Süleyman Taşköprü bat am Mittwoch, 27. Juni 2001, gegen 10.45 Uhr seinen Vater Ali, sich um den Einkauf von Waren zu kümmern. Danach muss er in seinem Gemüseladen in der Schützenstraße 39 in Altona von seinen Mördern überrascht worden sein. Sie erschossen ihn mit drei Kugeln, abgegeben aus zwei Pistolen, einer Česká 83 und einer Bruni. Als sein Vater um ungefähr 11.15 Uhr wieder zurückkehrte, fand er seinen Sohn auf dem Fußboden des Verkaufsraumes liegend mit einer blutenden Kopfverletzung vor. Wenig später konnte der Notarzt nur noch den Tod feststellen. Kurz darauf traf die Polizei ein und nahm die Ermittlungen in dem Tötungsdelikt auf. Die lokale Presse in der Stadt (BILD-Zeitung, Hamburger Morgenpost, Hamburger Abendblatt) berichteten dazu in den folgenden Tagen. Im Hamburger Abendblatt (HAB) war über einen „mysteriösen Mord am helllichten Tag“ sowie einer „Hinrichtung im Gemüseladen“ zu lesen. Aus der Sicht der polizeilichen Ermittler*innen lag das Motiv „noch völlig im Dunkeln“. Dem Abendblatt war es aber hier wichtig, dahingehend über das Motiv zu spekulieren, dass für die Tat „Schutzgelderpressung“ in Frage komme, wo „in vielen Fällen (…) die verbotene kurdische PKK dahinter“ stecke. (HAB v. 28.6.2001)
Vater Taşköprü: Deutsche Täter
Noch am Tag des Mordes vernahm die Polizei Taşköprüs Vater das erste Mal. Er habe bei seiner Rückkehr vor dem Geschäft zwei Männer gesehen, gab er zu Protokoll. Beide hätten gleich ausgesehen und seien 25 bis 30 Jahre alt gewesen. Auf die Frage: „Deutsche oder Türken?“, antwortete er: Deutsche. Ein Streit, in den sein Sohn habe verwickelt sein können, sei ihm nicht bekannt gewesen. Zwei Tage später gab es eine zweite Vernehmung. Er bekräftigte erneut, bei seiner Rückkehr zum Laden zwei männliche Personen im Bereich vor dem Laden gesehen zu haben, die sich in südliche Richtung entfernt hätten. Er beschrieb sie als etwa 1,78 Meter groß und jung, höchstens 25 Jahre alt. Ob „deutsch“ oder „ausländisch“, wusste er nicht genau zu sagen, aber er schloss aus, dass sie „südländisch“ gewesen seien. Ihre Haarfarbe sei hell gewesen. Es gab jedoch im Zusammenhang mit der Tatzeit noch weitere Zeuginnen. Eine gab dabei an, sie habe in den vergangenen etwa 14 Tagen mehrfach einen BMW beobachtet, dessen Fahrer mit Süleyman Taşköprü gesprochen habe, weder freundlich noch aggressiv. Eine genauere Beschreibung konnte sie nicht geben, es habe sich jedoch um einen „Südländer“ gehandelt, gab diese Zeugin zu Protokoll. Eine weitere Zeugin sagte aus, sie habe in ihrer Wohnung über dem Geschäft einen lauten Streit zwischen zwei Männern wahrgenommen. Auf die Frage, ob auf Deutsch oder „ausländisch“ gebrüllt worden sei, wollte sie nicht ausschließen, dass auch „türkische Worte“ gefallen seien. Eine dritte Zeugin berichtete von einem wenige Tage zurückliegenden Streit, den sie mitbekommen habe: Drei „südländisch“ aussehende Männer hätten sich im Laden aufgehalten, einer von ihnen hätte dem späteren Opfer „aufgeregt und wütend“ damit gedroht, wiederzukommen.
Zunächst konnte die Polizei natürlich noch nicht wissen, dass es sich um den dritten Mord als Teil einer Serie handelte. Am 9. September 2000 war der türkische Blumenhändler Enver Şimşek in seinem Transportwagen an einer Ausfallstraße bei Nürnberg ebenfalls mit zwei Tatwaffen erschossen worden. Elf Monate später, am 13. Juni 2001, also gerade einmal zwei Wochen vor der Ermordung Taşköprüs war — ebenfalls in Nürnberg — der türkische Staatsangehörige Abdurrahim Özüdoğru in seiner Änderungsschneiderei mit einer Pistole Marke Česká 83 ermordet worden. Das ergab die unmittelbar nach den beiden Taten vorgenommenen kriminaltechnische Untersuchung des Bundeskriminalamtes (BKA). Mit der Česká 83 war dieselbe Waffe als Tatwaffe verwendet worden. Vom Polizeipräsidium Mittelfranken (Nürnberg) war das schon fünf Tage nach der Tat in einer Pressemitteilung kommuniziert worden.[1]
Über Hamburg hinaus
Der Wissensstand der Hamburger Ermittler*innen zu der Mordsache Taşköprü sollte sich aber schnell und gravierend ändern. Als sie noch am Tattag zu dem Mord an Taşköprü ein Fernschreiben an bundesweite Dienststellen absetzten, meldeten sich schon kurz darauf die Nürnberger Kolleg*innen, die in der Mordsache Özüdoğru ermittelten. Offenbar kam ihnen der Modus Operandi der Mordtat bekannt vor. Jahre später, Ende Juni 2005 nach dem siebten Mord in der Serie, rapportierte das Hamburger Abendblatt die Aussage eines ungenannten Hamburger Ermittlers aus der Mordkommission: Sie seien noch am späten Abend des 27. Juni 2001 von Nürnberger Kolleg*innen angerufen worden. Dadurch sei ihnen klar geworden, „dass der Fall über Hamburg hinausgeht“. (HAB v. 23.6.2005) Einen Tag später informierten die Nürnberger Polizist*innen ihre Hamburger Kolleg*innen per Fax darüber, dass „die gleiche Tatwaffe“ bei der Tötung von zwei türkischen Staatsbürgern verwendet worden sei. Das war eine außerordentlich wichtige Information. Die Ermittler*innen sowohl in Hamburg wie auch in Nürnberg hätten also allen Grund dazu gehabt – umgangssprachlich formuliert – Alarm zu schlagen: Es war doch definitiv klar, dass man mit einer Mordserie in zwei großen Städten in der Bundesrepublik konfrontiert war. Und was passierte nun? Richtig: Zwecks genauer Prüfung der Tatwaffe wandten sich die Hamburger Ermittler*innen an das BKA und warteten. Wie lange? Es sollte lange zwei Monate, sprich bis zum 31. August 2001, dauern, bis das BKA die Identität der Tatwaffen im Hamburger und den beiden Morden an Şimşek und Özüdoğru feststellte. Gleich dazu die nächste Frage: Warum hat das BKA die eigentlich seit Ende Juni 2001 anstehende kriminaltechnische Untersuchung erst Ende August abgeschlossen? In München hatte sich, keine 72 Stunden zuvor, der nächste Mord, der vierte in der Serie, ereignet: Am 29. August 2001 zwischen 10.35 und 10.50 Uhr erschossen die Mörder im „Frischmarkt“ in der Bad-Schachener-Straße 14 in München den hinter dem Kassentresen stehenden 38-jährigen türkischen Gemüsehändler Habil Kılıç. Das BKA ermittelte hier binnen kürzester Frist, schon am 4. September, dass es sich um dieselbe Česká 83-Tatwaffe wie bei den drei vorangegangen Morden gehandelt hatte. Denkbar wäre auch, dass sich nach dem Mord an Kilic sowohl das BKA wie auch die Hamburger Ermittler*innen mit einem Mal an die noch offene Anfrage bezüglich der Tatwaffe von Hamburg von Ende Juni 2001 erinnert hatten.
Deutlich zu lange Frist
Ende August 2013 wurde der Abschlussbericht des ersten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestages zum NSU-Komplex veröffentlicht. In ihren gemeinsamen Bewertungen erklärten sich alle Fraktionen mit den in Bezug auf die Mordsache Taşköprü ungewöhnlich schleppend durchgeführten Ermittlungen nicht zufrieden. Eine „deutlich zu lange Frist“ ist da vermerkt. Ja, so darf man es wohl formulieren, um dann noch nachzuschieben, dass leider „nicht geklärt werden konnte, wer für die Verzögerung die Verantwortung trug“, zumal „nach dem nächsten Mord in München (…) die Feststellung der Serienzugehörigkeit weniger als eine Woche“ gedauert habe.[2]
Doch es kommt noch besser: Das Polizeipräsidium Mittelfranken veröffentlichte aus direktem Anlass der Ermordung von Kılıç am 5. September 2001 eine Pressemeldung. In Bezug auf den „Mord an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg“ wird nun in der Überschrift auf einen „Zusammenhang mit Mordfall in München“ hingewiesen: „Auf Grund des Schusswaffenvergleichs“ bei den Morden an Şimşek (9.9.200) und Özüdoğru (13.6.2001) sei „eine Identität der Tatwaffen festgestellt“ worden. Nun sei auch „der türkische Staatsangehörige Habil K. in seinem Obst- und Gemüseladen erschossen aufgefunden“ worden. In der Pressemitteilung wird von der Polizei nicht von einer Mordserie gesprochen, aber weiter wird ausgeführt: „Wie jetzt feststeht, ist auch im Münchener Fall die Tatwaffe identisch. Alle Fälle sind bisher noch nicht geklärt.“[3] Alle Fälle? Der Mord an Süleyman Taşköprü wird doch explizit nicht erwähnt. Warum wird er von der Polizei auch zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht zu „allen Fällen“ gezählt? Und das obwohl ein paar Tage zuvor vom BKA die Identität der Tatwaffe bestätigt worden war.
„Türkische Mentalität“
Nächste Frage: Wie lange dauerte es denn nun bis die Ermittler*innen dazu bereit waren, die Öffentlichkeit von dem Mord an Taşköprü als Teil derselben Mordserie zu unterrichten? Kurze Antwort: Zwei weitere Monate. Erst am 9. November 2001 setzte das Polizeipräsidium Mittelfranken die Öffentlichkeit via Pressemitteilung nun auch über einen, wie sie formulierte, „Zusammenhang jetzt auch mit Mordfall in Hamburg“ in Kenntnis. Vier Monate waren nun vergangen nachdem die Nürnberger Ermittler*innen die Hamburger Polizeikolleg*innen im Mordfall Taşköprü auf den unmittelbaren Zusammenhang mit einer Mordserie aufmerksam gemacht hatten. Immerhin findet sich in dieser Pressemitteilung erstmals der Begriff „Mordserie“. Hier hielt es die Polizei für angezeigt, darauf hinzuweisen, dass sich „nach Zeugenangaben (…) zwei Tage vor dem Verbrechen (an Taşköprü) drei Türken in dem Laden aufgehalten haben und sich mit dem späteren Mordopfer in sehr aggressiver Weise gestritten haben.“[4]
Die Polizei fertigte nach diesen Angaben ein Phantombild an. Die zu der Pressemitteilung hinzugefügte Bildveröffentlichung zeigte zwei „südländisch“ aussehende Verdächtige. Den Betrachter*innen wird so nahegelegt, es habe sich um einen Streit „unter den Türken“ gehandelt.. Ignoriert wurden die gegenläufigen Angaben in den Tatbeobachtungen des Vaters von Süleyman Taşköprü, der ja ausgeschlossen hatte, dass die beiden Täter „südländisch“ ausgesehen hätten, auch weil von ihm deren Haarfarbe als hell beschrieben worden war. Denkbar hier, dass die Polizeibeamt*innen dieser Aussage aus einem bestimmten Grund keine besondere Aufmerksamkeit schenken wollten: So formulierte diese Pressemitteilung eine in der Sache zwar falsche, gleichwohl für die weiteren polizeilichen Ermittlungen in den nächsten Jahren wirksame rassistische Erzählung: „Die Ermittlungen gestalteten sich aufgrund der türkischen Mentalität und der damit verbundenen Zurückhaltung sowie der Sprachbarriere von Anfang an sehr schwierig.“
Keine Soko für Hamburg
Auch heute noch türmen sich die weiter offenen Fragen zu den Ermittlungen der Hamburger Polizei im Mordfall Taşköprü auf. Wie mag denn gerade in den ersten Monaten nach dem 27. Juni 2001 die Zusammenarbeit zwischen den Hamburger und den Nürnberger Strafverfolgungsbehörden ausgesehen haben, die der Öffentlichkeit in der Pressemitteilung vom 9.11.2001 als „eng“ vorgestellt worden war? Wie eng konnte sie gewesen sein, wenn schon im Nürnberger Fernschreiben vom 28. Juni 2001 darauf hingewiesen wurde, dass zwei Tötungsdelikte an türkischen Staatsbürgern in Nürnberg mit der gleichen Tatwaffe verübt worden seien? Und warum wurde in Hamburg nicht wie in Nürnberg Mitte September 2001 eine Soko gebildet, als allmählich klar wurde, dass es sich um eine Mordserie handelte? Fragen über Fragen.
