Das frühmorgendlich erleuchtete Strafjustizzentrum am 9. Dezember 2015, dem Tag, als die NSU-Terroristin erstmals aussagen wollte — der „Glamour“ der Hauptangeklagten trieb viel Publikum in den Saal A101 (Foto: Burschel)
Das Münchener Strafjustizzentrum ist weit mehr als ein funktionaler Ort für juristische Abläufe. Derzeit steht es im Mittelpunkt einer Debatte über seine Zukunft: Sollte es abgerissen oder einer neuen Nutzung zugeführt werden? Noch ist das Gebäude in Betrieb, aber seine symbolische und historische Bedeutung wirft die Frage auf, ob und wie man diesen Ort bewahren sollte, wenn die Gerichte wie geplant umziehen.
Es ist ein Ort, der in der Geschichte der deutschen Justiz und ihrer Auseinandersetzung mit rechtem Terror und neonazistischen Netzwerken eine symbolische und tiefgreifende Bedeutung erlangt hat. Über Jahrzehnte hinweg war es Schauplatz bedeutender Verfahren, die nicht nur juristisch, sondern auch politisch und gesellschaftlich von größter Relevanz waren. Dazu zählen unter anderem der Prozess, der die rassistisch motivierte Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) verhandelte, sowie der gegen den Waffenlieferanten des Attentäters vom Olympia-Einkaufszentrum (OEZ), der im Juli 2016 neun Menschen ebenfalls aus rassistischen Motiven dort ermordet hat.
In einer Zeit, in der rechte Gewalt und rechter Terror immer wieder und immer mehr auf erschreckende Weise in Deutschland zutage treten, rückt die Diskussion um das Strafjustizzentrum in ein neues Licht. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion, organisiert von der Initiative „JustizzentrumErhalten / AbbrechenAbbrechen“, gingen die Podiumsgäste der Frage nach, ob das Justizzentrum als Ort des Gedenkens an die hier verhandelten Gewaltverbrechen erhalten bleiben sollte, um Raum zu bieten für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Geschichte, diesen Geschichten.
Auf dem Panel saßen Gisela Kollmann, die ihren Enkel Giuliano Kollmann bei dem rechten Anschlag im OEZ verlor, Patrycja Kowalska, eine Unterstützerin der Initiative „München OEZ Erinnern“, Friedrich Burschel von der Rosa-Luxemburg-Stiftung &NSU Watch sowie der Journalist Robert Andreasch, der für die Antifaschistische Informations‑, Dokumentations- und Archivstelle München arbeitet. Sie alle verbindet das Anliegen, dass die Opfer rechter Gewalt nicht vergessen werden und dass der Staat endlich Verantwortung übernimmt – sowohl für die lückenlose Aufklärung solcher Taten als auch für die Anerkennung des rechten Terrors als systemisches Problem.
Der OEZ-Anschlag und die Kämpfe der Angehörigen
Im Jahr 2016 ereignete sich der rechtsterroristischer Anschlag im Münchener Olympia-Einkaufszentrum. Neun Menschen, überwiegend mit familiärer Migrationsgeschichte, fielen dem Anschlag zum Opfer, darunter auch Giuliano Kollmann, der damals 19-jährige Enkel von Gisela Kollmann. Der Täter, mit tief verwurzelten rassistischen und völkisch-nationalen Überzeugungen, plante die Tat systematisch und fand dabei Unterstützung von einem Waffenhändler, der ihn mit der Mordwaffe sowie „ausreichend“ Munition versorgte. Trotz offensichtlicher Hinweise auf die rechte Motivation, verharmoste man die Hintergründe des Anschlags lange. Die Behörden sprachen von einem „Amoklauf“, nicht von rechtem Terror.
Gisela Kollmann berichtet in der Diskussion von den Erfahrungen, die sie während des Prozesses gegen den Waffenhändler im Strafjustizzentrum in der Nymphenburgerstraße machte. „Ich wollte nur, dass er mir einmal in die Augen sieht, aber er konnte es nicht“, erzählt sie. Kollmanns Erlebnisse im Gerichtssaal sind symptomatisch für die Art und Weise, wie staatliche Institutionen mit den Betroffenen umgehen: Ohne Empathie, ohne wirkliches Verständnis für den Schmerz und das Trauma, das solche Taten hinterlassen. Floskeln wie „Sie müssen keine Angst haben, dass er ihre anderen Kinder tötet“ hätten diese Mißachtung sehr deutlich gemacht, sagt Gisela Kollmann. Die Hinterblieben werden durch den Prozess weiter traumatisiert – diesmal durch den Staat, der sie hätte schützen und unterstützen sollen.
