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Vielfalt und Homogenität – Aspekte und Inkonsistenzen des Ethnopluralismusdiskurses
Mit der europaweiten Aktion Defend Europe wollte die Identitäre Bewegung 2017 die NGOs, welche im Mittelmeerraum Menschenleben retten, diffamieren und deren Arbeit als „Schlepperaktivitäten“[1] darstellen. Sieben Jahre später mietet sie im Rahmen der aktuellen Kampagne No Way – Do Not Come To Europe Werbeflächen in afrikanischen Ländern. Die Identitäre Bewegung meint, dadurch die lokale Bevölkerung aufklären (oder auch ermahnen) zu können, dass sich die gefährliche Reise nach Europa nicht lohnt.[2] Den Vorwurf des Rassismus weist die Identitäre Bewegung zurück: „Wir stehen anderen Kulturen und Völkern nicht ablehnend gegenüber. Wir verstehen die Welt als plurales Gebilde vielfältiger kultureller Entwürfe und Lebensausdrücke mit einer konkreten örtlichen Bestimmtheit und geschichtlichen Entwicklung“[3].
Dieser und ähnlichen Erklärungen der Identitären Bewegung liegt eine bestimmte Weltanschauung zu Grunde. Explizit bezieht sie sich an anderer Stelle positiv auf den Ethnopluralismus im Sinne Alain de Benoists, den Intellektuellen der Nouvelle Droite in Frankreich.[4] Im Allgemeinen bezeichnet die Idee des Ethnopluralismus Vorstellungen, die davon ausgehen, dass Menschen hinsichtlich ihrer ‚ethnisch-kulturellen‘ Gruppenzugehörigkeit ungleich sind. Im Sinne Benoists ist damit zunächst keine Ungleichwertigkeit im Sinne eines eugenischen Rassenbegriffs gemeint, sondern eine Anerkennung verschiedener Kulturen.[5] Es entsteht sogar der Eindruck, dass die Vielfalt der Kulturen im ethnopluralistischen Denken geschätzt werde.
Im Folgenden werden Aspekte und Inkonsistenzen der positiven Bezugnahme auf den Begriff des Ethnopluralismus aufgezeigt, um schließlich die Frage zu beantworten, welche politischen und praktischen Implikationen aus dem Begriff abgeleitet werden können.
Die substanzialisierte Kultur
Die Ethnie trägt nach Benoist sowohl die „Idee der Rasse als auch […] der Kultur“[6] in sich. Die Beziehung zwischen der vermeintlichen ‚Rasse‘ und der Kultur bezeichnet Benoist als eine der Potentialität.[7] Diesem Gedanken nach bildet eine ‚Rasse‘ den Boden für die (Schicksals-)Geschichte und Kultur.[8] So führt der französische Rechtsintellektuelle die verschiedenen Kulturen auf ein jeweils unterschiedliches biologistisches Fundament zurück. Die Kultur bildet somit in gewisser Weise den Überbau der Biologie.
Henning Eichberg gilt als derjenige, der den Begriff des Ethnopluralismus popularisiert und im deutschen Diskurs maßgeblich geprägt hat. In den 70er Jahren veröffentlichte der Soziologie und Historiker in der neurechten Zeitschrift Junges Forum einen Aufsatz, in dem er wie Benoist die Überzeugung vertritt, dass substanzielle Unterschiede zwischen den Kulturen hinsichtlich ihres „Verhaltens, Wahrnehmens und Denkens“[9] bestehen. Eichberg unternimmt eine Kritik an den westlichen Entwicklungshilfen, die einen „[naiv-ethnozentrisch linearen] Maßstab von hoch- bzw. unterentwickelt“[10] voraussetzen und rät dazu „auf alle Interventionen in andere Kulturen hinein zu verzichten“[11]. Jede Kultur solle seiner Ansicht nach selbstbestimmt entscheiden, wie und ob diese sich entwickeln möchte. Einem universellen Begriff der Entwicklung setzt der Ethnopluralismus dem eigenen Anspruch nach die Anerkennung jener unterschiedlichen Vorstellungen entgegen, wie die Gesellschaft organisiert werden soll.
Ebenso entsteht der Eindruck, dass es sich bei den ‚Kulturen‘ um ein abgeschlossenes Ganzes handelt. Der Mensch wird nach Benoist in einen Kulturkreis hineingeboren und findet eine bereits existierende Kultur vor. Er habe diese anzunehmen, „weil es seine Kultur ist und weil er ihr Erbe ist“[12]. Von Außenstehenden könne diese Kultur nie verstanden werden, weil diese nicht über den Zugang verfügen, wie Kulturangehörige dies tun.[13] Die Kultur ist folglich ein rigides Gebilde, das den klaren Blick nach außen nicht ermöglicht. Von Hajo Funke wird dieses Verständnis als eine „Substanzialisierung von Kultur“[14] bezeichnet. Anders als Benoist meint, existieren Kulturen aber nicht als Monolithen im luftleeren Raum. Kulturen sind im stetigen Wandel begriffen. Ihnen liegt eine Dynamik zugrunde, weil diese im Verlaufe der Zeit von unterschiedlichen Menschen, sowohl von innerhalb, als auch von außerhalb, geprägt worden sind und geprägt werden. Ebenso erleben Menschen in multikulturellen Kontexten, wie etwa im bilingualen Aufwachsen unterschiedliche Kulturen, die sich vermischen können. Insofern lassen sich diese auch nicht fein säuberlich voneinander trennen, kategorisieren und den einzelnen Menschen zuordnen. Benoist jedoch behauptet eine natürlich Verbindung des einzelnen Menschen zu seiner Kultur. Menschen sollen sich für die Kultur entscheiden und für diese einstehen, die ihrer ‚ethnischen‘ Herkunft, ihrem Aussehen nach entspricht.
In seinem 2023 erschienenen Werk Wir und die Anderen operiert Benoist eher mit dem Begriff der Identität als dem der Ethnie. Die deutsche Identitäre Bewegung beruft sich explizit auf dieses Werk und bezeichnet Identität als Resultat von unterschiedlichen kollektiven und individuellen Faktoren, wobei letzteres auch die „Marker der ethnokulturellen Identität enthalten“[15]. Ziel der Bewegung sei es, die Identität des deutschen Volkes zu bewahren, ohne die Existenz anderer Völker zu negieren. Benoist meint ebenfalls, dass die eigene Kultur gefördert und verteidigt werden könne, ohne dass andere Menschen verachtet werden müssen.[16] Wieso muss aber die eigene Kultur verteidigt werden und was ist damit gemeint?