Die Hamburger Sicherheitsbehörden haben den parlamentarischen Untersuchungshausschüssen zum NSU bislang allein Kriminaloberrat Felix Schwarz als Zeugen zur Verfügung gestellt. Und der trat seinen Dienst in der diesbezüglichen Mordkommission erst ab dem 1. Februar des Jahres 2006 an. Insofern konnte er bei seinen Befragungen im Berliner und Mecklenburger Untersuchungsausschuss für die Zeit der polizeilichen Ermittlungen in Hamburg in der Mordsache Taşköprü in den Jahren 2001 ‑2003 vieles allenfalls vom Hörensagen kolportieren.
Grüne Schritte
Mitte April 2023 wurde der Antrag der Partei Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft auf die Einsetzung einen NSU-Untersuchungsausschusses abgelehnt. Bei Annahme hätte dieses Gremium in weniger als sechs Monaten seine Arbeit aufnehmen können. Von der Fraktion der Grünen war der Antrag der Linken trotz eines gegenläufigen Parteitagsbeschlusses nicht unterstützt worden. Gemeinsam mit der SPD nahm sie in der Bürgerschaft den Antrag an, nunmehr die „Aufarbeitung des NSU-Komplexes im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie“ durchzuführen.[5] Das sei doch „ein großer Schritt in Richtung umfassenderer Aufklärung“, gaben sich die Grünen in einer Pressemitteilung damals überzeugt. Mehr noch: Die Grünen bezeichneten es als ganz „entscheidend (…), dass die Aufklärungsarbeit nun endlich und intensiv vorangetrieben wird.“ Eben dies „sollte der Fokus der Debatte sein und bleiben.“[6] Wie wurde nun die Aufklärungsarbeit „intensiv vorangetrieben?“ Die Fortschritte sind schleppend: Nach jüngster Auskunft der Pressestelle der Hamburger Bürgerschaft gibt es inzwischen bei der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft einen Beirat, der zunächst nur damit beauftragt ist, ein Vergabeverfahren bis zum Ende das Jahres 2024 abzuschließen, „so dass mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung zum Jahresbeginn 2025 begonnen werden kann. Ein Büro für den Beirat ist nicht eingerichtet, er tagt in den Sitzungsräumen der Bürgerschaft.“ (Mail an den Verfasser vom 18.6.2024)
Somit darf zunächst einmal trocken festgestellt werden: Der von den Grünen Mitte April 2023 vor mehr als einem Jahr versprochene „große Schritt“ in Sachen „umfassender“ NSU-Aufklärung in Hamburg ist bislang unterblieben. Für die seit April 2023 als Alternative zu einem Untersuchungsausschuss angestrebte „wissenschaftliche Studie“ existiert auch am 23. Todestag von Süleyman Taşköprü noch nicht einmal eine Ausschreibung.
Fußnoten:
[1] Polizeipräsidium Mittelfranken POL-MFR: (1123) Mordfall Özüdoğru — hier: Zusammenhang mit Mordfall Şimşek, PM vom 18.6.2001, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/257963
[4] Polizeipräsidium Mittelfranken POL-MFR: 2073. Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg und München hier: Aktueller Ermittlungsstand: 9.11.2001 mit Bildveröffentlichungen Zusammenhang jetzt auch mit Mordfall in Hamburg, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/298764
„In Gedenken an Mehmet Turgut, der hier am 25. Februar 2004 dem menschenverachtenden, rechtsextremistischen Terror einer bundesweiten Mordserie zum Opfer fiel.“ Gedenkplatte der Stadt Rostock, eröffnet am 25.2.2014
Vor zwanzig Jahren
Am 25. Februar 2004 wurde Mehmet Turgut in Rostock-Toitenwinkel in einem Dönerimbiss erschossen.Der oder die Täter*innen hatten den Stand kurz nach der Öffnung zwischen 10.10 Uhr und 10.20 Uhr durch die Seitentüre betreten, Turgut wahrscheinlich gezwungen sich auf den Boden zu legen und ihn hingerichtet. Der eigentliche Betreiber des Standes, Haydar A., hatte sich an diesem Morgen verspätet und fand seinen Mitarbeiter gegen 10.20 Uhr — noch lebend — im Imbissstand. Wiederbelebungsversuche scheiterten und die Kriminalpolizei in Rostock richtete eine erweiterte Mordkommission ein, die die Ermittlungen aufnahm. In den Tagen nach dem Mord informierten die Norddeutschen Neuesten Nachrichten (NNN) sowie die Rostocker-Zeitung die Öffentlichkeit: Die Rostocker-Zeitung veröffentlichte die Vermutung einer Bewohnerin, dass „soziale Konflikte im Stadtteil“ für die Gewalttat verantwortlich seien. (26.2.2004) Die NNN berichteten am Tag nach dem Mord, dass keine Einzelheiten zum Tathergang oder Motiv bekannt seien. (26.2.2004) Als Todesursache wurden jedoch Messerstiche oder Schläge vermutet. (Bild-Zeitung v. 26.2.2004 / Ostseezeitung v. 26.2.2004) Die Ausgabe der Bild-Zeitung Rostock schrieb drei Tage nach dem Mord davon, dass in Rostock-Toitenwinkel der „sympathische Typ (…) unweit der Post erstochen“ worden sei. (28.2.2004)
Wahrscheinlich war den Ermittler*innen selbst nicht sofort klar, dass das Opfer erschossen worden war, da die Täter ihn zuerst gezwungen hatten sich hinzulegen, bevor sie ihn hinrichteten, so Rechtsanwalt Hardy Langer in seinem Plädoyer im NSU-Prozess vor dem OLG München im Dezember 2017, in dem er die Familie Turgut als Nebenkläger*innen vertrat. Drei Tage nach dem Mord veröffentlichte die lokale Presse ein Foto von Mehmet Turgut. (NNN v. 28.2.2004) Die Kripo Rostock suchte nach Hinweisen zur Identität des Opfers. Anscheinend war diese noch nicht geklärt. Eine Woche nach dem Mord wurde bestätigt, dass eine Obduktion durchgeführt worden war und tatsächlich ein Verbrechen vorlag. Der Zeitungstext erwähnte, dass „Einzelheiten dazu“ nicht mitgeteilt würden, aber nicht warum. (NNN v. 4.3.2004) Denkbar hier, dass die Formulierung darauf hindeutete, dass die Beamt*innen die Information zurückhielten, dass drei Projektile des Kalibers 7,65 mm und eine Patronenhülse gefunden worden waren. Ob sie bereits zu diesem Zeitpunkt ahnten, dass es sich um eine Fortsetzung der Česká-Serie handelte, ist nicht belegt.
Kein „ausländerfeindlicher Hintergrund“
Am 4. März 2004 schlug der Ermittlungsleiter in Rostock, Bernd Scharen, bei einer Besprechung, bei der es um die Weitergabe von Informationen an die türkische Presse ging, folgende Formulierung vor: „Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden.“ (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern zum NSU (PUAMV), S. 569)1 Eben diese wurde dann vom Pressesprecher der Kriminalpolizeidirektion Rostock, Volker Werner, aufgegriffen, als dieser nach einem Gespräch eine Pressemitteilung (PM) in Form einer E‑Mail an Asgar Adeh, einen Korrespondenten der türkischen Zeitung Hürriyet, übersandte, mit der Bitte folgenden Text zu veröffentlichen: „Die Rostocker Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe bei der Aufklärung einer Straftat. In den Vormittagsstunden des 25. 02.2004 töteten unbekannte Täter in Rostock (…) in einem Döner-Imbiss den abgebildeten türkischen Staatsbürger TURGUT. Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden. Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen reiste TURGUT seit 1994 mehrfach illegal nach Deutschland ein und war hier mit Unterbrechungen in verschiedenen Orten aufhältig.“ (PMKPI Rostock v. 9.3.2004) Die Feststellung, dass „ein ausländerfeindlicher Hintergrund (…) derzeit ausgeschlossen werden“ könne, musste zu einem noch so frühen Zeitpunkt der Ermittlungen mehr als verblüffen. Als der Einsatzleiter Scharen Ende Oktober 2013 in seiner Vernehmung vor dem OLG München darauf angesprochen wurde, berief er sich auf mündliche Besprechungen mit der Staatsanwaltschaft, dem LKA, dem Staatsschutz und – interessanterweise — dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV).2 Aus dieser Aussage geht hervor, dass diese Stellen unmittelbar in die Mordermittlungen miteinbezogen waren. Doch auch sie hatten nach zwei Wochen keine Erkenntnisse, die erlaubten, einen rassistischen Hintergrund in der Weise auszuschließen, wie es in der zitierten Pressemitteilung der Polizei Rostock geschehen war.
Anschlagserie auf Asia- und Dönerbuden
Das spielte sich alles vor dem Hintergrund einer sich zeitgleich ereignenden nazistischen Anschlagsserie gegen die Asia- und Döner-Imbisse im Nachbarbundesland Brandenburg. Für die Zeit zwischen 2000 bis zum Februar 2004 wurden hier um die 50 Anschläge registriert.3 In fast allen Fällen, in denen Täter ermittelt werden konnten, handelte es sich um Angehörige der einschlägigen Naziszene. Exemplarisch hier die Gruppierung „Freikorps Havelland“, die in der Zeit zwischen August 2003 bis Mai 2004 wenigstens 10 Brandanschläge verübte, bevor die Polizei diese Gruppe fassen konnte. Im August 2004 – mitten in der Ermittlungen im Mordfall Turgut — wurde gegen die Gruppe durch den Brandenburger Generalstaatsanwalt, Erardo Rautenberg, unter dem Verdacht der Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt.4 Ende November 2004 wurde dann unter diesem Vorwurf Anklage erhoben.5 Kurz vor Weihnachten berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift: „Anschläge auf Imbissbuden / Zwölf Neonazis in Brandenburg vor Gericht.“ (SZ v. 21.12.2004) Hier drängte sich der Zusammenhang zu Rostock förmlich auf, denn auch Mehmet Turgut war ja in einer Imbissbude ermordet worden. Doch für das Jahr 2004 ist für die in der Mordsache Turgut ermittelnden Sicherheitsbehörden nicht ein einziger Beleg auffindbar, in der die rassistische Anschlagwelle auf Imbissbuden im benachbarten Brandenburg in irgendeiner Weise rezipiert wurden. Überhaupt gab es bis zur Selbstenttarnung des NSU Anfang November 2011 in Bezug auf die Ermittlungen im Mordfall Turgut für die Polizei in Rostock nicht ein einziges Mal einen Grund, ein rassistisches Tatmotiv auch nur in Betracht zu ziehen. Exemplarisch dafür steht die Botschaft des Direktors des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpommern (LKA), Ingmar Weitemeier, in einem Presseartikel in der Schweriner Volkszeitung Mitte März 2007. Basierend auch auf seinen Aussagen hieß es hier unmissverständlich, zwar bereite den Ermittler*innen „vor allem das Motiv des Serienkillers“ immer noch Kopfzerbrechen. Allein: „Einen rechtsextremen und ausländerfeindlichen Hintergrund schließt die Polizei längst aus. Aus den Taten könne kein politisches Kapital geschlagen werden.“ (PUAMV S. 577) Diese Polizeiarbeit wurde in der Abschlussdiskussion zum Bericht des PUA Mitte Juni 2021 von dem Abgeordneten Peter Ritter dahingehend bilanziert, dass man „durch intensives Aktenstudium“ habe feststellen müssen, dass „den Betroffenen, dem Umfeld Mehmet Turguts, (…) nicht zugehört“ worden sei. Ritter weiter: „Ihnen wurde nicht geglaubt. In mindestens zehn Vernehmungen wurden die Beamten auf einen rassistischen Tathintergrund hingewiesen, das können wir aus den Akten nachvollziehen. Doch es passierte nichts. An keiner Stelle wurde nachgehakt. Stattdessen schloss ein leitender Ermittler eine Woche nach der Tat ein ausländerfeindliches Motiv öffentlich aus. Zudem wurden rassistische Vorfälle im Umfeld des Imbissstandes aus dem Jahr 1998 in den Ermittlungsarbeiten ignoriert.“6 (Siehe auch die Darstellung in: PUAMV S. 581⁄82)
Der Mord von Rostock als Teil der Česká-Morde
Zwei Wochen nach dem Mord an Mehmet Turgut in Rostock, am 11. März, bestätigte das Bundeskriminalamt (BKA), dass die gleiche Česká verwendet worden war, wie bei den anderen vier Morden. Die Polizei wusste nun, dass die Mordserie fortgesetzt worden war. Der jüngste Mord davor war der an Habil Kılıç am 29. August 2001 in München. Etwas über ein Jahr später, Anfang Oktober 2002, hatte das Polizeipräsidium Mittelfranken (Nürnberg) die mit einer Česká-Pistole verübten „Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg, Hamburg und München“ erstmals als Serie publik gemacht. Hier stand die Mitteilung zu lesen, dass „aufgrund des zentralen Schusswaffenvergleichs beim Bundeskriminalamt Wiesbaden mit den am Tatort aufgefundenen Projektilen (…) zweifelsfrei fest[stehe], dass sowohl bei den Morden in Nürnberg sowie auch in München und Hamburg die gleiche Tatwaffe, eine Pistole vom Kal[iber] 7.65, verwendet worden ist.“ Kurz: Das war damals von den Ermittlern an die Presse weitergegeben worden. Genau das aber wurde in Rostock unterlassen. Evident hier: Von Seiten der Polizei, hier die beim Polizeipräsidium Mittelfranken angesiedelte „Soko Halbmond“, liefen die Ermittlungen zu dieser Serie seit jener letzten Presseerklärung von Anfang Oktober 2002 nur noch auf Sparflamme.7 Diese Situation wird an einer erhellenden Aussage des seit dem ersten Tötungsdelikt an Enver Şimşek ermittelnden Polizeibeamten Albert Vögeler aus Nürnberg vor dem Landtag in Mecklenburg-Vorpommern deutlich: „Zu diesem Zeitpunkt war ich alleine mit der ganzen Serie beschäftigt beziehungsweise habe das mehr verwaltet. Große Ermittlungen kann man mit einem Mann nicht machen. Und deswegen war der Wunsch ans BKA, dass sie jetzt übernehmen sollten.“ (PUAMV, S. 229)
Klarer als Vögeler das zum Ausdruck brachte – ich war „alleine mit der ganzen Serie beschäftigt“– kann man die am Boden liegende Polizeiarbeit zu der im Februar 2004 fortgesetzten Mordserie nicht bilanzieren.