Diese Erfahrungen sind keine Einzelfälle. Die Initiative „München OEZ Erinnern“, der auch andere Angehörige und Überlebende des Anschlags angehören, kämpft seit Jahren dafür, dass der Anschlag als das anerkannt wird, was er war: ein rechtsterroristischer Angriff. Patrycja Kowalska, die die Initiative unterstützt, betont, dass dieser Kampf nicht nur ein persönlicher ist. Es geht um das politische und gesellschaftliche Bewusstsein, dass rechter Terror ein systematischer Angriff auf das Leben und die Würde von Menschen ist – motiviert durch gruppenbezogenen Hass und getragen von rechter Ideologie.
Parallelen zum NSU-Prozess
Auch im gigantischen, 438 Tage dauernden NSU-Verfahren dort wurden die Angehörigen der Opfer oft ignoriert und ihre Interessen aktiv missachtet. Der NSU, eine neonazistische Terrorzelle, war für die Morde an zehn Menschen, überwiegend Migranten, verantwortlich. Doch ähnlich wie im OEZ-Fall wurde auch hier lange an einem Narrativ festgehalten, das die Verantwortung des Staates und die Rolle eines hinter dem Kern-Trio stehenden, umfangreichen rechten Netzwerks kleinredete. Die jahrelangen Ermittlungen und der anschließende Gerichtsprozess zeigten, wie tief strukturelle Ignoranz und institutionelles Rassismus verankert sind, wenn es um die Aufklärung und Verfolgung rechten Terrors geht.
Der NSU-Prozess offenbarte zudem, dass der NSU keineswegs isoliert agierte. Ein breites Netzwerk von Unterstützern half der Terrorgruppe, sich jahrelang dem Zugriff der Behörden zu entziehen. Beobachter des Prozesses betonen, dass weit über 100 Personen in dieses Netzwerk involviert waren, viele von ihnen als aktive Mittäter oder Unterstützer. Trotz dieser klaren Beweise wurde im Prozess versucht, die Verantwortung des Staates und der Verfassungsschutzbehörden herunterzuspielen, die den NSU über zahlreiche Informant*innen in unmittelbarer Nähe der Täter*innen und über das Geld für deren Dienste erst überhaupt mit aufgebaut und unter Beobachtung gehabt hätten, aber dann eben nicht gestoppt hätten.
Auch im NSU-Prozess war der Gerichtssaal geprägt von einer bedrückenden Hierarchie. Die 93 Nebenkläger*innen, die Familien der Opfer, die im Verfahren von mehr als 60 Rechtsanwält*innen vertreten wurden, saßen im Saal A101 unter der Tribüne, auf der die Presse und die Öffentlichkeit über ihnen thronten. Diese räumliche Anordnung spiegelte die reale Marginalisierung der Opfer und ihrer Angehörigen wider, die um Gehör und Anerkennung kämpften, während die staatlichen Institutionen versuchten die eigenen Versäumnisse zu verdecken.
Die Bedeutung der Räume des Justizzentrums
Angesichts dieser Geschichte wird die historische Bedeutung der Räume des Justizzentrums besonders deutlich. Diese Wände haben Zeugenberichte von Menschen gehört, deren Familien durch rechten Terror zerstört wurden. Sie haben die Bemühungen gesehen, den Staat zur Verantwortung zu ziehen, und zugleich das Scheitern staatlicher Institutionen, sich der vollen Wahrheit über diese Verbrechen zu stellen. Die Prozesse, die hier stattfanden, sind Zeugnisse eines fortwährenden Kampfes – nicht nur gegen die Täter, sondern auch gegen eine Gesellschaft, die allzu oft wegschaut.