Der Universalismus als Bedrohung
Der ethische Universalismus vereint alles Menschliche unter allgemeingültigen Prinzipien. Eine solche Vorstellung liegt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zugrunde. Artikel 2 besagt, dass allen Menschen die in der Erklärung enthaltenen Rechte und Freiheiten unabhängig von den ihnen zugeschriebenen oder angeborenen Merkmalen zustehen.[17] Benoist erkennt den einzelnen Menschen als Individuum jedoch nicht an, sondern subsumiert diesen unter seine ‚Kultur‘. Es gebe „nur Kulturen [gibt], die alle ihre eigenen Merkmale und ihre eigenen Gesetze haben“[18]. An die Stelle eines Universalismus setzt Benoist einen allgemeinen Relativismus. Diese Besonderheiten der unterschiedlichen Kulturen seien durch den universellen Anspruch allgemeingültiger Prinzipien bedroht. Dagegen formuliert Benoist die These, dass „das Pflegen des kollektiven Ichs vielleicht das beste Mittel ist, einen Beitrag zum Universellen zu leisten“[19]. Hier verwickelt sich Benoist in einen Selbstwiderspruch: entgegen seiner Ablehnung eines jeden Universalismus vertritt er einen neuen, wenn er die Unterwerfung unter die Kultur als ein allgemeingültiges Prinzip fordert. Doch es bleibt nicht bei einer nüchternen Ablehnung: der Universalismus kommt dem Rassismus gleich, da beide totalisierend sind und so jegliche Unterschiede zwischen Völkern bestreiten.[20] Dass der Rassismus Andersartigkeiten erst produziert und potenziert, negiert er.
Die deutsche Identitäre Bewegung schließt sich ebenfalls der Kritik Benoists an, dass der Universalismus eine Unterdrückungsideologie ist.[21] Sie sieht den „Globalismus“[22] als den Hauptgrund dafür an, dass die Verschiedenheiten zwischen den Völkern und Kulturen aufgehoben werden.[23] Dieser verdränge die Bedeutung der regionalen Identität zugunsten der Vorstellung einer universellen Menschheit. Benoist betont ebenfalls, dass der Universalismus „häufig lediglich die Maske für uneingestandene Beherrschungspraktiken war“[24].
Henning Eichberg hingegen formuliert eine merkwürdige Kapitalismuskritik. Seiner Ansicht nach ist die Xenophobie Resultat des Kapitalismus, welcher durch seine leistungszentrierten Anforderungen die Arbeitenden in existenzieller Angst zurücklässt. Diese Angst wird zur Projektionsfläche für den Hass gegen ihnen fremde Menschen. Gleichzeitig behauptet er, dass die Deutschen sich selbst nicht als ‚Volk‘ anerkennen würden.[25] Eichberg scheint es nicht in den Sinn zu kommen, dass der Fremdenhass die eigene Anerkennung als ‚Volk‘ voraussetzt. Der Hass auf fremde Menschen kann gerade als die Folge der Auffassung eines ‚deutschen Volkes‘ verstanden werden. In diesem Falle existiert ein deutsches Volksverständnis – es ist jedoch ein rassistisches.
Vielfalt und Homogenität
„Die Vielfalt [der Kulturen] ist etwas Gutes, denn jeder wahre Reichtum beruht auf ihr“[26]. Mit diesen Worten möchte Benoist betonen, dass die Verschiedenheiten zwischen den Kulturen zu wertschätzen sind und suggeriert Toleranz. Gleichzeitig schreibt er in Kulturrevolution von rechts, dass bei zunehmender Einwanderung Gruppen mit unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Identitäten „Kulturverlust“[27], Ausgrenzung sowie einen Anstieg an Kriminalität erfahren. Ebenfalls könne „Rassenvermischung“[28] zu einem Verlust der Kultur führen, kritisiert Benoist. Der französische Rechtsintellektuelle konstatier, dass die Vielfalt der Kulturen anzuerkennen und wertzuschätzen ist, diese sollten möglichst getrennt voneinander existieren. Er spricht gar von einer „wechselseitigen Entkolonisation“[29]. Benoist relativiert damit das historische Verbrechen des Kolonialismus durch das vemeintlich vergleichbare Übel einer mulitkulturellen Gesellschaft. Diese Relativierung liegt eine rassistische Vorstellung von gesellschaftlicher Homogenität zu Grunde. Kulturen gehören voneinander entzerrt und segregiert, da sich diese andernfalls gegenseitig schaden und jeweils von der eigenen Identität entfremden können. Die Vielfalt wird von Benoist nur aus der Ferne gewürdigt – im besten Falle interagiert man gar nicht mit dieser und verbleibt in der eigenen Homogenität.
Zugunsten der Homogenität sprach sich auch Carl Schmitt aus. Das Fremde wird als Bedrohung beschrieben, welche durch die Demokratie als homogene Entität ausgelöscht werden soll.[30] Schmitt meint, dass sich auch dann noch von einer Demokratie sprechen lässt, wenn eine Gruppe ausgeschlossen ist.[31] Diese Homogenität wird innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens angestrebt. In Rückbesinnung auf die Kernidee des Ethnopluralismus gibt es dann nach Schmitt auch keine universalistische Staatenwelt, sondern ein „Pluriversum“[32]. Im Gegensatz zu Schmitts Bezugnahme auf den neuzeitlichen Nationalstaat bezeichnet Benoist die Idee von innerstaatlicher Homogenität hinsichtlich ‚ethno-kultureller‘ Aspekte als eine illusorische Vorstellung. Ihm zufolge solle sich die kollektive Identität regional beschränken, da sich auf dieser Ebene Menschen finden, die tatsächlich mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben.[33]
Die Vorstellung, Homogenität auf nationalstaatlicher Ebene herzustellen, lehnt Eichberg ebenfalls ab und plädiert für die Akzeptanz von unterschiedlichen ‚Stämmen‘ innerhalb eines Staatengebildes.[34] Benoist und Eichberg stellen sich gegen die Idee eines völkischen Nationalismus, betrachten aber Kulturen als voneinander getrennt existierende Entitäten – wenn auch innerhalb gleicher Staatsgrenzen.
Pierre Krebs ist der Leiter des sogenannten Thule-Seminars, welches nach eigener Aussage eine „Forschungs- und Lehrgemeinschaft für die indo-europäische Kultur“[35]ist. Er verknüpft die Identität ebenfalls nicht mit dem Nationalstaat, sondern weitet diese auf ganz Europa aus. Sich dieser Identität anzunehmen, bedeutet für ihn auch „die Bewahrung der Unterschiede und die kulturelle Autonomie der europäischen Minderheiten“[36] ernst zu nehmen. Krebs bezieht sich allerdings dezidiert nicht auf den Begriff des Ethnopluralismus, den er als veraltet betrachtet. Eher verwendet er den Begriff des „europäischen Ethnobewusstseins“[37]. Nach Krebs‘ Vorstellung bedeutet dies die Überwindung der „[zerstörenden] Assimilation fremder Ethnien […] und die ganz natürliche und überall verständliche Rückkehr der Immigranten in das Land ihrer Vorfahren“[38]. Was Krebs als eine Natürlichkeit darstellt, bedeutet in praktischer Konsequenz die Zwangsumsiedlung von Millionen von Menschen, die nicht dem pseudowissenschaftlichen Bild eines Europäers entsprechen.