Nun waren die Mörder 30 Monate später zurückgekehrt und schlugen 670 Kilometer Luftlinie von München entfernt erneut zu, und setzten so die Mordserie fort.
Was passierte nun?
Der Erste Polizeihauptkommissar (EHK), Ermittlungsleiter Scharen, erinnerte sich 15 Jahre später in seiner Aussage vor dem NSU-PUAMV daran, dass die Tatsache, dass es sich bei der Ermordung von Mehmet Turgut um eine Tat im Rahmen einer Mordserie gehandelt habe, seitens der Kriminalpolizei als ein „entscheidende[r] Wendepunkt“ im Ermittlungsverfahren angesehen worden sei, denn vorher habe man es als ein „normales Tötungsdelikt“ angesehen. „Bis dahin hätten sie gedacht, es sei eine Einzeltat, ab dann sei bekannt gewesen, es handle sich um eine bundesweite Tötungsserie, das LKA habe angerufen. Kurze Zeit später habe er einen Anruf des ehemaligen Leiters der Soko Halbmond, (Albert) Vögeler, bekommen. Die Soko Halbmond sei ja zu dem Zeitpunkt schon eingestellt gewesen, Vögeler habe die Möglichkeit gesehen, die Ermittlungen weiterzuführen.“8Die in der Sache ermittelnde Staatsanwältin Kerstin Grimm wurde einen Tag später, am 12. März 2004 durch einen Anruf von EHK Scharen darüber informiert, dass die Tatwaffe identifiziert worden sei, und „diese Česká 83 bereits in vier weiteren Mordfällen in den Jahren von 2000 bis 2001 im gesamten Bundesgebiet verwandt worden“ sei. (PUAMV, S. 108) Als sie davon erfahren habe, dass der Mord an Turgut Teil einer bundesweiten Mordserie sei, „sei sie aus allen Wolken gefallen. Sie habe sich sofort mit Herrn Sch(aren) getroffen und das weitere Vorgehen abgestimmt. Dann sollte die ‚Soko Halbmond‘ ihre Arbeit wieder aufnehmen. (…) Am 17.03.2004 seien die Ermittler K. und Vögeler aus Bayern nach Rostock gekommen.“
Doch eben das, was sich für die Ermittler*innen in Rostock in ihrer Erinnerung als ein „entscheidender Wendepunkt“ darstellte, ein Hinweis bei dem die Staatsanwältin „aus allen Wolken“ gefallen sein will, wurde in der Folge nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben. Staatsanwältin Grimm erinnerte sich in ihrer Aussage dann noch daran, dass man besprochen habe, „dass es sinnvoll sei, wenn die Mordserie in die Hand einer einzigen Staatsanwaltschaft gelegt würde. Es sei an Bayern gedacht worden, es habe viele Indikationen für Organisierte Kriminalität gegeben, das ginge nicht dezentral. Das sei aber abgelehnt worden.“ Als Begründung habe man ausgeführt, „dass es keinen Sachzusammenhang gäbe, das könne man sehr wohl regional machen“, habe es geheißen, wobei sie „die Ablehnung der Übernahme durch die Staatsanwaltschaft Fürth (die zu diesem Zeitpunkt in den vorangegangen vier Mordfällen Şimşek, Özüdoğru, Taşköprü und Kılıç ermittelte) sehr verwundert“ habe.10
Langer Rede kurzer Sinn: Es sollte bis zum sechsten Mord an İsmail Yaşar am 9. Juni 2005 in Nürnberg dauern, bis die bundesweite Öffentlichkeit vom Mord an Mehmet Turgut als Teil der Mordserie erfuhr. Nachdem die Nürnberger Nachrichten über den Mord an Yaşar zunächst als fünftem der Serie berichtet hatten, informierte die Polizei die Öffentlichkeit in einer Pressemitteilung über den, wie es hieß, „Tatzusammenhang mit weiteren Tötungsdelikten.“ Darin stand zu lesen: „Seit kurzem muss auch der Mord an Yunus TURGUT (25) am Vormittag des 25.02.2004 in Rostock zu dieser Serie gezählt werden. T. war Verkäufer in einem Dönerstand. Auch hier besteht Übereinstimmung hinsichtlich der verwendeten Waffe.“11
Richtig gelesen: Durch die Mitte Juni 2005 wahrheitswidrig in Anschlag gebrachte Formulierung „seit kurzem muss auch der Mord an Yunus TURGUT“ hat sich der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelfranken einfach eines rhetorischen Tricks bedient: Es ist absurd einen zeitlichen Abstand von 16. Monaten in die Formulierung „… vor kurzem“ zusammen zu kürzen. Hier geht es darum, zu kaschieren, dass eben dieser Mord als Teil einer seit dem September 2000 in der Bundesrepublik anhaltenden Mordserie war, der von der Polizei gegenüber der Öffentlichkeit für 16 Monate unterschlagen worden war.
Von dem „Netzwerk von Kameraden“, als der sich der NSU selbst bezeichnete, wurde das nicht vergessen. Als das Mitglied des Kerntrios des NSU, Beate Zschäpe, nach der Selbstenttarnung und Selbstmord der beiden anderen Mörder Anfang November 2011 das sogenannte „Paulchen-Panther“-Bekennervideo verbreitete, wurden bis auf Mehmet Turgut zu allen Mordopfern Fotos und auf den jeweiligen Mordanschlag bezogene faksimilierte Presseartikel dokumentiert. Doch eben dieser Mord tauchte in der Presse für 16 Monate gar nicht und auch danach niemals prominent als Teil der Serie auf. Nebenklageanwalt Hardy Langer führte hier aus, wie sich die Mörder dann behalfen: „Auffällig anders – im Vergleich zu den übrigen Česká-Mordtaten – ist das Fehlen jeglicher Ausschnitte aus Zeitungen zu diesem Ereignis. Weder wurden solche in der Frühlingsstraße 26 (in Zwickau) gefunden, noch sind solche im sog. Bekennervideo verarbeitet. (…). Die dort im Video in der Schlußfassung (….) unter der sog. ‚Deutschlandtour‘ zum fünften Mord neben dem Foto von Mehmet Turgut eingestellte Zeitungsüberschrift ‚Rätsel um Morde‘ entstammt – offenbar in Ermangelung einer ‚passenden‘ Berichterstattung zum Rostocker Mord – einem Artikel der ‚Nürnberger Nachrichten‘ vom 10.11.2001 zu den ersten vier Mordopfern (… Der Untertitel: ‚Bereits vier Bluttaten bekannt‘ ist im sog. Bekennervideo derart abgedeckt, daß nur das Wort ‚Bluttaten‘ sichtbar ist.).“
Kein Thema im Bundeskanzleramt?
Mit dem Ende Februar 2004 in Rostock verübten fünften Mord der Česká-Serie forderte eine Bande die Institutionen des Sicherheitsapparats heraus. Schwer vorstellbar, dass hier bei den Verantwortlichen nicht alle Warnlampen angegangen sein sollen: „Das musste auffallen“, mutmaßte der in den Jahren 1973 bis 1982 als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt tätige Sozialdemokrat Albrecht Müller kurz nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011. Basierend auf seinen Arbeitserfahrungen in der werktäglichen Lagebesprechung zur inneren Sicherheit im Land, wies Müller drauf hin, dass es „nicht vorstellbar“ sei, dass der Kreis der zehn bis 15 Teilnehmer*innen der Lagebesprechung, zu denen u.a. der Chef des Bundeskanzleramts und der Regierungssprecher gehören, „nicht spätestens nach der Ermordung des fünften Türken mit der gleichen Pistole hätte wissen wollen, was da vorgeht. Das musste auffallen.“12
Was aber nun wirklich die Gründe dafür sind, dass die Sicherheitsbehörden nicht spätestens ab Mitte März 2004 angefangen haben, zu der anhaltenden Mordserie in aller Öffentlichkeit Alarm zu schlagen – sprich: die Öffentlichkeit mit umfassenden Informationen über den Stand der Dinge, etwa die Übernahme der Ermittlungen durch das BKA und den Generalbundesanwalt, zu versorgen – ist bis heute unbekannt. Weder in den PUAs im Bundestag ( NSU-PUA I 2014) noch in Schwerin (PUAMV 2021), auch nicht in dem zwischen 2013 – 2018 vor dem OLG in München durchgeführten Strafverfahren wurden die betreffenden Zeug*innen aus dem Sicherheitsapparat danach gefragt.
Erinnern an den Tod von Mehmet Turgut
Die Stadt Rostock hat am 25. Februar 2014 unter anderem im Beisein der Brüder des Ermordeten, Mustafa und Yunus Turgut, des Oberbürgermeisters Roland Methling, des Botschafters der Republik Türkei in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu, sowie der Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Prof. Barbara John, am Neudierkower Weg eine Gedenkplatte für Mehmet Turgut eingeweiht, der, so die Inschrift, „einer bundesweiten Mordserie zum Opfer fiel“13 Der explizite Hinweis auf die Mordserie steht bislang einzig in den Mahnmalen für die Opfer des NSU quer durch die ganze Bundesrepublik. Doch ausgerechnet hier ist das aus der oben dargelegten Beschreibung unpräzise vermerkt: Denn gegenüber der Öffentlichkeit existierte für die Polizei in der Zeit zwischen dem 11. März 2004 bis zum 10. Juni 2005 die Ermordung von Mehmet Tugut gar nicht als Teil einer Mordserie. Und das obwohl sie es besser wusste. Auch an diese verdeckte Polizeipraxis soll bei dem nunmehr anstehenden 20. Jahrestag der Ermordung von Mehmet Turgut erinnert werden.