Das Justizzentrum könnte, wenn es mit einem Ort des Gedenkens — etwa im A101 — erhalten bliebe, all diese Geschichten bewahren. Es wäre ein Mahnmal, das nicht nur an die Opfer erinnerte, sondern auch daran, wie institutionelles Versagen rechten Terror ermöglicht und begünstigt hat.
„Reichsbürger“-Prozesse und die Kontinuität rechten Terrors
Nicht nur vergangene Prozesse sind hier von Bedeutung: In den gleichen Hallen finden heute die „Reichsbürger“-Prozesse statt.
Die „Reichsbürger“, eine Bewegung, die die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland ablehnt und sich oft durch rechte, antisemitische und verschwörungstheoretische Überzeugungen auszeichnet, stehen derzeit im Zentrum zahlreicher Gerichtsverfahren. Diese Prozesse, die ebenfalls im Justizzentrum geführt werden, knüpfen direkt an die Tradition der Auseinandersetzung mit rechtem Terror an. Wie schon bei den NSU-Morden und dem OEZ-Anschlag zeigt sich auch hier, dass rechte Ideologien nicht isoliert, sondern in Netzwerken agieren – unterstützt werden die Akteur*innen von Gleichgesinnten, teils mit weitreichenden Verbindungen in gesellschaftliche und staatliche Strukturen.
Diese Kontinuität rechter Gewalt und ihre bedrohliche Präsenz in der Gegenwart verdeutlichen, wie notwendig eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Justizzentrums ist. Der Abriss dieses symbolträchtigen Ortes wäre ein Verlust, der weit über das rein Architektonische hinausgeht.
Eine bunte Pride mit 650 Menschen zog durch das fast menschenleere Sonneberg und hauchte ihm für ein paar Stunden Leben ein…
„Das Herz schlägt links“, sagt Sandro Kessel, seines Zeichens Stadtrat von Sonneberg für das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW). Vor dem Rathaus sammelt sich langsam eine immer bunter und lauter werdende Menschenmenge, aufgekratzt und erwartungsvoll, Regenbogen- und Queer-Fahnen, dazwischen auch Parteifahnen, die Grünen, Jusos, Linksjugend Solid, dominierend die „Partei der Humanisten“ (PdH). Sie sind alle zur ersten „Christopher Street Day“-Parade (CSD) in die verschlafene südthüringische Kleinstadt gekommen, um dort – im wahrsten Sinne es Wortes – Farbe, oder vielmehr viele bunte und schillernde Farben zu bekennen. Gegen einen braun und brauner werdenden Alltag, in dem die AfD den Ton angibt und mit Robert Sesselmann den ersten faschistischen Landrat in Deutschland nach 1945 stellt. Jedenfalls hat sich in Sonneberg und in Südthüringen die Lage von Menschen, die nicht ins rechte Weltbild passen, erheblich verschlechtert, laut der Opferberatungsstelle Ezra ist der Landkreis neben der Landeshauptstadt Erfurt und der Mittelstadt Weimar unterdessen zum dritten Hotspot rechter Gewalt geworden.
BSW drängt sich ins Bild
Trotzdem bleibt es an diesem Samstag, während die 650 Teilnehmende zählende Pride laut und fröhlich durch die fast ausgestorbenen Straßen der idyllisch gelegenen Stadt zieht, ruhig. Es zeigen sich kaum Einwohner*innen, Passant*innen geben sich freundlich tolerant. „Solange hinterher die Straßen nicht dreckig sind“, sagt eine junge Frau, sei das okay. Die erwarteten Gegendemonstrant*innen und Störungen bleiben völlig aus. Auch die Polizei gibt sich freundlich und entspannt, war ja auch nichts.
Also bleibt nur das BSW. Viele der Teilnehmenden stecken schon während des Zuges die Köpfe zusammen und fragen sich, weshalb diese erklärtermaßen trans- und queerfeindliche Partei sich hier so in die stolze Pride drängt. Sandro Kessel bleibt dabei, seine neue Partei BSW — er kommt ursprünglich von „Die Partei“ – gehöre hier mit dazu. Seinen T‑Shirt-Ärmel hat er extra hochgerollt, damit man sein umfangreiches Till-Lindemann-Tatoo nur ja gut sehen kann. Auch das bei einem CSD ein eher verstörendes Statement, wenn man sich die Debatte um den Rammstein-Frontmann ins Gedächtnis ruft. Auf die queerfeindlichen Statements seiner neuen Parteiführerin angesprochen, lässt Kessel seinen schrägen Vorstellungen von Geschlechtsumwandlung freien Lauf und meint, die gesetzliche Möglichkeit, „jedes Jahr einmal sein Geschlecht zu wechseln“, das gehe einfach zu weit.
