange­nom­me­nen Wir­kungs­op­ti­mis­mus öffent­li­chen Geden­kens und öffent­li­cher Gedenk­zei­chen, und benen­nen die wich­ti­ge Rol­le, die loka­le und über­re­gio­na­le zivil­ge­sell­schaft­li­che Initia­ti­ven im Feld der Erin­ne­rungs­po­li­tik, und so war es auch in Ros­tock, haben. Kien Nghi Ha begreift Ros­tock als Sym­bol für insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus von Medi­en, Poli­zei, Stadt­ver­wal­tung und ande­ren, kol­lek­ti­ven Akteur*innen. Von ihnen wird lan­ge Zeit, von vie­len bis heu­te, der Begriff «Pogrom» ver­mie­den. Die anti­zi­ga­nis­ti­sche Dimen­si­on des Pogroms wird im Bei­trag von Ste­fa­nie Oster und Johann Hen­ningsen vom Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum «Lich­ten­ha­gen im Gedächt­nis» deut­lich. Sie haben betrof­fe­ne Rom*nja des Pogroms recher­chiert und so 2022 eini­ge Inter­views füh­ren (las­sen) kön­nen, vier sind hier online.

Im letz­ten Kapi­tel wer­den noch drei ande­re, wich­ti­ge Ereig­nis­se, und die damit zusam­men­hän­gen­de Erin­ne­rung, the­ma­ti­siert: Die Pogro­me in Hoyers­wer­da 1991 und in Mann­heim-Schön­au 1992 und der Brand­an­schlag auf ein Wohn­haus in Solin­gen 1993, bei dem fünf Men­schen ermor­det wer­den. Der Anschlag in Solin­gen fand am 29. Mai statt, drei Tage nach­dem im Bun­des­tag mit gro­ßer Mehr­heit die bis dahin bestehen­de Asyl­rechts­re­ge­lung abge­schafft wurde.

Die Tex­te zei­gen, dass Erin­ne­rung umkämpft ist und immer wie­der um Erin­ne­rung gerun­gen wird. Die Publi­ka­ti­on doku­men­tiert auch, dass durch das jahr­zehn­te­lan­ge, müh­sa­me Enga­ge­ment von vie­len sich etwas ver­än­dert hat, wenn auch zu lang­sam und zu wenig. Wer sich noch nicht so grund­le­gend oder umfang­reich mit der His­to­ri­sie­rung ras­sis­ti­scher Gewalt beschäf­tigt hat, wird in dem Buch viel Lesens- und Beden­kens­wer­tes fin­den. Die Spra­che ist auch nicht zu aka­de­misch. Wer sich bes­ser aus­kennt, wird jedoch auch viel Bekann­tes lesen. Die Publi­ka­ti­on ent­stand aus Akti­vi­tä­ten an der Uni­ver­si­tät Ros­tock im Som­mer 2022, sie ist hier auch open access  verfügbar.

 

Infor­ma­tio­nen zum Buch:

Gud­run Hein­rich / David Jün­ger / Oli­ver Ples­sow / Cor­ne­lia Syl­la (Hrsg.): Kul­tu­ren des Ver­drän­gens und Erin­nerns. Per­spek­ti­ven auf die ras­sis­ti­sche Gewalt in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992; Neo­fe­lis Ver­lag, Ber­lin 2024, 226 Sei­ten, 23 Euro

 

 

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(K)ein Ende in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen - 30 Jah­re Ros­tock Lichtenhagen

 

Reichsbürger vor LG München: „Grüß Gott an die Kinder Satans“

Stets sei­ner Fan-Gemein­de zuge­wandt: Reichs­bür­ger Johan­nes M. vor dem Land­ge­richt München

Der Pro­zess gegen den Reichs­bür­ger Johan­nes M., der unter ande­rem wegen der Bil­dung einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung, Volks­ver­het­zung, Nach­stel­lung sowie Anstif­tung zu Straf­ta­ten ange­klagt war, ende­te vor dem Staats­schutz­se­nat des Land­ge­richts Mün­chen mit einer Ver­ur­tei­lung zu 2 Jah­ren und 10 Mona­ten Freiheitsentzug.