1LT Mecklenburg-Vorpommern, Beschlussempfehlung und Zwischenbericht des 2. PUA zur Aufklärung der NSU-Aktivitäten in Mecklenburg-Vorpommern, Drs 7⁄6211 vom 2.6.2021URL: https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Parlamentsdokumente/Drucksachen/7_Wahlperiode/D07-6000/Drs07-6211.pdf
4AM, Neonazis unter Terrorverdacht / Der Brandenburger Generalstaatsanwalt ermittelt gegen eine Jugendgruppe, die von Ausländern betriebene Imbisse angezündet hat. Der Verdacht: Bildung einer terroristischen Vereinigung, in: taz vom 20.8.2004, S. 1 URL: https://taz.de/Neonazis-unter-Terrorverdacht/!710032/
5 Daniel Schulz, Rechter Terror mit Schriftführer und Kassierer / Westlich von Berlin wollte eine Gruppe Jugendlicher durch regelmäßige Brandanschläge sämtliche Ausländer aus ihrer Stadt vertreiben. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung erhoben, in: taz vom 25.11.2004, URL: https://taz.de/Rechter-Terror-mit-Schriftfuehrer-und-Kassierer/!669766/
6 Plenarprotokoll Landtag MV7⁄124 v. 9.6.2021, S. 106, URL: https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Parlamentsdokumente/Plenarprotokolle/7_Wahlperiode/PlPr07-0124.pdf
7POL-MFR: (1872) Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg, Hamburg und München hier: Aktueller Ermittlungsstand 08.10.2002 mit Bildveröffentlichungen, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/387608
11POL-MFR (847), Dönerstandbesitzer am 09.06.2005 in Nürnberg erschossen hier: Tatzusammenhang mit weiteren Tötungsdelikten und Fahndungsaufruf. Pressestelle vom 10.6.2005. URL: https://www.presseportal.de/ blaulicht/pm/6013/689016; zu dieser Zeit galt als Vorname es Ermordeten noch der Vorname seines Bruders Yunus
12 Albrecht Müller, Ich glaube nichts von dem, was uns die politisch Verantwortlichen über die Bekämpfung des Rechtsterrorismus erzählen, auf: nachdenkseiten.de vom 22.11.2011, URL: http://www.nachdenkseiten.de/?p=11383
13 Stadt Rostock, Tafeln am Gedenkort für Mehmet Turgut mit Inschriften in deutscher und türkischer Sprache, PM vom 21.2.2014, URL: https://rathaus.rostock.de/de/tafeln_am_gedenkort_f_uuml_r_mehmet_turgut_mit_inschriften_in_deutscher_und_t_uuml_rkischer_sprache/283156
Auch wenn der NSU-Komplex heute in der öffentlichen Wahrnehmung nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es bis heute offene Fragen. Sie führen uns schnell in ein Labyrinth, in dem immer wieder Verbindungen zwischen dem Sicherheitsapparat und der Neonaziszene aufscheinen, die sich dann aber als scheinbar zufällig vor unseren Augen wieder auflösen. Eine der stärksten Verbindungen dieser Art ist das Auftauchen des Kasseler Verfassungsschützers Andreas Temme zur Tatzeit am Tatort des 9. Mordes der sog. NSU-Mordserie, der im Laufe von 6 Jahre 10 Menschen zum Opfer fielen. Der 22-Jährige Halit Yozgat war am 6. April 2006 in seinem Internet-Café in Kassel ermordet worden. 55 Stunden zuvor, am 4. April 2006, war mit derselben Waffe, die bereits in sieben anderen Mordfällen verwendet worden war, in Dortmund Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk erschossen worden. Temme verließ seinen Dienstsitz beim Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz, fuhr direkt zum Tatort, betrat das gut besuchte Internet-Café und verließ es 10 Minuten später – in der Minute, in der der Mord begangen wurde – wieder. Es gibt bis heute keine Hinweise auf andere Täter. Einer der Gründe, warum sich die Aufmerksamkeit von der offensichtlichen Verbindung des Verfassungsschützers zur Mordserie abgewandt hat, liegt darin, dass die Česká-Mordserie, eine der größten Mordserien der Nachkriegsgeschichte, bei der von 2000 bis 2006 neun Morde — in der Sprache der Polizei „zum Nachteil“ von Migranten — verübt worden waren, als aufgeklärt gilt. In einem Mammutprozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) München wurden mit Beate Zschäpe und den (nicht mehr lebenden) Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Wesentlichen drei Täter*innen aus dem von Westdeutschland weit entfernten finsteren Osten für die Tat haftbar gemacht. Diese sollen — sozial wie politisch isoliert agierend — die Mordserie alleine verübt haben. Auch für den Mord an einer Polizistin in Heilbronn 2007 war nach Ansicht des Gerichts allein „das Trio“ verantwortlich. Aufgrund mangelnder Belege für eine konkrete Tatbeteiligung wird auch das Selbstenttarnungsvideo des NSU von 2011 als Indiz herangezogen. So findet sich in dem Urteil des Staatsschutzsenats in München der Hinweis, dass es doch der NSU selbst sei, der „in dem Video ‚Paulchen Panther´ (…) glaubhaft“ eingeräumt habe, „Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat getötet zu haben.“ [i] Dass das Video von einem „Netzwerk von Kameraden“ spricht – also sicher mehr als drei Menschen, die auch privat verbunden sind – wird nicht als Widerspruch thematisiert. Es war das Trio aus dem Osten. Wir sollten dieser Darstellung aus zwei Gründen misstrauen.
Gute Gründe zu misstrauen
Zum einen gibt es kriminalistisch betrachtet zu viele offene Fragen zu der Mordserie, die keineswegs als abgeklärt gelten können. Als wichtigsten Zeugen für diese Tatsache muss man den Vorsitzenden des zweiten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) des Bundestages zum NSU, den gelernten Polizisten und das CDU-Mitglied, Clemens Binninger, anführen. Unmittelbar vor dem Urteil des OLG München im Juli 2018 äußerte er sich folgendermaßen :
„Das Problem ist aber: Wir haben keine geständigen Täter, keine geständigen Unterstützer, außer zweien, die ihre Unterstützungshandlungen auf einmalige Leistungen beschränken. Es gibt keine Augenzeugen, die einen Täter so gut beschrieben haben, dass man sagen kann: die waren es. Und vor allen Dingen: Wir haben keine Spuren von Mundlos und Böhnhardt, nicht ihre Fingerabdrücke, nicht ihre DNA. Weder an den Tatorten, noch an den Opfern, noch an den Tatwaffen.“ Binninger legt sich fest: „Es gibt Tatbeteiligte, die wir noch nicht kennen“. [ii]
Von den vielen Unstimmigkeiten, die der These vom Trio anhaften, wollen wir hier nur drei kurz vorstellen, um zu verdeutlichen, dass wir es mit immer noch ungelösten Mordfällen zu tun haben.
Im Bericht des PUA im Landtag Nordrhein-Westfalens lässt sich nachlesen, dass im Dortmunder Mordfall – dem 8. Mord der Serie – ein Videoband der Überwachungskameras des Hauptbahnhofes existiert, auf dem am Tattag vor dem Verbrechen drei Männer und eine Frau zu erkennen sind. Der erste Mann führte ein Fahrrad mit sich. Der zweite Mann sieht aus wie ein Skinhead, mit Tarnhose und Bomberjacke mit Emblem sowie mit einem Rucksack. Die dritte männliche Person, die sich sehr konspirativ verhält, steht augenscheinlich in Beziehung zu den anderen beiden, ebenso wie eine unbekannte weibliche Person. Die Polizei erkannte 2012 eine gewisse Ähnlichkeit der zweiten Person mit Uwe Mundlos, sowie der Frau mit Beate Zschäpe. Eine Identifizierung war nicht möglich. Wenn es sich bei diesen Männern um die Täter gehandelt haben sollte, dann war ein dritter Mann an der Tat beteiligt. (PUANRW S.440)
Beim Kasseler Mord — dem 9. und letzten der rassistischen Serie — lassen die sehr gut bekannten Tatumstände kriminalistisch nur den Schluss zu, dass der Verfassungsschützer Andreas Temme die Tat begangen oder die Täter gesehen haben muss. Der Vater des Opfers, Ismail Yozgat, fasste diesen Sachverhalt sehr deutlich in Worte: „Herr Temme hat entweder gesehen, wer die Täter waren, oder er hat sie geführt, oder er hat selber die Tat begangen und meinen Sohn ermordet. Ich finde keine anderen Antworten als diese.“[iii] Wenn Temme nicht der Täter war deckt er somit logischerweise irgendjemanden. Warum?
Bei dem Polizistinnenmord in Heilbronn 2007 galt für das Landeskriminalamt (LKA) noch im Sommer 2011 die Hypothese, an der Tat seien insgesamt sechs Personen beteiligt gewesen. An einer Tatbeteiligung von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gibt es bis heute Zweifel. [iv]
Die Erzählung von den „Tätern aus dem Osten“ hat nämlich durchaus Parallelen zu der Erzählung von einer „ausländischen Mafia“, die über den gesamten Sicherheitsapparat (Polizei, Justiz, Verfassungsschutz) bis zur Selbstenttarnung des NSU 2011 rauf und runter gebetet wurde. Diese Erzählung stellte sich für die Polizei aber im Grunde schon ab Ende 2005 als unhaltbar heraus. Wider besseres Wissen wurde auch dann weiter von der Organisierten Kriminalität (OK) im Ausländerbereich gesprochen, als die Ermittler längst anderen Spuren folgten. In unserem Buch „Stärkere Strahlkraft — Wahrheit und Lüge in den polizeilichen Ermittlungen im NSU-Komplex 2000–2011“ haben wir versucht darzulegen, welche Motive diesem rassistischen Verhalten der Behörden zu Grunde liegen könnten.
An dieser Stelle wollen wir jedoch noch einmal auf die konkreten Ermittlungen zum 8. und 9. Mord der Serie eingehen und dafür argumentieren, dass die Ermittler im Sommer 2006 ihre ganze Aufmerksamkeit auf eine konkrete Gruppe von Neonazis richteten. Mehr noch: Sie wussten auch genau, mit wem sie es da zu tun hatten. Diese Ermittlungen wurden jedoch nie zu Ende geführt, weshalb es noch offene Fragen zur konkreten Beteiligung von lokalen Nazis am NSU-Komplex gibt. Da die Polizeibehörden ihre damaligen Ermittlungen nicht unbedingt immer und wenn nur unvollständig aktenkundig machten und der Öffentlichkeit kein Wort davon mitteilten, ist eine Rekonstruktion dieser Ermittlungen schwierig. Erst wenn man einige PUAs (vor allem: Bundestag II, NRW, Hessen, Bayern I), die Gerichtsprotokolle und die relevanten Zeitungsartikel miteinander abgleicht, bekommt man ein Bild von den damaligen Ermittlungen. Vor allem aber liefert der kürzlich veröffentlichte 1400 Seiten umfassende Bericht des PUA des Hessischen Landtages zur Mordsache Walter Lübcke. (PUA Lueb Drs. 20⁄11359) weitere wertvolle Bausteine. Dies ist unseres Erachtens kein Zufall, denn wir werden dafür argumentieren, dass sehr wohl eine Spur vom NSU zum Mord an Walter Lübcke führt.
Der Blick nach rechts
Auch wenn viele Details bereits bekannt sind, ist unsere in „Stärkere Strahlkraft“ dargelegte Hypothese, dass die Polizei bei den Morden in Dortmund und Kassel (und damit in der ganzen Serie) systematisch und verstärkt Neonazis als Tatverdächtige im Visier hatte, keineswegs durchgedrungen. So formulierte z.B. Tanjev Schultz in einer 2021 publizierten „Zwischenbilanz“ zum NSU, dass die Polizei auch im Jahre 2006 „noch nichts Greifbares in Händen“ gehalten habe.[v] Völlig unzutreffend erscheint uns auch die apodiktische Feststellung in einem ansonsten gut zu lesenden Aufsatz von Juliane Karakayalı und Massimo Perinelli zu den Tücken einer staatlich orchestrierten Gedenkpolitik in Sachen NSU, dass seitens der Polizei „in all diesen Jahren“ der Mordserie „kein Moment lang in die rechte Szene hinein ermittelt“ worden sei.[vi] Diese Einschätzungen über die konkreten polizeilichen Ermittlungen sind nicht überzeugend. Sie sind aber auch nicht einfach das Ergebnis von mangelnder Recherche. Im NSU-Komplex gibt es eine Konstante: Die zahlreichen Spuren, die die Polizei auch zu Nazis führten, wurden praktisch immer unter Verschluss gehalten. Sie mussten von den Betroffenen und ihren Anwälten, von linken Aktivist*innen oder Journalist*innen in mühseliger Kleinarbeit ausgegraben und präsentiert werden. Nazibezüge wurden zum Teil umständlich verschleiert. Das führte mitunter zu kuriosen Wendungen wie in Dortmund. Hier wird in einem Protokoll des Staatsschutzes ernsthaft vermerkt, dass die Zeugin laut eigener Aussage „sich wohl darin getäuscht hätte“, als sie aussagte, dass die Täter rechtsradikal ausgesehen hätten. Der ermittelnde Kriminalbeamte Michael Schenk „konnte keine Erklärung dafür geben, dass die Begriffe „Rechtsradikale“ bzw. „Nazis“ in keinem der Protokolle Niederschlag gefunden haben.“ (PUANRW, S. 438) Dazu kam, dass viele Angehörige und Personen aus dem Umfeld der Ermordeten insistierten, dass hier Nazis oder „Ausländerhasser“ am Werk gewesen und rassistische Motive zu vermuten seien. Diese Hinweise wurden nicht in der Öffentlichkeit kommuniziert, ganz im Gegensatz zu zum Teil absurden Vermutungen zur Verstrickung der Opfer in Drogen- und Organisierte Kriminalität, Mafia, Schutzgelderpressung, Spielsucht, Eifersucht und Ehebruch, die den Weg in die Pressestatements der Polizei fanden. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass im Fall der damaligen Ermittlungen gegen Temme und die Kasseler Naziszene dasselbe passierte. Im folgenden Abschnitt machen wir noch einmal unsere Hypothese stark, dass die Polizei bei ihren Ermittlungen zu den Morden an Mehmet Kubaşık in Dortmund und und Halit Yozgat in Kassel und damit in der ganzen Serie systematisch und verstärkt Neonazis als Tatverdächtige im Visier hatte.