Tolles Bühnenprogramm am PIKO-Platz
Natürlich ticken die Uhren in einem winzigen Provinznest im ehemaligen Zonenrand anders. Im Rathaus haben sich – in ihrer Not, möchte man sagen – SPD, Linke und eben BSW zusammengetan, um Fraktionsstärke gegen die übermächtige AfD zu erlangen. Da nimmt man es dann mit der „rot-roten“ Abgrenzung vielleicht nicht mehr so genau. Es bleibt dann der Grünen-Landtagsabgeordneten Madeleine Henfling überlassen, auf der Bühne der Abschlusskundgebung noch einmal das ganze entlarvende Wagenknecht-Zitat von den „skurrilen Minderheiten“ zu zitieren und ihr Unverständnis darüber auszudrücken, dass die Organisator*innen von #CSDinSonneberg sich nicht klar abgrenzten, sondern auch noch dem stellvertretenden BSW-Kreisvorsitzenden Steffen Schütz die Bühne für einen Redebeitrag überlassen. Ihre Kritik wird von lautstarken, zustimmenden Buh-Rufen der auf dem PIKO-Platz (benannt nach der weltberühmten DDR-Modelleisenbahn-Fabrik) versammelten Menge begleitet.
Die Organisator*innen bleiben dabei: Frederic Forkel (PdH Coburg) sagt, man wolle dem BSW diesmal die Chance geben „sich zu bewähren“. Tue es das nicht, sei es das nächste mal raus.
Leider verblassen hinter der Irritation über die BSW-Beteiligung die gute Stimmung, die engagierten antifaschistischen Redebeiträge und die starke klassenkämpferische Solidaritätserklärung des DGB-Jugendsekretärs Gregor Gallner mit dem Anliegen des CSD und den Teilnehmenden. Und das mitreißende Bühnenprogramm mit dem programmatischen Song „Dürüm und Ayran in der Thüringer Kleinstadt“ von Maurice Conrad und Bruneau, mit dem von Fans umlagerten Youtube-Star „Yu“ und der beeindruckenden Rapperin „Latifa Iguma“ aus dem ostthüringischen Gera.
Dieser Beitrag erschien zuerst in bearbeiteter Version im ND.
„Es gibt keine Entschuldigung dafür, die AfD zu wählen!“ So antwortete Arne Semsrott bei der Premierenpräsentation seines Buches „Machtübernahme“ in Nürnberg Anfang Juni auf die Frage eines Zuschauers, der wisse wollte, ob es nicht vielleicht mehr Verständnis für AfD-Wähler*innen bräuchte.
Vor etwa 100 Zuschauer*innen las Semsrott in der Villa Leon in Nürnberg und kokettierte auf charmante Art mit dieser Premierensituation. In dem Buch geht es darum, was passiert, wenn die AfD auf Bundesebene an der Regierung beteiligt wird. Und vor allem darum, wie die Teile der Gesellschaft, die noch an demokratischen Verhältnissen interesiert sind, sich dagegen wehren können.
Bröckelnde Brandmauer
Semsrott ist der Meinung, dass eine Regierungsbeteiligung der AfD durchaus realistisch ist und dass die „Brandmauer“ fallen kann, die bisher die bürgerlichen Parteien von einer Zusammenarbeit mit der AfD abhält. Auf regionaler und kommunaler Ebene ist diese Brandmauer vielerorts bereits weitgehend abgetragen.