Remigration als eine Konsequenz des Ethnopluralismus
Während rechtsintellektuelle Vordenker wie Benoist und Eichberg die Idee einer Massenausweisung ablehnen, wird diese etwa von Pierre Krebs oder Martin Sellner, dem bekanntesten Gesicht der Identitären Bewegung Deutschlands und Österreichs, gefordert. Sellner bezieht sich in einem Interview positiv auf den Begriff des Ethnopluralismus und betont dabei das Selbstbestimmungsrecht der ‚Völker‘ und Kulturen. Sellner tritt für „Massenrückführungen“[39] als Teil einer durch Selbstbestimmung gerechtfertigten Migrationspolitik ein. So können seiner Ansicht nach Menschen anderer Herkunft außer Landes verwiesen werden, wenn das ‚einheimische‘ Volk befindet, dass „die wirtschaftlichen und kulturellen Kapazitätsgrenzen unserer Aufnahme- und Assimilationsfähigkeit“[40] ausgeschöpft seien. Dies bedeutet, dass Migrant_innen und Menschen mit Migrationshintergrund der reinen Willkür einer bestimmten Bevölkerungsgruppe ausgeliefert sind.
Der Staat solle Sellner zufolge die ‚ethnisch-kulturelle‘ Identität schützen, da diese für eine Demokratie unabdingbar sei. Er spricht selbst von einem „monokulturellen [Staat]“[41]. Damit knüpft Sellner an Carl Schmitts Demokratieverständnis an, welcher, wie zuvor erwähnt, ebenfalls auf innerstaatliche Homogenität abzielt – auch unter Anwendung von Gewalt. In einem Beitrag für Sezession im Netz, dessen verantwortlicher Redakteur Götz Kubitschek ist, führt Sellner mehrere historische Beispiele für „Remigration“[42] an, offenbar mit der Absicht, dieses Vorhaben zu normalisieren. Er bestreitet, dass die Deportation von zahlreichen Menschen mit den Menschenrechten oder der Verfassung konfligieren würden.[43] Zur Gruppe der auszuweisenden Menschen zählt Sellner ‚Asylbetrüger‘ und Menschen ohne deutscher Staatsbürgerschaft, „die eine kulturelle, wirtschaftliche und kriminologische Belastung darstellen“[44]. Ebenfalls ausgewiesen werden sollen jene Menschen, die sich auf Dauer nicht einer ‚Leitkultur‘ im Land anpassen. Diese Leitkultur sei Ausdruck der ‚ethnisch-kulturellen‘ Identität innerhalb nationalstaatlicher Grenzen. Wer gut assimiliert ist, das entscheidet derjenige, der ein ‚Erbe‘ der ‚Ethnie‘ sei. Die deutsche Identitäre Bewegung fordert, dass das Staatsbürgerschaftsrecht an die Herkunft geknüpft werden sollte.[45]
Im Januar 2024 berichtete das Investigativportal Correctiv von einem geheimen Treffen zwischen Rechtsextremen — unter den Anwesenden waren unter anderem Politiker_innen der Werteunion sowie der AfD und Martin Sellner. Zentraler Inhalt dieses Treffen waren Pläne zur „Remigration“. Diese Reportage löste einen öffentlichen Aufschrei aus, gefolgt von zahlreichen Demonstrationen in ganz Deutschland. Martin Sellner zieht daraus andere Schlüsse: „Mit dieser symbolischen und theoretischen Schwungmasse kann die Vision der Remigration den Graben überspringen und in der Mitte der Gesellschaft landen“[46].
Schluss
Der Begriff des Ethnopluralismus beruft sich in einem basalen Sinne auf die Anerkennung der Ungleichheit der Kulturen, ohne diese abzuwerten. Die Kultur wird essentialisiert und biologisiert, indem sie an den Begriff der ‚Ethnie‘ oder gar der ‚Rasse‘ geknüpft wird. Die Vorstellung, dass jede Kultur ihrer eigenen Logik folgt und demnach keine Vergleichbarkeit möglich ist, verunmöglicht jedes universalistische Prinzip. Der Universalismus erkenne die Unterschiede der Kulturen nicht an und sei durch diese Negation der Vielfalt unterdrückerisch. Ebenso bestehe die Gefahr, dass sich die Kulturen gegenseitig überfremden, weshalb diese möglichst getrennt voneinander existieren müssen. Obwohl Alain de Benoist und Henning Eichberg die Massenausweisung von Menschen anderer Herkunft ablehnen, streben Pierre Krebs und Martin Sellner mit der Identitären Bewegung die Zwangsdeportation zahlreicher Menschen zugunsten einer „monokulturellen“[47] Gesellschaft an. Der Ethnopluralismus ist anschlussfähige für völkisch-nationalistisches Gedankengut und wird als relativ loses theoretisches Konzept von rechtsradikalen Akteuren als Grundlage herangezogen, um die Deutungshoheit darüber auszuüben, wie und welche Menschen zusammenleben sollen. In diesem Sinne ist die Kultur als Bezugspunkt anstelle der ‚Rasse‘ „ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“[48].
Vielen Dank an das antifaschistische pressearchiv und bildungszentrum berlin e.V. (apabiz) für die Bereitstellung der Materialien.
Literaturverzeichnis:
Adorno, Theodor W.: Schuld und Abwehr, in: Gesammelte Schriften (Bd. 9.2). Soziologische Schriften II.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Benoist, Alain d.: Wir und die anderen, Berlin: Junge Freiheit, 2008.
Eichberg, Henning: Ethnopluralismus. Eine Kritik des naiven Ethnozentrismus und der Entwicklungshilfe, in: Junges Forum, Nr. 5, 1973, S. 3–12.
Eichberg, Henning: Das gute Volk: Über multikulturelles Miteinander, in: Ästhetik & Kommunikation, Jg. 23, Nr. 84, 1994,S. 76–82.
Funke, Hajo: Rechtsextreme Ideologien, strategische Orientierungen und Gewalt, in: Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S. 21–44.
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Identitäre Bewegung: „No Way – Do not come to Europe“ – Identitäre Aufklärungskampagne in Afrika gestartet, in: Identitäre Bewegung, https://www.identitaere-bewegung.de/neuigkeiten/no-way-do-not-come-to-europe-identitaere-aufklaerungskampagne-in-afrika-gestartet/ (abgerufen am 29.11.2024).
Identitäre Bewegung: Themen, in: Identitäre Bewegung, o.D., https://www.identitaere-bewegung.de/themen/#globalismus (abgerufen am 30.11.2024).
Krause, Peter: Einwanderung bedroht unsere kollektive Identität nicht. Alain de Benoist, Vordenker der Neuen Rechten in Frankreich, über Rassismus und Antirassismus, Ideologien und Fremdenfeindlichkeit, Berlin: Junge Freiheit, 1998.
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Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, 9. korrigierte Auflage, Berlin: Duncker & Humblot, 2015.
Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 10. Auflage, Berlin: Duncker & Humblot, 2017.
Sellner, Martin: Wiedervorlage: Remigration ist keine Erfindung unserer Zeit, in: Sezession, 2024, https://sezession.de/68602/remigration-ist-keine-erfindung-unserer-zeit (abgerufen am 30.11.2024).
Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in: Vereinte Nationen, 1948, https://unric.org/de/allgemeine-erklaerung-menschenrechte/ (abgerufen am 30.11.2024).
Wagener, Martin: Über die Identitäre Bewegung – Ein Gespräch mit Martin Sellner, Berlin: Kindle Direct Publishing, 2021, S. 15.
[1] Identitäre Bewegung: Unsere Mission. Die patriotische Wende, in: Identitäre Bewegung, o.D., https://www.identitaere-bewegung.de/mission/ (abgerufen am 29.11.2024).
[2] Vgl. Identitäre Bewegung: „No Way – Do not come to Europe“ – Identitäre Aufklärungskampagne in Afrika gestartet, in: Identitäre Bewegung, o.D., https://www.identitaere-bewegung.de/neuigkeiten/no-way-do-not-come-to-europe-identitaere-aufklaerungskampagne-in-afrika-gestartet/ (abgerufen am 29.11.2024).
[3] Identitäre Bewegung.
[4] Vgl. Identitäre Bewegung: Skandalisierung ohne Skandal, in: Identitäre Bewegung, 2016, https://www.identitaere-bewegung.de/neuigkeiten/skandalisierung-ohne-skandal/ (abgerufen am 29.11.2024).
[5] Vgl. Benoist, Alain d.: Wir und die anderen, Berlin: Junge Freiheit, 2008, S.60.
[6] Benoist, Alain d.: Kulturrevolution von rechts, Krefeld: Sinus, 1985, S. 57.
[7] Vgl. Ebd.
[8] Vgl. Ebd. S. 55.
[9] Eichberg, Henning: Ethnopluralismus. Eine Kritik des naiven Ethnozentrismus und der Entwicklungshilfe, in: Junges Forum, Nr. 5, 1973, S. 6.
[10] Ebd. S. 4.
[11] Ebd. S. 10.
[12] Benoist, 1985, S. 61.
[13] Vgl. Ebd. S. 55.
[14] Funke, Hajo: Rechtsextreme Ideologien, strategische Orientierungen und Gewalt, in: Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S. 25.
[15] Identitäre Bewegung: Mission.
[16] Vgl. Benoist, 1985, S. 61.
[17] Vgl. Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in: Vereinte Nationen, 1948, https://unric.org/de/allgemeine-erklaerung-menschenrechte/ (abgerufen am 30.11.2024).
[18] Benoist, Alain d.: Gleichheitslehre, Weltanschauung und Moral; die Auseinandersetzung von Nominalismus und Universalismus, in: Pierre Krebs (Hrsg.), Das unvergängliche Erbe. Alternativen zum Prinzip der Gleicheit, Tübingen: Grabert, 1981, S. 87.
[19] Benoist, 1985, S. 61.
[20] Krause, Peter: Einwanderung bedroht unsere kollektive Identität nicht. Alain de Benoist, Vordenker der Neuen Rechten in Frankreich, über Rassismus und Antirassismus, Ideologien und Fremdenfeindlichkeit, Berlin: Junge Freiheit, 1998, S. 3.
[21] Vgl. Identitäre Bewegung: Themen, in: Identitäre Bewegung, o.D., https://www.identitaere-bewegung.de/themen/#globalismus (abgerufen am 30.11.2024).
[22] Ebd.
[23] Vgl. Identitäre Bewegung: Mission.
[24] Benoist, 2008, S. 63.
[25] Vgl. Eichberg, Henning: Das gute Volk: Über multikulturelles Miteinander, in: Ästhetik & Kommunikation, Jg. 23, Nr. 84, 1994,S. 79–82.
[26] Benoist, 1981, S.87.
[27] Benoist, 1985, S. 65.
[28] Ebd., S.64.
[29] Ebd., S. 67.
[30] Vgl. Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 10. Auflage, Berlin: Duncker & Humblot, 2017, S. 14.
[31] Ebd., S. 15.
[32] Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, 9. korrigierte Auflage, Berlin: Duncker & Humblot, 2015, S.50.
[33] Vgl. Krause, 1998, S. 4.
[34] Vgl. Eichberg, 1994, S. 81.
[35] Krebs, Pierre: Wofür wir kämpfen, In: ahnenrad.org – Die Geistesgegenwart der Zukunft, 2020, https://ahnenrad.org/2020/05/16/wofuer-wir-kaempfen/ (abgerufen am 30.11.2024).
[36] Ebd.
[37] Ebd.
[38] Ebd.
[39] Sellner, Martin: Wiedervorlage: Remigration ist keine Erfindung unserer Zeit, in: Sezession, 2024, https://sezession.de/68602/remigration-ist-keine-erfindung-unserer-zeit (abgerufen am 30.11.2024).
[40] Wagener, Martin: Über die Identitäre Bewegung – Ein Gespräch mit Martin Sellner, Berlin: Kindle Direct Publishing, 2021, S. 15.
[41] Ebd., S. 14.
[42] Sellner, 2024.
[43] Vgl. Ebd.
[44] Ebd.
[45] Vgl. Identitäre Bewegung: Themen.
[46] Sellner, 2024.
[47] Wagener, 2021, S. 14.
[48] Adorno, Theodor W.: Schuld und Abwehr, in: Gesammelte Schriften (Bd. 9.2). Soziologische Schriften II.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 276.
Radikale Substruktur – Wie die AfD ihre neonazistische Basis reorganisiert
Die vom Bundesam für Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestufte Jugendorganisation der AfD steht vor einem grundlegenden Wandel. Verfassungsschutz-Chef Jörg Müller bezeichnete sie in einer Pressemitteilung als „Straßentruppe der AfD“ und als eine Gefahr für die Demokratie. Sie gilt als noch radikalisierter als die Mutterpartei selbst – eine Einschätzung, die zunehmend auch innerhalb der AfD für Spannungen sorgt.[1] Als Lösungsansatz steht eine Umstrukturierung nach dem Vorbild der sozialdemokratischen Jungsozialist*innen (Jusos) zur Debatte. Diese Jugendorganisation der SPD ist eng in die Parteistruktur eingebunden, was eine einfachere Kontrolle und Überprüfung einzelner Mitglieder ermöglicht. Durch diese Änderungen würden alle AfD-Mitglieder unter 36 Jahren automatisch Mitglieder der JA werden. Die JA, eine Jugendorganisation, die sich durch dezidiert nationalistische und rassistische Rhetorik auszeichnet, hat wiederholt Aufmerksamkeit durch ihre Radikalität erregt. Kritiker*innen wie die Linken-Abgeordnete Martina Renner argumentieren, dass die geplante Eingliederung nicht primär auf organisatorische Effizienz abzielt, sondern vielmehr den Zweck verfolgt, die JA-Mitglieder vor staatlichen Maßnahmen und einem potenziellen Verbot zu schützen.