Der Kasseler Mord vom 6. April 2006
Um unsere These zu erläutern, müssen wir uns über 15 Jahre zurückbegeben, zum 8. und 9. Mord der Serie am 4. und 6. April 2006. Mit diesen beiden Serientaten im Vorfeld der Fußball-WM in Deutschland bekamen die Serienkiller nun endgültig bundesweite Aufmerksamkeit in der Presse. Während die Öffentlichkeit jedoch mit völlig haltlosen alten, längst verworfenen Ermittlungsansätzen zu einer angeblich international operierenden „Drogenmafia“ versorgt wurde, vollzogen die Ermittler*innen eine 180-Grad-Wende. Der Grund: In Kassel war es der Mordkommission „MK Café“ gelungen, einen Mann zu finden, gegen den „der dringende Verdacht des Mordes“ bestand. Der Mann hatte sich zum Tatzeitpunkt der Ermordung von Halit Yozgat im Internet-Café in der Holländischen Straße aufgehalten und sich trotz mehrerer Zeugenaufrufe nicht bei der Polizei gemeldet. Als der Mann am 21.April 2006 festgenommen werden soll, stellte sich heraus, dass es ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutzes Hessen (LfV) war. Sein Name: Andreas Temme. Bei der Durchsuchung von Diensträumen und Wohnung finden die Polizeibeamten das Diensthandy, Haschisch und ein Notizbuch. Sie finden auch tatrelevante Bücher, darunter: „Immer wieder töten – Serienmörder und das Erstellen von Täterprofilen“. Dazu kommt spezielle Literatur über den Nationalsozialismus, etwa der „Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS“, „Wille und Weg des Nationalsozialismus“ und „Das wirtschaftliche Sofortprogramm der NSDAP 1932“. Daneben Zeichenhefte, in die sorgfältig die Orden des Dritten Reichs gemalt sind. Außerdem stellt die Kripo Auszüge von Hitlers „Mein Kampf“ sicher.[vii] Temme hatte erhebliche Mengen an Munition und Waffen in seinen Wohnräumen, er war ausgebildeter Sportschütze mit einem Waffenschein. Mit Temme war die Polizei auf den ersten Tatverdächtigen in der Mordserie an neun Migranten gestoßen. Mehr noch: Auf jemanden, bei dem klare Nazi-Bezüge dokumentierbar waren, und der zudem noch als Bediensteter und V‑Mann-Führer eines LfV selbst gewalttätige Nazis „verwaltete“. Mittels Telefonüberwachung stellte sich schnell heraus, dass Temmes Ehefrau über Täterwissen verfügte und sich über den Mord in rassistischer Weise lustig machte.[viii]
Der Mord in Dortmund und die bisherigen Morde der Serie
Unmittelbar nach dem Mord an Mehmet Kubaşık in Dortmund am 4. April 2006 meldete sich die Zeugin Jelica Demian (Name verfremdet) bei der Polizei. Ihr waren zur Tatzeit in der Nähe des Kiosks, in dem Kubaşık ermordet worden war, zwei Basecap tragende Männer, von denen einer ein Fahrrad schob, entgegengekommen, denen sie direkt ins Gesicht geblickt habe. Am nächsten Tag beschrieb sie diese in ihrer ersten Zeugenaussage vor zwei Beamten des polizeilichen Staatsschutzes als „Junkies oder Nazis“. Das wurde zwar in dem von den Staatsschutzbeamten gefertigten Vernehmungsprotokoll weggelassen (Stärkere Strahlkraft, S. 174ff), fand aber indirekt Eingang in die erste öffentliche Stellungnahme des ermittelnden Dortmunder Staatsanwaltes Heiko Artkämper. Gegenüber der Westfälischen Rundschau vom 8. April erwähnte er — ohne dabei schon von dem Mord in Kassel zu wissen — erstmals seit Beginn der Mordserie an nunmehr acht Migranten einen „rechtsradikalen Hintergrund“ als mögliches Motiv mit.
Die Polizei hatte bis zum Frühjahr 2006 wenig Konkretes in der Mordserie ermitteln können. Bei zwei Morden (1. und 3. Mord in Nürnberg bzw. Hamburg) waren zwei Waffen verwendet worden, beim 6. Mord in Nürnberg 2005 hatten zahlreiche glaubwürdige Zeugen zwei Fahrradfahrer vor, während und nach der Tat gesehen. Fahrradfahrer waren bereits beim ersten Mord in Nürnberg und beim 4. Mord in München gesehen worden. Mit der Dortmunder Augenzeugin verdichtete sich das Täterprofil, denn alle Zeugen hatten die beiden Fahrradfahrer gleich beschrieben: Zwischen 20 und 30 Jahre, schlank, nicht dunkelhäutig, über 1,80 Meter groß, Basecap, kurze Haare und – so die Dortmunder Zeugin – vom Typ her wie Nazis (oder Junkies: was immer diese Gleichsetzung zu bedeuten hat).
Ein neuer Ermittlungsansatz
Die hauptsächlich ermittelnden Mordkommissionen in Kassel (MK Café), Dortmund (MK Kiosk) und die mit der Mordserie bereits befasste „Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Bosporus aus Nürnberg wählten nun – so unsere Hypothese — einen neuen Ermittlungsansatz. Der lange Jahre in der Mordserie ermittelnde Kriminalpolizist Werner Störzer formulierte das einmal indirekt so, dass es die Festnahme des ersten Tatverdächtigen in der Mordserie gewesen sei, die für die Polizei einen „Quantensprung“ in ihren weiteren Ermittlungen ausgelöst habe. (PUA Bayern, S. 107) Überzeugt davon, über Temme, der aus Sicht der Ermittler*innen an der Tat beteiligt war, an weitere Hintermänner zu gelangen, suchte man jetzt konkret nach jüngeren Nazis aus Temmes Umfeld. Der dringend tatverdächtige Temme war 2006 bereits 40 und damit eher zu alt, um auf die Beschreibungen der mutmaßlichen Mörder zu passen. Temme passte eher zu einer Beobachtung beim 2. Mord an Abdurrahim Özüdoğru im Juni 2001 in Nürnberg. Allerdings war der damals per Phantombild gesuchte Mann nicht direkt zur Tatzeit gesehen worden. Die Ermittlungen konzentrierten sich also darauf – am besten zwei — jüngere Tatverdächtige zu finden, auf die die Beschreibungen der Zeug*innen zutraf und die in Kontakt mit Temme standen.
Dem ermittelnden Staatsanwalt Götz Wied ging es darum, „Erkenntnisse über Kontakte des Beschuldigten zu Personen zu gewinnen, die möglicherweise als Hintermänner der Tat in Frage kommen.“ (PUA Hessen, Linke, S. 74) Die Konzentration auf konkrete Tatverdächtige in Temmes Umfeld kann ein Grund dafür gewesen sein, dass man in Dortmund gar nicht mehr nach Tatverdächtigen fahndete. Dort gab es, soweit ersichtlich, weder eine Weitergabe der Aussage der oben zitierten Augenzeugin, noch einen Hinweis auf Fahrradfahrer und auch kein Phantombild für die Öffentlichkeitsfahndung. (Stärkere Strahlkraft, S. 176ff)
Konflikte zwischen den Mordkommissionen und dem Verfassungsschutz
Für die Polizeibeamt*innen zeichnete sich ab, dass Temme zum Zeitpunkt der Tat im Internet-Café mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen dienstlichen Einsatz für seine Behörde absolviert hatte. Im Zuge der Ermittlungen gegen Temme und seine Hintermänner kam es zu Konflikten der Polizeibehörden mit dem LfV Hessen. Diese sind inzwischen teilweise dokumentiert. Der engagierten Recherche der Rechtsanwälte von Ismael Yozgat, Thomas Bliwier, Alexander Kienzle und Doris Dierbach, während des Strafprozesses vor dem OLG München verdanken wir die Kenntnis einiger Abhörprotokolle der fraglichen Telefongespräche. Aus ihnen geht hervor, dass das Amt versuchte, Temme wieder in den Dienst einzugliedern, und sich gegenüber den Mordermittler*innen unkooperativ zeigte. Der von der Staatsanwaltschaft geplante Haftbefehl gegen Temme – der gleich in seiner ersten Befragung gelogen hatte und so für die Polizei unglaubwürdig war – wurde nicht realisiert, schließlich sei gar „kein Haftbefehlsantrag“ gestellt worden, so der zuständige Staatsanwalt Götz Wied Jahre später vor dem 2. PUA des Bundestages.[ix] Der SPIEGEL sollte den Vorfall drei Monate später als „ politische Katastrophe mit kaum absehbaren internationalen Folgen“ bezeichnen. Die Ermittler*innen soll „statt Freude über den Erfolg“ der Festnahme von Temme, so die Formulierung, darüber „blankes Entsetzen“ ergriffen haben. [x] Wenn es so stimmt, wie es überliefert ist, dann war dieses Entsetzen der Polizei völlig berechtigt: Denn damit war den Ermittler*innen auch deutlich geworden, dass sich die weiteren Ermittlungen in dieser Causa zwangsläufig gegen das hessische Innenministerium würden zu richten haben. Das LfV Hessen war – was sich schnell zeigte – nicht sonderlich daran interessiert bei der Aufklärung der Mordserie mitzuwirken. Mit schnellen Entwicklungen bei den Vernehmungen im Umfeld des Tatverdächtigen war also nicht zu rechnen. Die „MK Café“ war hingegen an einer möglichst schnellen Aufklärung der Mordserie gelegen und so beschritt sie eine nachvollziehbare Doppelstrategie.
Sie suchte einerseits ein Arrangement mit dem LfV Hessen. Ganz in diesem Sinne richtete z.B. Staatsanwalt Wied vier Tage nach der Festnahme des Verfassungsschutzbeamten Temme an dessen Vorgesetzte im LfV, Iris Pilling, ein „Auskunftsersuchen in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren […] gegen den Mitarbeiter des LfV Andreas Temme“: Dringend erforderlich, schrieb Wied an Pilling, seien „Auskünfte über die berufliche Tätigkeit des Beschuldigten“, um so „die weitere Erforschung des Sachverhaltes und insbesondere die Aufklärung des Umfangs der Beteiligung von Herrn Temme“ an der Mordserie in Erfahrung zu bringen. Von Interesse seien dabei „die Aufenthaltsorte von Herrn Temme zu den Tatzeiten der vorangegangenen Tötungsdelikte“. Wied wies darauf hin, dass das auch „durch Befragung der von Herrn Temme geführten VMs erfolgen sollte“. (PUA Hessen, Linke, S.74)
Andererseits ging die Polizei eigene Ermittlungswege. Dazu gehörte auch die Überwachung einer Reihe von Telefonanschlüssen (TKÜ), unter anderem Temmes Dienst-und Privatnummern. Dabei stellte sich nicht nur heraus, dass man beim LfV keinesfalls an Aufklärung in der Mordserie interessiert war. Vielmehr erhielt der Tatverdächtige Temme auch noch Rückendeckung für seine Aktion im Internetcafé. Eine derartige Rückendeckung hat nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es sich hier mit aller Wahrscheinlichkeit um einen dienstlichen Einsatz gehandelt hat. Dies legen die abgehörten Telefonate auch nahe. Auch beschattete die Polizei Temme und versuchte z.B. ein Gespräch zwischen ihm und seiner Vorgesetzten Iris Pilling abzuhören, jener Kontaktperson, an die man offizielle Anfragen gesandt hatte. Dies misslang jedoch, da man sich beim Landesamt anscheinend gerne an einer lebhaft frequentierten Autobahnraststätte trifft. Die beschattenden Polizeibeamt*innen konnten das Gespräch nicht mithören, da sie nicht nahe genug an den Tatverdächtigen herankamen. (PUA Hessen, Linke, S. 78)
Es stellte sich also heraus, dass man vom LfV keine Unterstützung zu erwarten hatte und weitere Vernehmungen von Temme und seinem Umfeld sehr schwierig werden würden. Die Beamt*innen überlegten sogar, ob das Verhalten des Amtes strafwürdig sei, und diskutierten, inwiefern Temmes Vorgesetzte sich des Delikts der Strafvereitelung schuldig machten. Anfang Juni fertigte die Polizei einen Vermerk, dass „die TKÜ-Maßnahmen bei dem Beschuldigten LfV-Beamten TEMME kritische Feststellungen hinsichtlich des Verhaltens von Vorgesetzten des Beschuldigten erbracht haben.“ Es wurde darum gebeten, dass diese „Information […] auf einen möglichst kleinen Personenkreis beschränkt bleiben“ solle, kurz: „Keinerlei Hinweise unserer Bedenken an LfVH.“ (PUA Hessen, Linke, S. 74⁄75).
Temmes Quellen als mutmaßliche Tatbeteiligte
Bei der Durchsuchung von Temmes Unterlagen hatte die Polizei seine Quellen enttarnt und kannte somit seine V‑Leute, auch die aus der Kasseler Naziszene: „Zwischenzeitlich war es den Ermittelnden gelungen, anhand der bei Temme beschlagnahmten Unterlagen die Klarnamen der von ihm geführten VM [Vertrauensmänner] zu ermitteln.“ (PUA Hessen, Linke, S. 229). Aus zahlreichen Akten, die vom Hessischen PUA eingesehen werden konnten, geht hervor, dass über offizielle Kanäle versucht worden ist, alle V‑Leute von Temme zu befragen. Es gab, berechtigterweise, kein Vertrauen der Ermittelnden zum LfV. Andererseits waren die Nazis um Temme wichtige Tatverdächtige und als solche die bisher beste Spur. Es ist eine offene Frage, warum die Ermittlenden, wie es Clemens Binninger einmal im ersten NSU-PUA im Bundestag ausrief, damals nicht direkt auf die Zeugen oder mutmaßlichen Tatbeteiligten zugegangen waren Es sei ja schließlich um nichts geringeres als um die Aufklärung einer Mordserie gegangen. Da die Polizei kein Interesse daran hatte, sich vom LfV in die Karten schauen zu lassen, gibt es Gründe davon auszugehen, dass die Polizei bei manchen Ermittlungsschritten sehr vorsichtig war, was deren Dokumentation angeht. Vielleicht sind die Beamt*innen ja viel direkter auf die Tatverdächtigen zugegangen als heute bekannt ist. Im PUA Hessen ist dazu vermerkt: „Die StA [Staatsanwaltschaft] erwog zunächst, die Quellen ohne Einverständnis des LfV zur Vernehmung abzuholen, entschied sich dann aber dagegen“ (PUA Hessen, Linke, S. 229). Interessanterweise wird die Staatsanwaltschaft erwähnt, obwohl doch die Polizei für Vernehmungen zuständig gewesen wäre. Auch die Wortwahl „abzuholen“ fällt hier auf, man hatte also auch die Adressen dieser Leute.