Das Szenario im Buch macht außerdem deutlich, welche Möglichkeiten die AfD bereits hat, wenn sie sich im Rahmen der bereits bestehenden Gesetze bewegt, um ihre völkisch-nationalistische Ideologie durchzusetzen. Auch ohne eine Änderung des Grundgesetzes oder anderer weitreichender Rechtsstandards kann die AfD reichlich Schaden anrichten. In Ostdeutschland, wo sie in Umfragen bereits zwischen 25 und 40 Prozent rangiert, tut sie das schon. Etwa indem sie auf bestimmten Posten in Verwaltung, Medien, Polizei und Behörden nur „gesinnungstreue“ Anhänger*innen durchzusetzen versucht. Die reaktionäre Politik treffe, so Semsrott, vor allem marginalisierte Gruppen wie migrantische oder queere Menschen. Massenhafte Abschiebungen nach völkischen Kriterien – Stichwort „Remigration“ – könnten bald schon an der Tagesordnung sein. Die bürgerlichen Parteien, so möchte man Semsrott beipflichten, überschlagen sich ja derzeit in vorauseilendem Gehorsam.
Sondervermögen Demokratie
Allerdings sagt er auch: „Es ist nie zu spät!“ Selbst wenn die AfD regiert, gibt es jede Menge Formen des Widerstands. Dabei diskutiert er beispielsweise ein Sondervermögen für Demokratie, was ähnlich wie das für die Bundeswehr aufgebaut sein könnte. Semsrott propagiert, was er „solidarisches Prepping“ nennt – also die aktive Vorbereitung von Gemeinschaften auf schlechte (politische) Zeiten, in denen die Menschen im Ernstfall füreinander einstehen oder sich in Selbstverteidigung üben können. Ziel kann es dabei auch sein, sagt Semsrott, „safe spaces“ für besonders schutzbedürftige Gruppen zu schaffen.
Der Mitgründer der Informationsfreiheits-NGO „#Fragdenstaat“ tritt außerdem aktiv für ein AfD-Verbot ein und erklärt, es sei sinnvoll zu protestieren, zu stören und – zum Beispiel in Behörden durch „Dienst nach Vorschrift“ zu streiken und menschenverachtende Politik zu blockieren. Politiker*innen der Partei sollten seiner Ansicht nach auch deutlich seltener eine Bühne in Talkshows und öffentlichen Events geboten werden. Stattdessen setzt er auf investigative Recherchen zu rechten Strukturen bis hin zu Hacking-Angriffen, um brisante Informationen zugänglich zu machen.
AfD: Unbedeutende Splitterpartei?
Der 36-jährige Berliner berichtet außerdem von der Plattform „Frag den Staat“, die es Bürger*innen leichter machen soll, Anfragen an Regierung, Verwaltung und Behörden, kurz: den Staat, zu richten. So konnte sein Team beispielsweise die Herausgabe von Teilen der NSU-Akten gerichtlich erzwingen. Außerdem schuf die NGO mit dem „Freiheitsfond“ eine Möglichkeit, sozial schwächere Betroffene aus dem Gefängnis freizukaufen, wenn sie Ersatzhaft wegen Fahrens ohne Fahrkarte absitzen müssen. Auf geradezu groteske Weise entlastet diese Initiative sogar Gefängnisse und spart Steuergelder ein.
Auch das Publikumsgespräch im Anschluss geriet zu einem spannenden Meinungsaustausch. Semsrott hat eine leicht selbstironische, ruhige und bedachte Art auf sein Publikum einzugehen. Das kommt gut an und auch kritische Anmerkungen zum Gesagten oder kurze abschweifende Statements sind willkommen.
Aus einem Nebensaal hatten sich auch einige wenige „Freidenker*innen“ in die Buchvorstellung verirrt und wollten lieber über die vermeintliche Diskriminierung Russlands sprechen. Ein weiterer Mitdiskutant bezeichnete die AfD als „unbedeutende Splitterpartei“, um die mit dem Buch viel zu großes Aufhebens gemacht werde: Die Menschen hätten andere Sorgen. Semsrott wies das zurück und beschrieb einmal mehr, wie schnell die AfD noch gefährlicher und mächtiger werden könne. Die Europawahlergebnisse, bei der die AfD 15,9 Prozent erzielte, bezeichnete er als Alarmzeichen.
„Dienst nach Vorschrift“ als Streikform
Mehrere Wortmeldungen machten deutlich, dass die Angst vor einer Machtübernahme von rechts viele Menschen umtreibt und in die Lesung zog. Einige Personen fragten, was sie jetzt persönlich tun könnten. Der Autor erzählt, wie er nach den Europa-Wahlergebnissen niedergeschlagen war, dem allerdings nicht nachgeben wollte. Am selben Abend noch kontaktierte er Bekannte, die von einer Zuspitzung rechter Politik am stärksten betroffen sein würden, um zu zeigen, dass er an sie denke und für sie einstehen werde.