Ideologische Verankerung der Jungen Alternative
Die Junge Alternative für Deutschland (JA) zählt rund 2.500 Mitglieder und wurde 2013 als völkische Jugendorganisation gegründet, die von Anfang an rechtspopulistisch in Erscheinung trat und als Scharnier zur neonazistischen Rechten agierte. Wie viele Bewegungen der Neuen Rechten übernimmt auch die JA die Inhalte der AfD und spitzt diese häufig zu. Trotz einem auf dem Bundeskongress 2016 gefassten Beschluss, sich von rechtsextremistischen Gruppierungen zu distanzieren, bestehen weiterhin enge Verbindungen etwa zur „Identitären Bewegung“ (IB). Trotz der sogenannten „Unvereinbarkeitsliste“, nach der die AfD keine Rechtsextremen aufnehmen dürfte, wurde Jannis George aufgrund einer Aktion der IB, deretwegen er sich vor Gericht verantworten musste, in den Landesvorstand der JA gewählt.[2]
Auch mit der mutmaßlichen terroristischen Vereinigung der „Sächsischen Separatisten“, welche eine rassistische, antisemitische und apokalyptische Ideologie propagieren, gab es seitens der JA bereits Überschneidungen. Die „Sächsischen Separatisten“ haben die Vorstellung eines „freien Sachsens“, das sich von der Bundesrepublik abspalten soll. Anfang November 2024 wurden ein AfD-Stadtrat und weitere AfD-Mitglieder unter dem Verdacht, Mitglieder der „Sächsischen Separatisten“ zu sein und sich an deren gewaltbereiten Aktionen zu beteiligen, festgenommen. Die Mitglieder wurden mittlerweile aus der Partei ausgeschlossen.
Die Programmatik der JA lässt sich durch eine starke Orientierung an ethno-nationalistischen und anti-pluralistischen Idealen charakterisieren. Auf ihrer Website werden Aussagen wie „Deutsche Jugend ist rechts und geht aufrecht“ und „Unser Volk zuerst“ prominent platziert. Dies offenbart eine völkisch geprägte Weltanschauung, die mit der Idee einer offenen Gesellschaft nichts zu tun hat. Solche Äußerungen und die enge ideologische Nähe zu anderen faschistischen Strömungen zeigen, dass die JA ein Sammelbecken für radikale Positionen geworden ist. Die Verweigerung, sich dem „woken, linken Zeitgeist“ zu beugen, wird von der JA hochgehalten und ist im Grundsatzpapier der JA verankert.
Die Verstrickung prominenter Mitglieder wie etwa des Bundesvorsitzenden der JA und AfD-Bundestagsabgeordneten Hannes Gnauck, der bereits vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) als „Verdachtsfall Rechtsextremismus“ eingestuft wurde, unterstreicht die ideologische Grundausrichtung der Organisation.
Kontrolle und Schutz
Die AfD argumentiert, die Eingliederung der JA diene der besseren Kontrolle und Integration ihrer Jugendorganisation. Doch diese Argumentation wirft einige Widersprüche auf: Ist es tatsächlich Kontrolle, wenn eine Partei ihre Struktur so erweitert, dass radikale Elemente institutionellen Schutz genießen? Oder handelt es sich hierbei um eine bewusste Entscheidung, die den Zweck verfolgt, ein Verbot der JA unmöglich zu machen?
Der Schritt der Eingliederung, der auf dem bevorstehenden Parteitag im Januar 2025 in Riesa beschlossen werden soll, zeigt, dass die AfD ihre Verantwortung nicht in der Distanzierung von extremistischen Tendenzen sieht, sondern vielmehr im institutionellen Schutz ihrer Jugendorganisation. Durch diese Entscheidung liegt nun der Verdacht eher noch näher, dass die AfD die Strukturen demokratischer Rechtsstaatlichkeit nicht als normativen Rahmen anerkennt, sondern als lästiges Hindernis, das es strategisch zu überwinden gilt.
Die geplante Integration der Jungen Alternative in die AfD ist also mehr als ein bloß organisatorischer Vorgang. Sie ist auch ein Signal: Die AfD stellt den Schutz ihrer radikalen Substruktur über die Verantwortung für die inakzeptablen Inhalte, die durch diese propagiert werden. Damit entsteht ein geschlossenes System, das sowohl gegen Kritik von außen als auch Selbstreflexion von innen abschirmt.
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[1] SWR Kultur. (Jahr, Monat Tag). Junge Alternative: Ein Treiber für die Radikalisierung der AfD [Audio]. Abgerufen von https://www.swr.de/swrkultur/leben-und-gesellschaft/junge-alternative-ein-treiber-fuer-die-radikalisierung-der-afd-100.html
[2] „Vom Gerichtssaal in den Vorstand: AfD-Nachwuchs wählt rechtsextremen Aktivisten.“ Zugriff am [Datum], https://www.zvw.de/stuttgart-region/vom-gerichtssaal-in-den-vorstand-afd-nachwuchs‑w%C3%A4hlt-rechtsextremen-aktivisten_arid-883946.
„Erinnern heißt kämpfen“: Die Zukunft des Strafjustizzentrums in München
Das Münchener Strafjustizzentrum ist weit mehr als ein funktionaler Ort für juristische Abläufe. Derzeit steht es im Mittelpunkt einer Debatte über seine Zukunft: Sollte es abgerissen oder einer neuen Nutzung zugeführt werden? Noch ist das Gebäude in Betrieb, aber seine symbolische und historische Bedeutung wirft die Frage auf, ob und wie man diesen Ort bewahren sollte, wenn die Gerichte wie geplant umziehen.
Es ist ein Ort, der in der Geschichte der deutschen Justiz und ihrer Auseinandersetzung mit rechtem Terror und neonazistischen Netzwerken eine symbolische und tiefgreifende Bedeutung erlangt hat. Über Jahrzehnte hinweg war es Schauplatz bedeutender Verfahren, die nicht nur juristisch, sondern auch politisch und gesellschaftlich von größter Relevanz waren. Dazu zählen unter anderem der Prozess, der die rassistisch motivierte Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) verhandelte, sowie der gegen den Waffenlieferanten des Attentäters vom Olympia-Einkaufszentrum (OEZ), der im Juli 2016 neun Menschen ebenfalls aus rassistischen Motiven dort ermordet hat.
In einer Zeit, in der rechte Gewalt und rechter Terror immer wieder und immer mehr auf erschreckende Weise in Deutschland zutage treten, rückt die Diskussion um das Strafjustizzentrum in ein neues Licht. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion, organisiert von der Initiative „JustizzentrumErhalten / AbbrechenAbbrechen“, gingen die Podiumsgäste der Frage nach, ob das Justizzentrum als Ort des Gedenkens an die hier verhandelten Gewaltverbrechen erhalten bleiben sollte, um Raum zu bieten für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Geschichte, diesen Geschichten.