Ein erster Treffer
Auch wenn im Dunkeln bleibt, wie die Ermittelnden genau an Temmes Umfeld herankamen, so ist uns doch bekannt, dass sie einen von Temmes V‑Leuten, einen Benjamin Gärtner, ausfindig machen konnten. Gärtner war in der Kasseler Neonaziszene aktiv. Sein Halbbruder galt als der Anführer der „Kameradschaft Kassel“. Gärtner hatte Zugang zu wichtigen Neonazi-Anführern in Nordhessen, die auch enge Kontakte nach Dortmund pflegten. (PUABTII, S. 888) Gärtner war 2006 ca. 22 Jahre alt und „hochgewachsen“[xi] sowie ein Neonazi, passte damit also zu den erwähnten Täterbeschreibungen. Dazu kam aber noch mehr: Temme und Gärtner hatten am Tattag zweimal telefoniert. Es konnte ermittelt werden, „dass zwischen Temme und Gärtner auch am 09.06.2005 (6. Mord in der Serie in Nürnberg an İsmail Yaşar) u. 15.06.2005 (7. Mord in München an Theodoros Boulgarides) Telefonate geplant waren bzw. stattgefunden haben.“ (PUA Hessen, Linke, S. 126) Ebenso fand ein Treffen mit Gärtner am 10. April, 4 Tage nach der Tat in Kassel, statt. Diese Erkenntnisse sind aus polizeilicher Sicht Volltreffer. Es gibt ein weiteres Indiz, welches eine Tatbeteiligung von Gärtner nahelegt, welches den Ermittlern 2006 jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht vorlag. Es gab am Tattag, schon kurz bevor Temme zum Tatort gefahren war, ein 11-minütiges Telefongespräch zwischen ihm und Benjamin Gärtner.
Als Benjamin Gärtner zum Mordfall in Kassel erstmals im April 2012 durch die Bundesanwaltschaft vernommen wurde, wurde ihm ein Anwalt des Verfassungsschutzes zur Seite gestellt, der ihn bei jeder Frage beraten konnte. Aus den vom PUA Hessen eingesehenen Akten ergibt sich – wenig überraschend –, dass das hessische Innenministerium an einer unkontrollierten polizeilichen Vernehmung ihrer „Vertrauenspersonen“ kein Interesse hatte. So wurde der Polizei lediglich offeriert, dass man doch selber die V‑Leute befragen und die Verhörprotokolle der Polizei übersenden werde. Es ist also nicht verwunderlich, dass sich die Mordermittlern*inne der „MK Café“ in ihrer Korrespondenz mit dem Amt nicht damit einverstanden zeigten, dass man die Zeugen nicht selbst vernehmen können würde. Ein weiteres Indiz, dass Gärtner damals eine wichtige Spur war, ergibt sich retrospektiv aus der Tatsache, dass der GBA kurz nach der Enttarnung des NSU 2011 eine Liste mit möglichen Unterstützer*innen anfertigte, auf der Gärtner stand.
Neues Profiling
Während die konkreten Ermittlungen in der Kasseler Naziszene stattfanden, kam Bewegung in die bundesweiten Ermittlungen, die aus Nürnberg koordiniert wurden. Plötzlich wurden wichtige Zeuginnen befragt, ein neues Profiling verfasst und ein Zusammenhang der Mordserie zum Nagelbombenanschlag in Köln wieder ausgegraben. Die Beamt*innen schienen sich recht sicher gewesen zu sein, dass sie kurz vor einem Fahndungserfolg standen, bei dem sie der Öffentlichkeit Neonazis als Tatverdächtige würden präsentieren können. Wenige Tage nachdem die Ermittlungen gegen Temme aufgenommen worden waren, gab man auch ein neues Profiling, unter der Fachbezeichnung Operative Fallanalyse (OFA), in Auftrag. Ziel: Eine gut ausgeführte Begründung dafür vorzulegen, warum ein Richtungswechsel in den weiteren Ermittlungen in der Mordserie angezeigt sei: Weg von der jahrelang ergebnislos verfolgten These der Organisierten Kriminalität (OK), hin zur Verfolgung einer gut organisierten und bundesweit operierenden Nazi-Gruppe. Das Profiling wurde in einer Rekordzeit von lediglich zwei Wochen von dem Fallanalytiker des LKA Bayern, Alexander Horn, zusammen mit vier weiteren Kolleg*innen fertig gestellt. Das Profiling kam zu dem Ergebnis, dass es sich wahrscheinlich um zwei Täter handeln müsse. Für einen Mittäter sprächen laut OFA vor allem die Zeug*innenaussagen im Fall des Mordes an İsmail Yaşar in Nürnberg im Juni 2005, bei dem die beiden Täter mit den Fahrrädern ja von vielen Zeug*innen gesehen worden waren, und die Verwendung von zwei Waffen bei den Morden an Enver Şimşek im September 2000 in Nürnberg und Süleyman Taşköprü in Hamburg im Juni 2001. Die Fallanalyse bezog alle empirischen Befunde in die Analyse mit ein (dieselbe Waffe, Tat am Tage ausgeführt, Opfer kannten einander nicht, Opfer waren aus Sicht des Täters austauschbar). Es entstand ein Täterprofil, das von einem oder zwei Tätern ausging, die bis zum Jahr 2000 eine Nähe zur rechten Szene gehabt, eine ausländerfeindliche Gesinnung besessen und die größte ethnische Minderheit in Deutschland, Türk*innen, gehasst hätten. Alexander Horn sagte bei der Vorstellung vor der „BAO Bosporus“ in Nürnberg am 9. Mai 2006: „Wenn es zwei Täter sind, wofür ja sehr vieles spricht, verbindet sie eine starke Dynamik. Sie inszenieren ihre Taten wie ein Abenteuer, wie eine militärische Kommandoaktion eben. Sie sind entweder Brüder – oder Brüder im Geiste.“ Das Profiling forderte die nochmalige Untersuchung des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße. Als Parallele zu den Mordtaten wurde hier gesehen: „Anschlag mit Nagelbombe in Straße mit eindeutig erkennbarem Schwerpunkt türkischer Geschäfte – Ermittlungen konnten bisher weder OK-Hintergrund, noch sonstiges Motiv erhellen; – Tatbegehung durch zwei Männer mit Fahrrädern; Tatbegehung als „Kommandoaktion““.(PUABT I, S. 578) Der später eng mit Horn für die Buchpublikation „Profiler auf der Spur von Serientätern“ zusammen arbeitende Journalist der Süddeutschen Joachim Käppner sollte hier in Bezug auf den Bombenanschlag in der Keupstrasse darauf verweisen, dass dieser „viele Parallelen zu den neun Morden auf(weise). Etwa die Männer mit den Fahrrädern, wie die beiden, von denen bei den Česká-Morden mehrfach berichtet wurde. Wie bei diesen geschah der Anschlag in einem Viertel mit hohem Ausländeranteil; das Motiv, (…) scheint dasselbe zu sein: Zerstörungsdrang, Hass“. (J. Käppner, S. 277)
Als Ermittlungsansätze empfahl die OFA u.a., dass man nach Personen mit Waffen- oder Sprengstoffaffinität suchen solle, die der Naziszene nahestanden. Auch Ermittlungen in den lokalen Naziszenen von Dortmund und Kassel werden in der OFA angeregt.
Liest man dieses Profiling durch, so beschreiben Teile davon den tatverdächtigen Verfassungsschützer Andreas Temme. Er wird darin ohne Namensnennung indirekt als „Person mit Tüte“ benannt. Bevor die Ermittelnden die Identität von Temme feststellen konnten, wurde nach ihm seinerzeit bereits gefahndet. Mehrere Zeug*innen hatten berichtet, dass diese Person eine auffällige Supermarkt-Plastiktüte getragen habe, die oben zugemacht worden war und in der sich etwas Eckiges befand. Bemerkenswert an diesem Profiling war auch die Ansage, nunmehr den Nagelbombenanschlag auf die Keupstraße in Köln vom Juni 2004 in die Ermittlungen zu der Mordserie an den Migranten einzubeziehen. Eben das war noch ein Jahr zuvor bei der Gründung der „BAO Bosporus“ gegen die auch presseöffentlich ausgesprochenen Anregungen der Kriminalpolizei in Köln von den Verantwortlichen in Nürnberg verworfen worden. Die Gründung der „BAO Bosporus“ war ganz unmittelbar und direkt mit dem Ende der Spur nach Köln verbunden. Der Sprecher des Polizeipräsidiums Nürnberg, Kiminalrat Peter Grösch, hatte damals in der Nürnberger Zeitung vom 23. Juni 2005 apodiktisch erklärt: „Eine von den Medien ins Spiel gebrachte Verbindung zwischen der Mordserie und dem Nagelbomben-Attentat vor einem Jahr in Köln besteht jedoch nicht. (…) Es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen dem Verbrechen in Köln und den sieben Morden an den Kleinunternehmern.“ Nun machten die polizeilichen Ermittler mit ihrer Entscheidung, den mörderischen Anschlag auf die Keupstraße in die weiteren Ermittlungen aufzunehmen, klar, dass sie in ihrer Suche entschieden Kurs auf eine Nazi-Organisierung nahmen. Am 23. Mai 2006, zwei Wochen nach einer internen Vorstellung der OFA, wurde eine der wichtigen Zeuginnen aus Nürnberg, die die Mörder von İsmail Yaşar im Juni 2005 beobachtet hatte, zu dem Überwachungsvideo in der Keupstraße befragt. Es zeigte zwei Basecap tragende, ein Fahrrad mit einem Topcase schiebende Männer mutmaßlich auf dem Weg zum Tatort. Beide wurden von der Nürnberger Zeugin als Mörder von Yaşar wiedererkannt. (PUA Bayern, S. 99
Ein weiterer Treffer
In Kassel und Dortmund führten die Ermittlungen im Juni 2006 zu einem weiteren Treffer, der unseres Erachtens bis heute überhaupt nicht klar erfasst worden ist. Am Freitag, 9. Juni, legen die Ermittler in Dortmund der Zeugin Jelica Demian* ein Lichtbild von Andreas Temme vor. Dabei konnte sie ihn nicht als einen der Täter identifizieren, die sie gesehen hatte. Temme war offensichtlich zu alt. Ob der Zeugin ein Lichtbild von Gärtner vorgelegt wurde, ist nicht bekannt, wohl aber denkbar. Drei Tage später, am Montag, 12. Juni, luden die in Kassel Ermittelnden Markus Hartmann zur Vernehmung auf das Kasseler Polizeipräsidium vor. Hartmann war der Polizei als Neonazi bekannt, er hatte zuletzt Anfang 2006 in einer Kneipe einen Hitlergruß gezeigt. Die Abteilung Staatsschutz der Polizei war in Kassel und Umgebung für die politisch motivierten Straftaten im Bereich Rechtsextremismus zuständig. Sie ermittelte deshalb zum Beispiel bei Delikten wie dem Zeigen des Hitlergrußes oder anderweitigem Verwenden von Zeichen verfassungswidriger Organisationen (§86a StGB). (PUA Lueb, S. 47) Erst kurz vor dem Mord an Hailt Yozgat, im März 2006, hatte das LfV Hessen eine Personenermittlung zu Hartmann angestrengt. Dabei wollte man „die vollständigen Personendaten, sowie ein Lichtbild und Polizeiliche Erkenntnisse“ ermitteln. (PUA Lueb, SPD, FDP, S. 256) Das bedeutete aber wiederum, dass der Polizei bekannt war, dass Hartmann für das LfV von Interesse war. Inwieweit Andreas Temme an der Beschaffung der Informationen zu Hartmann beteiligt war, ist nicht bekannt. Denkbar ist, dass sich Hartmanns Name in dem Notizbuch befand, welches die Polizei bei Temme sichergestellt hatte.
Die SPD und FDP-Landtagsfraktionen in Hessen haben nun im Untersuchungsauschussbericht zur Ermordung von Walter Lübcke die Vernehmung von Hartmann ausführlicher dargestellt.