Bereits beim Betre­ten des Saals wird M. von sei­nen etwa 20 Anhänger*innen emp­fan­gen, die ihn mit freu­di­gen Ges­ten und war­men Wor­ten begrü­ßen. Der Ange­klag­te, der in sei­ner Erschei­nung an einen cha­ris­ma­ti­schen Pre­di­ger erin­nert, wen­det sich durch­weg sei­ner Fan­ge­mein­de zu. Mit einer Dar­stel­lung von Jesus in den Hän­den ver­teilt er Küs­se und Grü­ße in die Men­ge – das Gericht igno­riert er dabei demons­tra­tiv und wen­det ihm den Rücken zu. Im Plä­doy­er der Ver­tre­te­rin der Gene­ral­staats­an­walt­schaft Mün­chen, Staats­an­wäl­tin Ste­fa­nie Ruf, wird die vol­le Trag­wei­te von M. Taten und deren Kon­se­quen­zen unmiss­ver­ständ­lich dargestellt.

Die BRD-Firmen

Johan­nes M. hat sich in den letz­ten Jah­ren als Kopf einer über Tele­gram orga­ni­sier­ten Grup­pe eta­bliert. Auf dem unter­des­sen gesperr­ten Account ver­brei­te­te er Ver­schwö­rungs­fan­ta­sien, die zu einer Melan­ge aus anti­se­mi­ti­schen Ideo­lo­gien, staats­feind­li­chen Posi­tio­nen wie der aus den USA stam­men­den QAnon-Erzäh­lung und Pan­de­mie­leug­nun­gen mit Christ­li­chen Ver­satz­stü­cken ver­rührt wer­den. Zen­tral ist M.s Über­zeu­gung, dass ein „zio­nis­ti­scher Plan“ auf die Ver­nich­tung des „deut­schen Vol­kes“ abzie­le und Deutsch­land seit über einem Jahr­hun­dert im Krieg lebe. Er bestrei­tet kon­se­quent die Exis­tenz der BRD und sieht damit Behör­den und staat­li­che Insti­tu­tio­nen als ille­gal an und beschul­digt sie, in pädo­kri­mi­nel­le Machen­schaf­ten ver­wi­ckelt zu sein. Auch er selbst sieht sich als Opfer und wirft dem Gericht Nöti­gung und Ver­schlep­pung durch Scher­gen der in Dela­ware (USA) regis­trier­ten aus 47.000 Pri­vat­fir­men bestehen­den BRD vor.

Institutionen als Hassobjekte

M.s Atta­cken rich­te­ten sich gegen eine Viel­zahl von Insti­tu­tio­nen. Beson­ders betrof­fen waren Arzt­pra­xen und Schu­len, die nach sei­ner Ansicht über Imp­fun­gen und Coro­na-Schutz­maß­nah­men das Wohl der Kin­der gefähr­de­ten. Aber auch Jugend­äm­ter, Polizeibeamt*innen und Mitarbeiter*innen des Gerichts, die er als kri­mi­nell und pädo­phil beschimpft, wer­den nicht ver­schont. Der Ablauf der von M. los­ge­tre­te­nen Aktio­nen war stets ähn­lich: Zunächst rief er per­sön­lich in den betref­fen­den Insti­tu­tio­nen an, hielt einen wir­ren Mono­log über die angeb­lich dort statt­fin­den­den kri­mi­nel­len Machen­schaf­ten und stieß teils direk­te Gewalt­an­dro­hun­gen und Tötungs­vor­her­sa­gen aus. Er geht davon aus, dass in naher Zeit „das Mili­tär“ unter Füh­rung des Com­man­ders in Chief, Donald J. Trump, über sei­ne Wider­sa­cher „rich­ten“ und die­se exe­ku­tie­ren wer­de — das teil­te er den zum Teil tief geschock­ten Betrof­fe­nen am Tele­fon auch so mit.