Auf dem Panel saßen Gisela Kollmann, die ihren Enkel Giuliano Kollmann bei dem rechten Anschlag im OEZ verlor, Patrycja Kowalska, eine Unterstützerin der Initiative „München OEZ Erinnern“, Friedrich Burschel von der Rosa-Luxemburg-Stiftung & NSU Watch sowie der Journalist Robert Andreasch, der für die Antifaschistische Informations‑, Dokumentations- und Archivstelle München arbeitet. Sie alle verbindet das Anliegen, dass die Opfer rechter Gewalt nicht vergessen werden und dass der Staat endlich Verantwortung übernimmt – sowohl für die lückenlose Aufklärung solcher Taten als auch für die Anerkennung des rechten Terrors als systemisches Problem.
Der OEZ-Anschlag und die Kämpfe der Angehörigen
Im Jahr 2016 ereignete sich der rechtsterroristischer Anschlag im Münchener Olympia-Einkaufszentrum. Neun Menschen, überwiegend mit familiärer Migrationsgeschichte, fielen dem Anschlag zum Opfer, darunter auch Giuliano Kollmann, der damals 19-jährige Enkel von Gisela Kollmann. Der Täter, mit tief verwurzelten rassistischen und völkisch-nationalen Überzeugungen, plante die Tat systematisch und fand dabei Unterstützung von einem Waffenhändler, der ihn mit der Mordwaffe sowie „ausreichend“ Munition versorgte. Trotz offensichtlicher Hinweise auf die rechte Motivation, verharmoste man die Hintergründe des Anschlags lange. Die Behörden sprachen von einem „Amoklauf“, nicht von rechtem Terror.
Gisela Kollmann berichtet in der Diskussion von den Erfahrungen, die sie während des Prozesses gegen den Waffenhändler im Strafjustizzentrum in der Nymphenburgerstraße machte. „Ich wollte nur, dass er mir einmal in die Augen sieht, aber er konnte es nicht“, erzählt sie. Kollmanns Erlebnisse im Gerichtssaal sind symptomatisch für die Art und Weise, wie staatliche Institutionen mit den Betroffenen umgehen: Ohne Empathie, ohne wirkliches Verständnis für den Schmerz und das Trauma, das solche Taten hinterlassen. Floskeln wie „Sie müssen keine Angst haben, dass er ihre anderen Kinder tötet“ hätten diese Mißachtung sehr deutlich gemacht, sagt Gisela Kollmann. Die Hinterblieben werden durch den Prozess weiter traumatisiert – diesmal durch den Staat, der sie hätte schützen und unterstützen sollen.
Diese Erfahrungen sind keine Einzelfälle. Die Initiative „München OEZ Erinnern“, der auch andere Angehörige und Überlebende des Anschlags angehören, kämpft seit Jahren dafür, dass der Anschlag als das anerkannt wird, was er war: ein rechtsterroristischer Angriff. Patrycja Kowalska, die die Initiative unterstützt, betont, dass dieser Kampf nicht nur ein persönlicher ist. Es geht um das politische und gesellschaftliche Bewusstsein, dass rechter Terror ein systematischer Angriff auf das Leben und die Würde von Menschen ist – motiviert durch gruppenbezogenen Hass und getragen von rechter Ideologie.
Parallelen zum NSU-Prozess
Auch im gigantischen, 438 Tage dauernden NSU-Verfahren dort wurden die Angehörigen der Opfer oft ignoriert und ihre Interessen aktiv missachtet. Der NSU, eine neonazistische Terrorzelle, war für die Morde an zehn Menschen, überwiegend Migranten, verantwortlich. Doch ähnlich wie im OEZ-Fall wurde auch hier lange an einem Narrativ festgehalten, das die Verantwortung des Staates und die Rolle eines hinter dem Kern-Trio stehenden, umfangreichen rechten Netzwerks kleinredete. Die jahrelangen Ermittlungen und der anschließende Gerichtsprozess zeigten, wie tief strukturelle Ignoranz und institutionelles Rassismus verankert sind, wenn es um die Aufklärung und Verfolgung rechten Terrors geht.
Der NSU-Prozess offenbarte zudem, dass der NSU keineswegs isoliert agierte. Ein breites Netzwerk von Unterstützern half der Terrorgruppe, sich jahrelang dem Zugriff der Behörden zu entziehen. Beobachter des Prozesses betonen, dass weit über 100 Personen in dieses Netzwerk involviert waren, viele von ihnen als aktive Mittäter oder Unterstützer. Trotz dieser klaren Beweise wurde im Prozess versucht, die Verantwortung des Staates und der Verfassungsschutzbehörden herunterzuspielen, die den NSU über zahlreiche Informant*innen in unmittelbarer Nähe der Täter*innen und über das Geld für deren Dienste erst überhaupt mit aufgebaut und unter Beobachtung gehabt hätten, aber dann eben nicht gestoppt hätten.
Auch im NSU-Prozess war der Gerichtssaal geprägt von einer bedrückenden Hierarchie. Die 93 Nebenkläger*innen, die Familien der Opfer, die im Verfahren von mehr als 60 Rechtsanwält*innen vertreten wurden, saßen im Saal A101 unter der Tribüne, auf der die Presse und die Öffentlichkeit über ihnen thronten. Diese räumliche Anordnung spiegelte die reale Marginalisierung der Opfer und ihrer Angehörigen wider, die um Gehör und Anerkennung kämpften, während die staatlichen Institutionen versuchten die eigenen Versäumnisse zu verdecken.
Die Bedeutung der Räume des Justizzentrums
Angesichts dieser Geschichte wird die historische Bedeutung der Räume des Justizzentrums besonders deutlich. Diese Wände haben Zeugenberichte von Menschen gehört, deren Familien durch rechten Terror zerstört wurden. Sie haben die Bemühungen gesehen, den Staat zur Verantwortung zu ziehen, und zugleich das Scheitern staatlicher Institutionen, sich der vollen Wahrheit über diese Verbrechen zu stellen. Die Prozesse, die hier stattfanden, sind Zeugnisse eines fortwährenden Kampfes – nicht nur gegen die Täter, sondern auch gegen eine Gesellschaft, die allzu oft wegschaut.
Das Justizzentrum könnte, wenn es mit einem Ort des Gedenkens — etwa im A101 — erhalten bliebe, all diese Geschichten bewahren. Es wäre ein Mahnmal, das nicht nur an die Opfer erinnerte, sondern auch daran, wie institutionelles Versagen rechten Terror ermöglicht und begünstigt hat.
„Reichsbürger“-Prozesse und die Kontinuität rechten Terrors
Nicht nur vergangene Prozesse sind hier von Bedeutung: In den gleichen Hallen finden heute die „Reichsbürger“-Prozesse statt.
Die „Reichsbürger“, eine Bewegung, die die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland ablehnt und sich oft durch rechte, antisemitische und verschwörungstheoretische Überzeugungen auszeichnet, stehen derzeit im Zentrum zahlreicher Gerichtsverfahren. Diese Prozesse, die ebenfalls im Justizzentrum geführt werden, knüpfen direkt an die Tradition der Auseinandersetzung mit rechtem Terror an. Wie schon bei den NSU-Morden und dem OEZ-Anschlag zeigt sich auch hier, dass rechte Ideologien nicht isoliert, sondern in Netzwerken agieren – unterstützt werden die Akteur*innen von Gleichgesinnten, teils mit weitreichenden Verbindungen in gesellschaftliche und staatliche Strukturen.