Hartmann sei durch seinen Freund Nazif Kasan* auf den Mord an Halit Yozgat aufmerksam gemacht worden. Kasan* sei mit der Familie Yozgat verschwägert. Hartmann erzählte den vernehmenden Beamt*innen, dass er auf einer BKA-Webseite nach einem Foto des Verstorbenen gesucht habe, da er diesen ja wahrscheinlich gekannt habe. Einmal habe er Halit Yozgat direkt getroffen, und zwar „an der Imbissbude der Familie K., direkt an dem Wohnhaus, xxx1021, […] und dadurch auch ganz kurz kennen gelernt.“ Hartmann wurde noch kurz zu seinem Alibi am Tag der Ermordung von Halit Yozgat befragt und dann aus der Vernehmung entlassen. In seiner Vernehmung durch den hessischen Untersuchungsausschuss gab Hartmann Mitte Dezember 2022 noch an, vor der Vernehmung von dem Polizeibeamten im Treppenhaus „auf die Sache mit der Verurteilung wegen des Hitlergrußes angesprochen“ worden zu sein. (PUA Lueb, SPD/FDP, S. 308–12)
Hartmann, Jahrgang 1976, war zu Beginn der Mordserie Mitte zwanzig und hätte ohne Weiteres zu den Zeug*innenaussagen über die beiden Fahrradfahrer aus Köln und Nürnberg gepasst. Auf ihn traf auch das im Profiling (OFA Horn) angesprochene Merkmal wie Sprengstoffaffinität zu. Hartmann war am 7. April 2005, also fast genau ein Jahr vor dem Mord, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung nach § 34 der „Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz“ ausgestellt worden, mit der er an einem Sprengstofflehrgang teilnehmen konnte. Er war offensichtlich in der Kasseler Naziszene aktiv, der 2006 etwa 30 Personen angehört haben sollen. Mit Benjamin Gärtner wird er wohl schon deshalb bekannt gewesen sein. Im Lübcke-PUA wird mehrfach erwähnt, dass die Meldeadressen der beiden nahe zueinander gelegen haben sollen. Der wichtigste Punkt jedoch war einer, der für die Ermittelnden in der ganzen Mordserie immer eine extreme Bedeutung hatte: Hartmann kannte das Mordopfer. Allein diese Beziehung musste als Spur gewertet werden.
Während Hartmann in Kassel verhört wurde, war am gleichen Tag in Dortmund auch die Augenzeugin vorgeladen, um ein Phantombild des Fahrradfahrers mit Basecap anzufertigen. Da in Dortmund im Zuge der Ermittlungen in Kassel alle Hinweise auf die dortigen Tatverdächtigen (Fahrräder, Bezeichnung als Nazis, Personenbeschreibungen) der Öffentlichkeit vorenthalten worden waren (Stärkere Strahlkraft, S. 176ff), gab es keinen nachvollziehbaren Grund, zwei Monate nach der Tat plötzlich ein Phantombild anfertigen zu lassen. Es ist, soweit wir das wissen, 2006 auch nicht an die Presse weitergegeben worden. Es diente wohl eher dazu, bei den Ermittlungen in der Kasseler Naziszene mit einer Bildvorlage arbeiten zu können. Ob der Dortmunder Zeugin, die in der gleichen Woche nochmals einbestellt wurde, ein Foto von Hartmann gezeigt worden ist, ist nicht bekannt.
Vernehmung von Temme wird vorbereitet
Mit Temme, Gärtner und Hartmann schienen die Ermittelnden eine Gruppe von drei rechtsgerichteten Tatverdächtigen eingekreist zu haben, welche sich nach entsprechenden Vernehmungen dem Haftrichter würden vorführen lassen. Allein Temme war nach wie vor dringend tatverdächtig. Der Verdacht gegen ihn erhärtete sich am 16. Juni durch eine genaue Rekonstruktion des Mordes in Kassel. Dabei wurden die Zeug*innenaussagen wiedergegeben und in einen Zusammenhang gebracht mit den jeweiligen PC- und Telefon-Aktivitäten der einzelnen Zeug*innen in dem Internet-Café. (PUA Hessen, Linke S.20 ff) Am selben Tag wurde eine Wegrekonstruktion mit der Dortmunder Zeugin gemacht und ein neues Protokoll erstellt. In diesem tauchen zwei neue Aspekte auf. Sie erwähnt das Basecap und bezeichnet die beiden tatverdächtigen Männer als „Junkies oder Nazis“. Die Ermittler*innen waren jetzt jeden Tag aktiv.
Am 18. Juni fasst Profiler Alexander Horn in einem Vermerk für die „MK Café“ den bis dahin erreichten Wissensstand zu Andreas Temme zusammen. Er forderte hier, dass „im Rahmen der Vorbereitung der Vernehmung“ von Temme Gespräche mit den Verantwortlichen des hessischen LfV geführt werden sollten. Horn formulierte weiter: „Das Ziel dieser Gespräche sollte eine Infragestellung und Erschütterung der derzeit überraschend stark wirkenden innerdienstlichen Position des Temme sein.“ Horn riet dazu, das LfV zu einer „echten Kooperation“ aufzufordern, „da sonst eine Schädigung der Behörde unvermeidbar sein dürfte (Schriften mit rechtsextremistischem Hintergrund im Privatbesitz, Haschbesitz)“. Horn spricht davon, dass dem LfV drei allesamt „unerfreuliche“ Szenarien verdeutlicht werden müssten, die Temme
als Täter
als Zeugen, der eine wichtige Wahrnehmung verschweigt oder
als Person, die zur falschen Zeit, am falschen Ort ist, sich danach falsch verhält (er hatte sich nicht selbst gemeldet) und der zudem „mit seinem Besuch des Internetcafés erheblich gegen interne Sicherheitsregeln verstoßen hat.“
Horn sah hier bei Temme „Anzeichen für eine überangepasste Persönlichkeit, die eigene Interessen auch in der Vergangenheit verdeckt verfolgt hat.“ (PUA Hessen, Linke, S. 81 – 83).
Unseres Erachtens waren die Beamt*innen sich in jenen Tagen 2006 ziemlich sicher, dass sie weitere Vernehmungen würden vornehmen können und bereiteten sich auch darauf vor, dass im Falle eines Geständnisses Haftbefehle erlassen werden müssten und die Presse erfahren würde, dass man Nazis in Gewahrsam genommen habe. So erklären wir uns, dass am 19. Juni die Presse schon einmal darauf vorbereitet wurde, dass man bald einen Täter präsentieren werde. Am 20. Juni kam es in Nürnberg zu einem Treffen der „BAO Bosporus“ mit zwei Ermittlern der Polizei Köln. Man legte fest, dass „die Videoaufnahmen samt Lichtbildausdrucken entsprechenden Zeugen“ in den Verfahren Yaşar, sowie der Zeugin aus Dortmund vorgelegt werden sollten. (PUABT I, S. 524) Bei diesem Treffen könnte abgestimmt worden sein, wie man sich gegenüber der Öffentlichkeit positionieren wollte.
Ermittlungen werden gestoppt
Wenige Tage später, gegen Ende Juni, kamen die Ermittlungen gegen die „Temme-Gruppe“ zum Erliegen. Am Ende schaltete sich der damalige hessische Innenminister ein, der Staatsanwaltschaft teilte man schließlich mit, dass sich die Ermittlungen „auf den Kern der geheim zu haltenden Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz richten und unabsehbare Risiken für die öffentliche Sicherheit in Nordhessen herbeiführen“ könnten. Es gab dazu auch ein offizielles Treffen am 30. Juni 2006 zwischen der Staatsanwaltschaft Kassel, der „MK Café“ und Vertreter*innen des LfV Hessen. Hier machte das LfV seinen Standpunkt in der Causa Temme wohl sehr deutlich. Man sehe derzeit keinen Anlass dazu, über die Suspendierung von Temme nachzudenken. Während des Gesprächs soll der Geheimschutz-Beauftragte des LfV Hessen, Gerald-Hasso Hess, darauf hingewiesen haben, dass eine Vernehmung der Quellen von Andreas Temme „das größtmögliche Unglück für das Landesamt darstellen würde“. Durch die Genehmigung solcher Vernehmungen würde es „für einen fremden Dienst einfach [sein], das gesamte LfV lahmzulegen. Man müsse nur eine Leiche in der Nähe eines VM bzw. eines VM-Führers positionieren.“ Bezugnehmend auf Ausführungen von Kriminaldirektor Hoffmann teilte der Referent des Landespolizeipräsidenten Nederla, Karlheinz Schaffer, seinen Vorgesetzten aus dem Verlauf des Treffens in einem Vermerk mit: „Seitens der LfVH-Vertreter“ gab es „von Beginn an kein Interesse an sachfördernder Kooperation. Äußerungen wie ‚…wir haben es hier doch nur mit einem Tötungsdelikt zu tun…‘ und ‚…Stellen Sie sich vor, was ein Vertrauensentzug für den Menschen (Temme) bedeutet…‘ machten deutlich, dass das LfVH die eigene Geheimhaltung, die ‚für das Wohl des Landes Hessen‘ bedeutsam sei, über die mögliche Aufklärung der im Raum stehenden Verdachtsmomente gegen einen LfVH-Mitarbeiter stellt.“ (PUA Hessen, Linke, S. 87) Am 5. Oktober 2006 erfolgte schließlich eine endgültige Sperrerklärung bezüglich Vernehmung von V‑Leuten: der hessische Innenminister Volker Bouffier in einem Brief an die Staatsanwaltschaft: „Die erbetenen Aussagegenehmigungen (können) nicht erteilt werden […], ohne dass dem Wohl des Landes Hessen Nachteile bereitet und die Erfüllung öffentlicher Aufgaben erheblich erschwert würden.“ (PUA Hessen, Linke, S. 136) Drei Wochen zuvor hatte Bouffier den Eltern des ermordeten Halit Yozgat in einem Brief noch seine Anteilnahme wegen der Ermordung ihres Sohnes übermittelt. Hier war es ihm sehr wichtig zu versichern, dass „wirklich alle Möglichkeiten“ ausgeschöpft werden würden, um die Täter zu finden. (Stärkere Strahlkraft, S. 212)
Der Versuch der Mordermittler*innen, die Unterstützungshaltung des hessischen LfV für den tatverdächtigen Temme mit dem Ziel aufzubrechen, eine Nazigruppe als Mörder der Migranten dingfest zu machen, war gescheitert. Von Bouffier sind alle Versuche der Polizei, im Jahre 2006 erfolgversprechende Ermittlungen gegen eine Nazi-Gruppe wegen der Mordserie an neun Migranten und des Nagelbombenanschlags von Köln voranzutreiben, unterbunden worden. Mehr noch: Durch die Blockadepolitik des hessischen Innenministers gegenüber den polizeilichen Ermittlungen in der Mordserie errichtete dieser für fünf weitere lange Jahre – bis zur Selbstenttarnung des NSU – gewissermaßen eine „Mauer des Schweigens“ um die Urheberschaft der Mordserie an den neun Migranten. Die Verdächtigungen und Stigmatisierungen der Angehörigen der Mordopfer gingen natürlich ungebrochen weiter. Konkret wurde damit insbesondere eine direkte Vernehmung von Benjamin Gärtner erfolgreich vereitelt. Die damaligen Mordermittler bekamen den V‑Mann und Nazi Gärtner Zeit der Existenz der zuständigen Mordkommissionen nicht mehr zu Gesicht. Auch Ermittlungen im Fall Hartmann, z.B. eine Vernehmung seines „Freundes“ Nazif Kasan*, der mit dem Mordopfer verwandt war, erfolgten – zumindest laut Quellenlage – nicht mehr. Hier wurde nicht einfach eine kalte Spur zu den Akten gelegt. Hier wurden die Ermittlungen über Nacht beendet, eine heiße Spur kalt abgeschnitten. Die Vernehmung von Nazif Kasan* wurde dann übrigens dreizehn Jahre später (!) noch nachgeholt, ein klares Indiz dafür, dass hier etwas Zentrales versäumt worden war.
Entwicklungen nach der Selbstenttarnung 2011
Nach der Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 eröffnete die Bundesanwaltschaft (BAW) unter dem Titel „Trio“ ein Ermittlungsverfahren gegen drei, genau drei einer rechtsterroristischen Vereinigung zugerechnete Nazis aus Ostdeutschland. Nun wurde in der Mordserie wieder ermittelt. Benjamin Gärtner wurde Ende April 2012 erstmals in der Angelegenheit polizeilich vernommen – allerdings in Begleitung eines vom LfV Hessen finanzierten Rechtsanwaltes. (PUA Hessen, Linke, S. 195ff) Dabei wurde er auch zu dem inzwischen bekannt gewordenen, mit 11 Minuten sehr langen Telefongespräch mit seinem V‑Mann-Führer Temme befragt, welches am 6. April 2006, kurz vor der Ermordung von Halit Yozgat stattgefunden hatte. Er konnte sich daran genau so wenig erinnern, wie auch Andreas Temme in seinen Vernehmungen. (PUA Hessen, Linke, S. 40) Woran Markus Hartmann sich 2012 noch hätte erinnern können, ist eine gute Frage: Seine Vernehmungsakte vom Juni 2006 tauchte in den nach der Offenlegung des rechtsterroristischen Hintergrunds 2011 neu angestoßenen Ermittlungen einfach nicht mehr auf. Hier stellten die Vertreter*innen der Partei „Die Linke“ in ihrem Votum zum Lübcke-Ausschuss ernüchtert fest: „Dieser Umstand überrascht umso mehr, da H. bei dem […] Abgleich der Datenbank CRIME und der Datenbank der Mordkommission im Jahr 2011 als Schnittmenge auffiel.“ (PUA Lueb, Linke, S. 166) Kurz: Die Akte Hartmann in der Mordsache Yozgat spielte in den ab 2012 arbeitenden parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zum NSU wie auch in dem im Mai 2013 beginnenden Strafverfahren vor dem OLG München keine Rolle. Diese nächste Mauer des Schweigens hielt bis Ende Juni 2019 und hat so eine Reihe notwendiger Ermittlungen verhindert. Es ist bis heute ungeklärt, wie die Mörder – sollten sie von außen gekommen sein – an ausreichend Informationen zu den Tatorten gekommen sein sollen. Ein lokaler Nazi vor Ort mit Kontakt zum Mordopfer hätte da schon relevant sein können.