Doch bei einem ein­zi­gen Anruf bleibt es nicht. Mül­ler for­der­te anschlie­ßend stets sei­ne Anhänger*innen auf Tele­gram auf, eben­falls bei den betref­fen­den Insti­tu­tio­nen anzu­ru­fen, um dort täti­ge Per­so­nen sys­te­ma­tisch zu ter­ro­ri­sie­ren. Kon­takt­da­ten und Fotos der Opfer ver­brei­te­te er viel­fach in der Chat­grup­pe und die Auf­ru­fe zur Gewalt häuf­ten sich – wobei sich Mül­ler selbst wider­sprüch­lich stets als Pazi­fist bezeich­net hatte.

Die Herren in Schwarz“

Die lang­an­hal­ten­de Ein­schüch­te­rung durch Mül­lers Grup­pe hin­ter­ließ bei den Betrof­fe­nen tie­fe Spu­ren. Die Staats­an­wäl­tin berich­tet von trau­ma­ti­sier­ten Mit­ar­bei­ten­den in Jugend­äm­tern, die Poli­zei­schutz benö­ti­gen und kurz­zei­tig schlie­ßen muß­ten. Beschäf­tig­te trau­ten sich nicht mehr allei­ne nach Hau­se, Polizist*innen über­leg­ten, ob sie ihre Dienst­waf­fen mit­neh­men soll­ten, Ärzt*innen sahen sich gezwun­gen, ihre Pra­xen zu schlie­ßen und sich krank­schrei­ben zu las­sen. Die Angst und der psy­chi­sche Druck sind all­ge­gen­wär­tig – vie­le Opfer lei­den bis heu­te unter Schlaf­lo­sig­keit und schwe­ren Belas­tungs­re­ak­tio­nen. Nicht alle schaff­ten es, vor Gericht auszusagen.

Nach dem Plä­doy­er der Staats­an­walt­schaft, lässt der Ange­klag­te kei­ne Gele­gen­heit aus, das Gericht zu ver­un­glimp­fen. Die Staats­an­wäl­tin wird von ihm in her­ab­wür­di­gen­der Wei­se als „blon­de Tus­se“ bezeich­net, wäh­rend er das gesam­te Gericht als „pädo­kri­mi­nell“ und „ille­gi­tim“ beschimpft.

In der anschlie­ßen­den kur­zen Pau­se sam­meln sich M.s Anhän­ger, um unter­ein­an­der kol­lek­tiv ihr Unver­ständ­nis gegen­über dem Gericht kund­zu­tun. Die tie­fe Ableh­nung gegen­über der Insti­tu­ti­on Gericht und die Glo­ri­fi­zie­rung des Ange­klag­ten wer­den in die­ser Grup­pe deut­lich. Als der Pro­zess fort­ge­setzt wird, wen­det sich das Gesche­hen der Ver­tei­di­gung M.s zu.

Doch bevor sein Ver­tei­di­ger über­haupt zu spre­chen beginnt, wird die­ser von M. selbst unter­bro­chen. In einem bizar­ren Akt der Selbst­in­sze­nie­rung beschul­digt M. sei­nen Anwalt, Teil kri­mi­nel­ler Machen­schaf­ten zu sein, und erklärt offen, dass er sich von den bei­den Ver­tei­di­gern unter kei­nen Umstän­den ver­tre­ten las­sen wol­le. Er bezeich­net die Mit­glie­der des Gerichts ledig­lich als „Her­ren in Schwarz“ und ver­wei­gert jeg­li­che Aner­ken­nung der juris­ti­schen Auto­ri­tät. Statt­des­sen inter­agiert er mit Ges­ten mit sei­nen Anhänger*innen oder ver­sinkt in Gebeten.

Anwalt schweigt zur Verteidigung

Trotz Mül­lers auf­ge­brach­ter Inter­ven­ti­on ver­sucht sein Anwalt, die Ver­tei­di­gung in mil­dern­der Absicht  fort­zu­set­zen, beschränkt sich jedoch auf eini­ge Wor­te, die sich vor allem auf die juris­ti­sche Fra­ge der Bil­dung einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung kon­zen­trie­ren, deren Bil­dung der Jurist nicht zu erken­nen ver­moch­te. Jede wei­te­re inhalt­li­che Ver­tei­di­gung unter­bleibt unter die­sen Umstän­den jedoch.