Diese Kontinuität rechter Gewalt und ihre bedrohliche Präsenz in der Gegenwart verdeutlichen, wie notwendig eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Justizzentrums ist. Der Abriss dieses symbolträchtigen Ortes wäre ein Verlust, der weit über das rein Architektonische hinausgeht.
Kulturen des Verdrängens und Erinnerns — Rezension
Diese neue Publikation reiht sich in die Vielzahl derer ein, die in den letzten Jahren zum Thema der Nicht_Erinnerungen an die rassistische Gewalt der 1990 er Jahre erschienen sind. Sie fragt danach, wie die rassistische Gewalt erinnert wird, und von wem und in welcher Form?
«Kulturen des Verdrängens und Erinnerns» legt den Fokus auf den August 1992, als in Rostock-Lichtenhagen ein Heim für Geflüchtete belagert und angegriffen wird, eine Menschenmenge zuschaut, und die AngreiferInnen anfeuert. Es geht also, und selbst das ist heute kaum öffentlich sagbar, um Gewalt, Schmerz, Leid und Traumata, und den individuellen wie den gesellschaftlichen Umgang damit.
Das Buch enthält eine Einleitung und 14 Artikel, Angaben zu den Autor*innen des Bandes, die Informationen zu deren Perspektive oder Sprechposition hätten bieten können, fehlen bedauerlicherweise. Die Historikerin Franka Maubach plädiert vehement dafür, rassistische Gewalt auch in die spezifische lokale und regionale Situation einzubetten und sie nicht nur als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Stimmungen zu verstehen. Die Tübinger Rechtsextremismusforscherin Tanja Thomas und Fabian Virchow weisen gut begründet darauf hin, dass die Erinnerungskultur weiterhin von der Mehrheitsgesellschaft geprägt, wenn nicht dominiert sei. Dies führe unter anderem dazu, dass die Stimmen und Perspektiven von Betroffenen, Opfern und Überlebenden beharrlich übergangen werden. Oliver Plessow, Geschichtsdidaktiker und die Demokratiepädagogin Gudrun Heinrich, beide von der Universität Rostock skizzieren in ihren Texten jeweils die Situation in Rostock selbst, hinterfragen den auch von aktivistischen Kreisen angenommenen Wirkungsoptimismus öffentlichen Gedenkens und öffentlicher Gedenkzeichen, und benennen die wichtige Rolle, die lokale und überregionale zivilgesellschaftliche Initiativen im Feld der Erinnerungspolitik, und so war es auch in Rostock, haben. Kien Nghi Ha begreift Rostock als Symbol für institutionellen Rassismus von Medien, Polizei, Stadtverwaltung und anderen, kollektiven Akteur*innen. Von ihnen wird lange Zeit, von vielen bis heute, der Begriff «Pogrom» vermieden. Die antiziganistische Dimension des Pogroms wird im Beitrag von Stefanie Oster und Johann Henningsen vom Dokumentationszentrum «Lichtenhagen im Gedächtnis» deutlich. Sie haben betroffene Rom*nja des Pogroms recherchiert und so 2022 einige Interviews führen (lassen) können, vier sind hier online.
Im letzten Kapitel werden noch drei andere, wichtige Ereignisse, und die damit zusammenhängende Erinnerung, thematisiert: Die Pogrome in Hoyerswerda 1991 und in Mannheim-Schönau 1992 und der Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen 1993, bei dem fünf Menschen ermordet werden. Der Anschlag in Solingen fand am 29. Mai statt, drei Tage nachdem im Bundestag mit großer Mehrheit die bis dahin bestehende Asylrechtsregelung abgeschafft wurde.
Die Texte zeigen, dass Erinnerung umkämpft ist und immer wieder um Erinnerung gerungen wird. Die Publikation dokumentiert auch, dass durch das jahrzehntelange, mühsame Engagement von vielen sich etwas verändert hat, wenn auch zu langsam und zu wenig. Wer sich noch nicht so grundlegend oder umfangreich mit der Historisierung rassistischer Gewalt beschäftigt hat, wird in dem Buch viel Lesens- und Bedenkenswertes finden. Die Sprache ist auch nicht zu akademisch. Wer sich besser auskennt, wird jedoch auch viel Bekanntes lesen. Die Publikation entstand aus Aktivitäten an der Universität Rostock im Sommer 2022, sie ist hier auch open access verfügbar.
Informationen zum Buch:
Gudrun Heinrich / David Jünger / Oliver Plessow / Cornelia Sylla (Hrsg.): Kulturen des Verdrängens und Erinnerns. Perspektiven auf die rassistische Gewalt in Rostock-Lichtenhagen 1992; Neofelis Verlag, Berlin 2024, 226 Seiten, 23 Euro
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Reichsbürger vor LG München: „Grüß Gott an die Kinder Satans“
Der Prozess gegen den Reichsbürger Johannes M., der unter anderem wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung, Volksverhetzung, Nachstellung sowie Anstiftung zu Straftaten angeklagt war, endete vor dem Staatsschutzsenat des Landgerichts München mit einer Verurteilung zu 2 Jahren und 10 Monaten Freiheitsentzug.
Bereits beim Betreten des Saals wird M. von seinen etwa 20 Anhänger*innen empfangen, die ihn mit freudigen Gesten und warmen Worten begrüßen. Der Angeklagte, der in seiner Erscheinung an einen charismatischen Prediger erinnert, wendet sich durchweg seiner Fangemeinde zu. Mit einer Darstellung von Jesus in den Händen verteilt er Küsse und Grüße in die Menge – das Gericht ignoriert er dabei demonstrativ und wendet ihm den Rücken zu. Im Plädoyer der Vertreterin der Generalstaatsanwaltschaft München, Staatsanwältin Stefanie Ruf, wird die volle Tragweite von M. Taten und deren Konsequenzen unmissverständlich dargestellt.
Die BRD-Firmen
Johannes M. hat sich in den letzten Jahren als Kopf einer über Telegram organisierten Gruppe etabliert. Auf dem unterdessen gesperrten Account verbreitete er Verschwörungsfantasien, die zu einer Melange aus antisemitischen Ideologien, staatsfeindlichen Positionen wie der aus den USA stammenden QAnon-Erzählung und Pandemieleugnungen mit Christlichen Versatzstücken verrührt werden. Zentral ist M.s Überzeugung, dass ein „zionistischer Plan“ auf die Vernichtung des „deutschen Volkes“ abziele und Deutschland seit über einem Jahrhundert im Krieg lebe. Er bestreitet konsequent die Existenz der BRD und sieht damit Behörden und staatliche Institutionen als illegal an und beschuldigt sie, in pädokriminelle Machenschaften verwickelt zu sein. Auch er selbst sieht sich als Opfer und wirft dem Gericht Nötigung und Verschleppung durch Schergen der in Delaware (USA) registrierten aus 47.000 Privatfirmen bestehenden BRD vor.