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass es 2011 auch keine Ermittlungen im Fall des Kasseler Neonazis Martin Korn* gab, obwohl dieser neben dem Internet-Café wohnte. Dieser hätte den Tätern zum Beispiel vor und nach der Tat schnell Unterschlupf gewähren können. Mindestens drei Kasseler Neonazis – Gärtner, Hartmann und Martin Korn* — hatten Verbindungen zum Opfer. Weitere Verbindungen hätten womöglich aufgedeckt werden können. Seit ihrer Vernehmung durch den hessischen Untersuchungsausschuss weiß man heute, dass auch die u.a. mit Bombenbau beschäftigte Nazi-Aktivistin Corryna Görtz das Internet-Café Ende 2005 – nach ihren eigenen Angaben – wenigstens dreimal besucht hatte. (PUA Hessen, Linke, S. 168). Görtz verfügte auch über Verbindungen zum Thüringer Heimatschutz.[xii] Sollte je der Wille bestehen, den Mord an Halit Yozgat doch noch ganz aufzuklären, dann wird man sich alle diese Spuren noch einmal vornehmen müssen. Angesichts der blinden Flecken, was mutmaßliche Tatbeteiligte an der Mordserie aus Kassel angeht, war es für die BAW ein leichtes, die Ermittlungen in der Mordserie in der im November 2012 dann vorgelegte Anklageschrift so abzuschließen, dass jeder konkrete Tatbezug auf westdeutsche Naziaktivist*innen, ob nun in Kassel, Dortmund oder in Hamburg und Köln aus dem Blick geriet.
Entwicklungen nach dem Lübcke-Mord
In der Nacht zum 2. Juni 2019 wurde Walter Lübcke ermordet, am 15. Juni der Kasseler Nazi Stephan Ernst als dringend tatverdächtig festgenommen. Am 25. Juni kam es zu einem ersten Geständnis, bei dem auch der Name von Markus Hartmann fiel.[xiii] Einen Tag später, am 26. Juni, wurde auch Markus Hartmann festgenommen, am 27. Juni ein Haftbefehl gegen ihn erlassen.[xiv] Am gleichen Tag erschien um 14.51 Uhr ein Beitrag auf Spiegel online. Dort heißt es, Hartmann sei bereits im Zuge der Mordermittlung zu Halit Yozgat 2006 vernommen worden.[xv] Der Inhalt des Artikels stimmt inhaltlich weitgehend mit einem Vermerk des BKA vom gleichen Tag überein, den die nach dem Wohnort von Walter Lübcke benannte Soko Liemecke um „11:24“ Uhr zur Ermordung von Walter Lübcke anfertigte (PUA Lueb, Linke, S. 166). Es liegt nahe zu vermuten, dass das so abgesprochen war. Zuerst veröffentlicht der Generalbundesanwalt die Nachricht von dem Haftbefehl gegen Hartmann, dann wird in den Akten eingetragen, dass Hartmann schon als Zeuge bei den NSU-Morden auftauchte, und dann wird das ganze drei Stunden später online in der Presse veröffentlicht. Denkbar ist, dass die GBA nach der Inhaftierung von Hartmann nicht das Risiko eingehen wollte, dass Hartmann selbst in einer Vernehmung aussagen würde, dass er 2006 schon bei der NSU-Mordserie von der Polizei vernommen worden war. So bot sich eine Veröffentlichung an, die aber gleich mit dem kruden Hinweis versehen war, dass die Vernehmung damals „nicht weiter relevant, als abgeschlossen anzusehen“ gewesen sein soll. Wie wir dargestellt haben, waren die Mordermittler*innen in jenen Junitagen 2006 weit davon entfernt die Nazispur abzuschließen, weshalb dieser Vermerk kritisch zu sehen ist.
[i] Oberlandesgericht München 6. Strafsenat (Richter Manfred Götzl, Dr. Peter Lang, Dr. Konstantin Kuchenbauer, Michaela Odersky, Axel Kramer) Urteil im Namen des Volkes gegen Beate Zschäpe u.a. Az: 6 St / 312 vom 20.4.2020, URL: https://fragdenstaat.de/dokumente/4766-nsu-urteil/
[ii] Frauke Hunfeld: NSU-Chef-Aufklärer: „Es gibt Tatbeteiligte, die wir noch nicht kennen“. Interview im STERN vom 9.7. 2018, URL ://www.stern.de/politik/deutschland/nsu-ausschussvorsitzender-clemens-binninger—viele-fehler-passiert–8146480.html
[iii] Martin Steinhagen: Aufklärung unter Hessischen Bedingungen. in Frankfurter Rundschau vom 8.4.2019 (Bericht über die 55. Sitzung des NSU-UA-Hessen vom Montag den 26.6.2017) URL: https://www.fr.de/rhein-main/nsu-morde-aufklaerung-unter-hessischen-bedingungen-12141609.html
[iv] Franz Feyder: Vor Gericht ist kein Platz für andere Theorien, in: Stuttgarter Nachrichten vom 15.01.2014. URL: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.polizistenmord-von-heilbronn-vor-gericht-ist-kein-platz-fuer-andere-theorien.cc343562-0b9c-4505–9687-6d05cb27d369.html
[v] Rezension des Buches von Tanjev Schulz: „Nationalsozialistischer Untergrund“ vom 16.9. 2021. URL: https://antifra.blog.rosalux.de/rezension-tanjev-schultz-nationalsozialistischer-untergrund/
[vi] Juliane Karakayalı, Massimo Perinelli: Postmigrantisches Gedenken. Solidarische Praktiken gegen institutionellen Rassismus, in: APuZ 37–38/2023, S. 33 — 39, hier S. 35, URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/nsu-komplex-2023/539787/postmigrantisches-gedenken/
[vii] Gerd Elendt, Kerstin Herrnkind: Am 6. April 2006 wird der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel erschossen / Die Täter: Laut Anklage das NSU-Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe / Die Zweifel: Was macht der Verfassungsschützer Sekunden vor der Tat in dem Geschäft? Hat er wirklich nichts gesehen? Und warum behindern Geheimdienst und Politik die Arbeit der Mordkommission?, in: STERN Nr.49 vom 27.11.2014, S. 68–74, URL: http://www.stern.de/politik/deutschland/beate-zschaepe-im-nsu-prozess–der-mord-in-kassel-und-der-mann-vom-verfassungsschutz-3251268.html
[viii] Frank Jansen: „Du hast unsere Zeit verplempert in so einer Asselbude bei einem Dreckstürken“, in: TSP vom 30.06.2015, URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/du-hast-unsere-zeit-verplempert-in-so-einer-asselbude-bei-einem-drecksturken-5780950.html
[ix]UABTII, Anlage 27, S. 11 URL: https://dserver.bundestag.de/btd/18/CD12950/Anlagen%200001–0094/Anlage%2027%20-%2043.%20Sitzung_endg.%20stenogr.%20Protokoll_15.12.2016.pdf
[x] Guido Kleinhubbert, Conny Neumann und Sven Röbel: Seltsame Neigungen. Nach dem neunten Mord an ausländischen Kleinunternehmern glaubte sich die Polizei vor dem Durchbruch: Sie nahm vorübergehend einen hessischen Verfassungsschützer fest, in: SPIEGEL Nr. 29 v. 16.07.2006, URL: https://www.spiegel.de/politik/seltsame-neigungen-a-375d7c71-0002–0001-0000–000047602972
[xi] Martin Steinhagen und Hanning Voigts: Gegrillt und gesoffen bei Rechtsrock., in: FR vom 18.1.2019, URL: https://www.fr.de/politik/gegrillt-gesoffen-rechtsrock-11063303.html
[xii] Recherchekollektiv Exif: Nicht verfolgte Spuren im Mordfall Halit Yozgat – Verbindungen zwischen dem NSU-Mord & dem Mord an Walter Lübcke, in: exif-recherche.org vom 1.3.2020, URL: https://exif-recherche.org/?p=6622
[xiii] Julia Jüttner: Die Enttarnung des Stephan Ernst, in: SPON vom 27.08.2020, URL: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/fall-walter-luebcke-wie-die-ermittler-auf-stephan-ernst-und-markus-h-kamen-a-a638f0dd-70a1-429b-b277-f7ef9446bad9
[xiv] Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Mitteilung zum Stand der Ermittlungen im Ermittlungsverfahren wegen des Mordes zum Nachteil des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke, URL: Pressemitteilung2-vom-27–06-2019.html
[xv] Sven Röbel und Roman Lehberger: Mutmaßlicher Waffenvermittler im Fall Lübcke. Polizei befragte Markus H. schon 2006 zu NSU-Mord / Mordermittler haben einen der Verdächtigen im Mordfall Lübcke bereits vor 13 Jahren vernommen: Der jetzt festgenommene Rechtsextremist Markus H. tauchte im Verfahren zu einem NSU-Mord auf, in: SPON vom 27.06.2019, URL: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/walter-luebcke-polizei-befragte-markus-h-2006-wegen-nsu-mord-a-1274644.html
Markus Mohr, Daniel Roth: Stärkere Strahlkraft / Wahrheit und Lüge in den polizeilichen Ermittlungen im NSU-Komplex, Leipzig 2021, URL: https://strahlkraft-buch.org
Im Mai 1999 veröffentlichte die Nazizeitung Hamburger Sturm ein Aufsehen erregendes Interview. Hier erhielten erstmals die sogenannten „National Revolutionären Zellen“ (NRZ) das Wort und sie sprachen sich für die Praxis des bewaffneten Untergrundkampfes aus. Das dazu gehörige Foto zeigt einen Mann mit Sturmhaube und ein Interviewter gibt unmissverständlich kund: „Unser Weg ist der aus dem Untergrund handelnde Aktivist.“ Weiter heißt es: „Man darf nicht vergessen, dass wir im Krieg sind mit diesem System und da gehen nun mal einige Bullen oder sonstige Feinde drauf.“ Ergänzt wurden diese markanten Aussagen durch Hinweise und Tipps für klandestines Verhalten. Diese durch den Hamburger Sturm öffentlich kund getane Konzeption des bewaffneten Kampfes, wurde zeitgenössisch nicht nur von Antifaschist*innen, sondern auch von den Skinheads in Zwickau und Chemnitz aufmerksam registriert. In ihrem Statement legten die NRZ dar: „Wir sind eine Gruppe von mehreren Personen, die in der NPD tätig sind, aber mit dem NPD-Führungsstil unzufrieden geworden sind“, weshalb „wir den neuen Weg als handelnde Aktivisten aus dem Untergrund eingeschlagen haben“. Mitmachen bei dem „Untergrundkampf für die Freiheit der Weißen Völker“ können ausschließlich Männer, die Kampfsport betreiben und mit Waffen umgehen können sowie Computerkenntnisse haben. Weiterlesen „Grüne Infamie: In Hamburg kein NSU-Untersuchungsausschuss“
„An unserem Revers trugen wir nicht das Emblem von Hammer und Sichel, sondern die ‚Antifa‘-Nadel — eine Aufforderung zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Faschismus“ Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, 2003, S.89
Es ging um die Politik, Theorie und Historizität der äußersten Rechten und einige Reaktionen dazu seitens der antifaschistischen Linken. Ende Januar lud der renommierte „Gesprächskreis rechts“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in den Willi-Münzenberg-Saal im alten Gebäude des „Neuen Deutschlands“ zu einer Art Jour-Fixe ein. Thema: „Rechte Ränder – Schlaglichter auf Faschismus und Gesellschaft“. Etwa 80 Anwesende folgten der Einladung und nach der Begrüßung durch die zuständige Referentin der Stiftung, Anika Taschke, trugen vor: Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner, der Hamburger Historiker Volker Weiß, der Magdeburger Theologe und Gemeinwesenarbeiter David Begrich, die Aktivistin von NSU-Watch Caro Keller und der Politikwissenschaftler Felix Korsch. Ein guter Mix: Eine profilierte Antifa-Politikerin, ein versierter Historiker zur intellektuellen Rechten, ein in der DDR aufgewachsener intellektueller Theologe, eine Antifa-Aktivistin und ein einschlägiger Promovent.
In ihrem Vortrag beleuchtete Renner unter anderem einige Aspekte der aktuellen Politik der Sicherheitsbehörden in Sachen Rechter Terror. Hier werden bei der Generalbundesanwaltschaft (GBA) mit Stand vom 30. September 2022 in 32 Ermittlungen gegen 122 namentlich Beschuldigte Verfahren geführt. Renner fügte hier trocken hinzu, das zu diesen Beschuldigten noch die nach der medial exzellent vorbereiteten Razzia gegen „Reichsbürger“ am 7. Dezember 2022 „da noch 52 weitere Beschuldigte oben drauf“ kommen. Zwischenzeitlich hat sich in diesem Kontext die Zahl auf insgesamt 55 Verdächtigte erhöht. Auch diese enorme Anzahl von Beschuldigten in Terrorismusverfahren mit Bezug rechts verdeutlicht für die Zukunft die Dringlichkeit antifaschistischen Engagements. Weiterlesen „Pour notre camarade Volkmar“