Einer Lehrerin im Publikum war die Sorge anzusehen, dass sie in Zukunft dazu gezwungen werden könnte, Inhalte zu unterrichten, die sie für moralisch verwerflich hält. Sie und eine weitere Beamtin fühlten sich vor allem von den Teilen von Semsrotts Vortrag angesprochen, in dem die besondere Rolle und Verantwortung von Staatsbediensteten hervorgehoben wurde. Hier sieht Semsrott einen wirkmächtigen Ansatz, Missstände in Behörden anzusprechen und ein Kippen der jeweiligen Institution nach rechts zu verhindern.
In den Kampf gegen Rechts einsteigen
Das Fazit vieler Besucher*innen war, dass das Buch eine Realität skizziert, die beunruhigend nah scheint. Gerade nach den Großdemos im Januar, bei denen teils Hunderttausende Menschen gegen Pläne der extremen Rechten für Massendeportationen auf die Straße gegangen waren, mache das Buch Mut weiterzumachen, in den Kampf gegen rechts einzusteigen und nicht nachzulassen.
Der Hauptverdächtige im Kasseler Mordfall: der hessische „Verfassungsschützer“ Andreas Temme — Alle Bilder in diesem Beitrag stammen aus dem Bildband von Günter Wangerin Kunst in Zeiten der Barbarei (Verlag Das Freie Buch München 2023), in dem auch seine trefflichen Gerichtszeichnungen aus dem NSU-Prozess stammen. Wir danken Günther Wangerin für die Erlaubnis, die Bilder hier benutzen zu dürfen.
Auch wenn der NSU-Komplex heute in der öffentlichen Wahrnehmung nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es bis heute offene Fragen. Sie führen uns schnell in ein Labyrinth, in dem immer wieder Verbindungen zwischen dem Sicherheitsapparat und der Neonaziszene aufscheinen, die sich dann aber als scheinbar zufällig vor unseren Augen wieder auflösen. Eine der stärksten Verbindungen dieser Art ist das Auftauchen des Kasseler Verfassungsschützers Andreas Temme zur Tatzeit am Tatort des 9. Mordes der sog. NSU-Mordserie, der im Laufe von 6 Jahre 10 Menschen zum Opfer fielen. Der 22-Jährige Halit Yozgat war am 6. April 2006 in seinem Internet-Café in Kassel ermordet worden. 55 Stunden zuvor, am 4. April 2006, war mit derselben Waffe, die bereits in sieben anderen Mordfällen verwendet worden war, in Dortmund Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk erschossen worden. Temme verließ seinen Dienstsitz beim Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz, fuhr direkt zum Tatort, betrat das gut besuchte Internet-Café und verließ es 10 Minuten später – in der Minute, in der der Mord begangen wurde – wieder. Es gibt bis heute keine Hinweise auf andere Täter. Einer der Gründe, warum sich die Aufmerksamkeit von der offensichtlichen Verbindung des Verfassungsschützers zur Mordserie abgewandt hat, liegt darin, dass die Česká-Mordserie, eine der größten Mordserien der Nachkriegsgeschichte, bei der von 2000 bis 2006 neun Morde — in der Sprache der Polizei „zum Nachteil“ von Migranten — verübt worden waren, als aufgeklärt gilt. In einem Mammutprozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) München wurden mit Beate Zschäpe und den (nicht mehr lebenden) Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Wesentlichen drei Täter*innen aus dem von Westdeutschland weit entfernten finsteren Osten für die Tat haftbar gemacht. Diese sollen — sozial wie politisch isoliert agierend — die Mordserie alleine verübt haben. Auch für den Mord an einer Polizistin in Heilbronn 2007 war nach Ansicht des Gerichts allein „das Trio“ verantwortlich. Aufgrund mangelnder Belege für eine konkrete Tatbeteiligung wird auch das Selbstenttarnungsvideo des NSU von 2011 als Indiz herangezogen. So findet sich in dem Urteil des Staatsschutzsenats in München der Hinweis, dass es doch der NSU selbst sei, der „in dem Video ‚Paulchen Panther´ (…) glaubhaft“ eingeräumt habe, „Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat getötet zu haben.“ [i] Dass das Video von einem „Netzwerk von Kameraden“ spricht – also sicher mehr als drei Menschen, die auch privat verbunden sind – wird nicht als Widerspruch thematisiert. Es war das Trio aus dem Osten. Wir sollten dieser Darstellung aus zwei Gründen misstrauen.