Institutionen als Hassobjekte
M.s Attacken richteten sich gegen eine Vielzahl von Institutionen. Besonders betroffen waren Arztpraxen und Schulen, die nach seiner Ansicht über Impfungen und Corona-Schutzmaßnahmen das Wohl der Kinder gefährdeten. Aber auch Jugendämter, Polizeibeamt*innen und Mitarbeiter*innen des Gerichts, die er als kriminell und pädophil beschimpft, werden nicht verschont. Der Ablauf der von M. losgetretenen Aktionen war stets ähnlich: Zunächst rief er persönlich in den betreffenden Institutionen an, hielt einen wirren Monolog über die angeblich dort stattfindenden kriminellen Machenschaften und stieß teils direkte Gewaltandrohungen und Tötungsvorhersagen aus. Er geht davon aus, dass in naher Zeit „das Militär“ unter Führung des Commanders in Chief, Donald J. Trump, über seine Widersacher „richten“ und diese exekutieren werde — das teilte er den zum Teil tief geschockten Betroffenen am Telefon auch so mit.
Doch bei einem einzigen Anruf bleibt es nicht. Müller forderte anschließend stets seine Anhänger*innen auf Telegram auf, ebenfalls bei den betreffenden Institutionen anzurufen, um dort tätige Personen systematisch zu terrorisieren. Kontaktdaten und Fotos der Opfer verbreitete er vielfach in der Chatgruppe und die Aufrufe zur Gewalt häuften sich – wobei sich Müller selbst widersprüchlich stets als Pazifist bezeichnet hatte.
„Die Herren in Schwarz“
Die langanhaltende Einschüchterung durch Müllers Gruppe hinterließ bei den Betroffenen tiefe Spuren. Die Staatsanwältin berichtet von traumatisierten Mitarbeitenden in Jugendämtern, die Polizeischutz benötigen und kurzzeitig schließen mußten. Beschäftigte trauten sich nicht mehr alleine nach Hause, Polizist*innen überlegten, ob sie ihre Dienstwaffen mitnehmen sollten, Ärzt*innen sahen sich gezwungen, ihre Praxen zu schließen und sich krankschreiben zu lassen. Die Angst und der psychische Druck sind allgegenwärtig – viele Opfer leiden bis heute unter Schlaflosigkeit und schweren Belastungsreaktionen. Nicht alle schafften es, vor Gericht auszusagen.
Nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft, lässt der Angeklagte keine Gelegenheit aus, das Gericht zu verunglimpfen. Die Staatsanwältin wird von ihm in herabwürdigender Weise als „blonde Tusse“ bezeichnet, während er das gesamte Gericht als „pädokriminell“ und „illegitim“ beschimpft.
In der anschließenden kurzen Pause sammeln sich M.s Anhänger, um untereinander kollektiv ihr Unverständnis gegenüber dem Gericht kundzutun. Die tiefe Ablehnung gegenüber der Institution Gericht und die Glorifizierung des Angeklagten werden in dieser Gruppe deutlich. Als der Prozess fortgesetzt wird, wendet sich das Geschehen der Verteidigung M.s zu.
Doch bevor sein Verteidiger überhaupt zu sprechen beginnt, wird dieser von M. selbst unterbrochen. In einem bizarren Akt der Selbstinszenierung beschuldigt M. seinen Anwalt, Teil krimineller Machenschaften zu sein, und erklärt offen, dass er sich von den beiden Verteidigern unter keinen Umständen vertreten lassen wolle. Er bezeichnet die Mitglieder des Gerichts lediglich als „Herren in Schwarz“ und verweigert jegliche Anerkennung der juristischen Autorität. Stattdessen interagiert er mit Gesten mit seinen Anhänger*innen oder versinkt in Gebeten.
Anwalt schweigt zur Verteidigung
Trotz Müllers aufgebrachter Intervention versucht sein Anwalt, die Verteidigung in mildernder Absicht fortzusetzen, beschränkt sich jedoch auf einige Worte, die sich vor allem auf die juristische Frage der Bildung einer kriminellen Vereinigung konzentrieren, deren Bildung der Jurist nicht zu erkennen vermochte. Jede weitere inhaltliche Verteidigung unterbleibt unter diesen Umständen jedoch.
Erlösungsfantasien
Im weiteren Verlauf fordert der Vorsitzende Richter M. zu seinem letzten Wort vor der Urteilsverkündung auf. Er nutzt diese Gelegenheit, um ein weiteres Mal seine umfassende Verschwörungsideologie in epischer Breite darzulegen. Er spricht davon, dass nur ein Drittel der Menschheit, diejenigen, die „auf dem richtigen Weg“ seien, gerettet werden könnten, während die übrigen zwei Drittel, darunter auch der Senat, dem Gericht Gottes anheimfallen würden. Er wendet sich provokativ an die Prozessbeteiligten: „Grüß Gott an die Kinder Satans“.
M.s Rede mündet schließlich in einem Schwall bizarrer Verschwörungserzählungen, die verschiedene historische und aktuelle Themen und Persönlichkeiten miteinander verweben. Der „Tag des Herrn“, so prophezeit er, stünde unmittelbar bevor, eine Art Endzeitmoment, der das Schicksal der Menschheit besiegeln werde. Dabei verknüpft er aktuelle politische Akteure wie Donald Trump mit fantastischen Narrativen über elektromagnetische Strahlen und geheime Knöpfe. Auch Annalena Baerbock taucht in seinen Theorien auf– angeblich maskiert mit einer Silikonhaut. Während dieser verstörenden Ausführungen hält M. durchgehend eine Bibel in der Hand, aus der er stellenweise Passagen zitiert, um seine wirren Theorien mit religiöser Beglaubigung zu untermauern. M.s Rede endet, wie sie begonnen hat: mit einem Mix aus religiösem Pathos, Bedrohungsszenarien und wilden Verschwörungsgeschichten, die das Bild eines radikalisierten und unberechenbaren Individuums zeichnen.
Das Urteil
Als tags darauf das Urteil gegen M. verkündet werden soll, richtet er einen wissenden Blick in die Menge und sagt zu seinen Anhängerinnen: „Man müsse nur Gott vertrauen.“ Noch während der Richter das Urteil verliest, unterbricht Müller ihn und erklärt, der Richter besiegele gerade „sein eigenes Todesurteil“.
M. wird schließlich zu 2 Jahren und 10 Monaten Haft verurteilt — 14 Monate weniger als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Daraufhin beginnt die verzückte Menge einen Choral für und mit ihrem Helden anzustimmen. Alle Zuschauer*innen werden des Saales verwiesen. Kein Publikum – keine Bühne mehr — nun ging der Prozess, den Müller bislang immer wieder in die Länge gezogen hatte, nun zügig zu Ende.
Es bleibt unklar, wie und ob sich Müllers Anhänger*innen in seiner Abwesenheit weiter organisieren werden. Die Frage, ob die Gruppe ohne ihren Anführer weiterbesteht und möglicherweise auch weiter radikalisiert, bleibt offen.