Erlösungsfantasien

Im wei­te­ren Ver­lauf for­dert der Vor­sit­zen­de Rich­ter M. zu sei­nem letz­ten Wort vor der Urteils­ver­kün­dung auf. Er nutzt die­se Gele­gen­heit, um ein wei­te­res Mal sei­ne umfas­sen­de Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gie in epi­scher Brei­te dar­zu­le­gen. Er spricht davon, dass nur ein Drit­tel der Mensch­heit, die­je­ni­gen, die „auf dem rich­ti­gen Weg“ sei­en, geret­tet wer­den könn­ten, wäh­rend die übri­gen zwei Drit­tel, dar­un­ter auch der Senat, dem Gericht Got­tes anheim­fal­len wür­den. Er wen­det sich pro­vo­ka­tiv an die Pro­zess­be­tei­lig­ten: „Grüß Gott an die Kin­der Satans“.

M.s Rede mün­det schließ­lich in einem Schwall bizar­rer Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen, die ver­schie­de­ne his­to­ri­sche und aktu­el­le The­men und Per­sön­lich­kei­ten mit­ein­an­der ver­we­ben. Der „Tag des Herrn“, so pro­phe­zeit er, stün­de unmit­tel­bar bevor, eine Art End­zeit­mo­ment, der das Schick­sal der Mensch­heit besie­geln wer­de. Dabei ver­knüpft er aktu­el­le poli­ti­sche Akteu­re wie Donald Trump mit fan­tas­ti­schen Nar­ra­ti­ven über elek­tro­ma­gne­ti­sche Strah­len und gehei­me Knöp­fe. Auch Anna­le­na Baer­bock taucht in sei­nen Theo­rien auf– angeb­lich mas­kiert mit einer Sili­kon­haut. Wäh­rend die­ser ver­stö­ren­den Aus­füh­run­gen hält M. durch­ge­hend eine Bibel in der Hand, aus der er stel­len­wei­se Pas­sa­gen zitiert, um sei­ne wir­ren Theo­rien mit reli­giö­ser Beglau­bi­gung zu unter­mau­ern. M.s Rede endet, wie sie begon­nen hat: mit einem Mix aus reli­giö­sem Pathos, Bedro­hungs­sze­na­ri­en und wil­den Ver­schwö­rungs­ge­schich­ten, die das Bild eines radi­ka­li­sier­ten und unbe­re­chen­ba­ren Indi­vi­du­ums zeichnen.

Das Urteil

Als tags dar­auf das Urteil gegen M. ver­kün­det wer­den soll, rich­tet er einen wis­sen­den Blick in die Men­ge und sagt zu sei­nen Anhän­ge­rin­nen: „Man müs­se nur Gott ver­trau­en.“ Noch wäh­rend der Rich­ter das Urteil ver­liest, unter­bricht Mül­ler ihn und erklärt, der Rich­ter besie­ge­le gera­de „sein eige­nes Todesurteil“.

M. wird schließ­lich zu 2 Jah­ren und 10 Mona­ten Haft ver­ur­teilt — 14 Mona­te weni­ger als die Staats­an­walt­schaft gefor­dert hat­te. Dar­auf­hin beginnt die ver­zück­te Men­ge einen Cho­ral für und mit ihrem Hel­den anzu­stim­men. Alle Zuschauer*innen wer­den des Saa­les ver­wie­sen. Kein Publi­kum – kei­ne Büh­ne mehr — nun ging der Pro­zess, den Mül­ler bis­lang immer wie­der in die Län­ge gezo­gen hat­te, nun zügig zu Ende.

Es bleibt unklar, wie und ob sich Mül­lers Anhänger*innen in sei­ner Abwe­sen­heit wei­ter orga­ni­sie­ren wer­den. Die Fra­ge, ob die Grup­pe ohne ihren Anfüh­rer wei­ter­be­steht und mög­li­cher­wei­se auch wei­ter radi­ka­li­siert, bleibt offen.