Gute Gründe zu misstrauen
Zum einen gibt es kriminalistisch betrachtet zu viele offene Fragen zu der Mordserie, die keineswegs als abgeklärt gelten können. Als wichtigsten Zeugen für diese Tatsache muss man den Vorsitzenden des zweiten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) des Bundestages zum NSU, den gelernten Polizisten und das CDU-Mitglied, Clemens Binninger, anführen. Unmittelbar vor dem Urteil des OLG München im Juli 2018 äußerte er sich folgendermaßen :
„Das Problem ist aber: Wir haben keine geständigen Täter, keine geständigen Unterstützer, außer zweien, die ihre Unterstützungshandlungen auf einmalige Leistungen beschränken. Es gibt keine Augenzeugen, die einen Täter so gut beschrieben haben, dass man sagen kann: die waren es. Und vor allen Dingen: Wir haben keine Spuren von Mundlos und Böhnhardt, nicht ihre Fingerabdrücke, nicht ihre DNA. Weder an den Tatorten, noch an den Opfern, noch an den Tatwaffen.“ Binninger legt sich fest: „Es gibt Tatbeteiligte, die wir noch nicht kennen“. [ii]
Von den vielen Unstimmigkeiten, die der These vom Trio anhaften, wollen wir hier nur drei kurz vorstellen, um zu verdeutlichen, dass wir es mit immer noch ungelösten Mordfällen zu tun haben.
Im Bericht des PUA im Landtag Nordrhein-Westfalens lässt sich nachlesen, dass im Dortmunder Mordfall – dem 8. Mord der Serie – ein Videoband der Überwachungskameras des Hauptbahnhofes existiert, auf dem am Tattag vor dem Verbrechen drei Männer und eine Frau zu erkennen sind. Der erste Mann führte ein Fahrrad mit sich. Der zweite Mann sieht aus wie ein Skinhead, mit Tarnhose und Bomberjacke mit Emblem sowie mit einem Rucksack. Die dritte männliche Person, die sich sehr konspirativ verhält, steht augenscheinlich in Beziehung zu den anderen beiden, ebenso wie eine unbekannte weibliche Person. Die Polizei erkannte 2012 eine gewisse Ähnlichkeit der zweiten Person mit Uwe Mundlos, sowie der Frau mit Beate Zschäpe. Eine Identifizierung war nicht möglich. Wenn es sich bei diesen Männern um die Täter gehandelt haben sollte, dann war ein dritter Mann an der Tat beteiligt. (PUANRW S.440)
Beim Kasseler Mord — dem 9. und letzten der rassistischen Serie — lassen die sehr gut bekannten Tatumstände kriminalistisch nur den Schluss zu, dass der Verfassungsschützer Andreas Temme die Tat begangen oder die Täter gesehen haben muss. Der Vater des Opfers, Ismail Yozgat, fasste diesen Sachverhalt sehr deutlich in Worte: „Herr Temme hat entweder gesehen, wer die Täter waren, oder er hat sie geführt, oder er hat selber die Tat begangen und meinen Sohn ermordet. Ich finde keine anderen Antworten als diese.“[iii] Wenn Temme nicht der Täter war deckt er somit logischerweise irgendjemanden. Warum?
Bei dem Polizistinnenmord in Heilbronn 2007 galt für das Landeskriminalamt (LKA) noch im Sommer 2011 die Hypothese, an der Tat seien insgesamt sechs Personen beteiligt gewesen. An einer Tatbeteiligung von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gibt es bis heute Zweifel. [iv]
Die Erzählung von den „Tätern aus dem Osten“ hat nämlich durchaus Parallelen zu der Erzählung von einer „ausländischen Mafia“, die über den gesamten Sicherheitsapparat (Polizei, Justiz, Verfassungsschutz) bis zur Selbstenttarnung des NSU 2011 rauf und runter gebetet wurde. Diese Erzählung stellte sich für die Polizei aber im Grunde schon ab Ende 2005 als unhaltbar heraus. Wider besseres Wissen wurde auch dann weiter von der Organisierten Kriminalität (OK) im Ausländerbereich gesprochen, als die Ermittler längst anderen Spuren folgten. In unserem Buch „Stärkere Strahlkraft — Wahrheit und Lüge in den polizeilichen Ermittlungen im NSU-Komplex 2000–2011“ haben wir versucht darzulegen, welche Motive diesem rassistischen Verhalten der Behörden zu Grunde liegen könnten.
An dieser Stelle wollen wir jedoch noch einmal auf die konkreten Ermittlungen zum 8. und 9. Mord der Serie eingehen und dafür argumentieren, dass die Ermittler im Sommer 2006 ihre ganze Aufmerksamkeit auf eine konkrete Gruppe von Neonazis richteten. Mehr noch: Sie wussten auch genau, mit wem sie es da zu tun hatten. Diese Ermittlungen wurden jedoch nie zu Ende geführt, weshalb es noch offene Fragen zur konkreten Beteiligung von lokalen Nazis am NSU-Komplex gibt. Da die Polizeibehörden ihre damaligen Ermittlungen nicht unbedingt immer und wenn nur unvollständig aktenkundig machten und der Öffentlichkeit kein Wort davon mitteilten, ist eine Rekonstruktion dieser Ermittlungen schwierig. Erst wenn man einige PUAs (vor allem: Bundestag II, NRW, Hessen, Bayern I), die Gerichtsprotokolle und die relevanten Zeitungsartikel miteinander abgleicht, bekommt man ein Bild von den damaligen Ermittlungen. Vor allem aber liefert der kürzlich veröffentlichte 1400 Seiten umfassende Bericht des PUA des Hessischen Landtages zur Mordsache Walter Lübcke. (PUA Lueb Drs. 20⁄11359) weitere wertvolle Bausteine. Dies ist unseres Erachtens kein Zufall, denn wir werden dafür argumentieren, dass sehr wohl eine Spur vom NSU zum Mord an Walter Lübcke führt.
Der Vorsitzende Richter des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts in München, Manfred Götzl
Der Blick nach rechts
Auch wenn viele Details bereits bekannt sind, ist unsere in „Stärkere Strahlkraft“ dargelegte Hypothese, dass die Polizei bei den Morden in Dortmund und Kassel (und damit in der ganzen Serie) systematisch und verstärkt Neonazis als Tatverdächtige im Visier hatte, keineswegs durchgedrungen. So formulierte z.B. Tanjev Schultz in einer 2021 publizierten „Zwischenbilanz“ zum NSU, dass die Polizei auch im Jahre 2006 „noch nichts Greifbares in Händen“ gehalten habe.[v] Völlig unzutreffend erscheint uns auch die apodiktische Feststellung in einem ansonsten gut zu lesenden Aufsatz von Juliane Karakayalı und Massimo Perinelli zu den Tücken einer staatlich orchestrierten Gedenkpolitik in Sachen NSU, dass seitens der Polizei „in all diesen Jahren“ der Mordserie „kein Moment lang in die rechte Szene hinein ermittelt“ worden sei.[vi] Diese Einschätzungen über die konkreten polizeilichen Ermittlungen sind nicht überzeugend. Sie sind aber auch nicht einfach das Ergebnis von mangelnder Recherche. Im NSU-Komplex gibt es eine Konstante: Die zahlreichen Spuren, die die Polizei auch zu Nazis führten, wurden praktisch immer unter Verschluss gehalten. Sie mussten von den Betroffenen und ihren Anwälten, von linken Aktivist*innen oder Journalist*innen in mühseliger Kleinarbeit ausgegraben und präsentiert werden. Nazibezüge wurden zum Teil umständlich verschleiert. Das führte mitunter zu kuriosen Wendungen wie in Dortmund. Hier wird in einem Protokoll des Staatsschutzes ernsthaft vermerkt, dass die Zeugin laut eigener Aussage „sich wohl darin getäuscht hätte“, als sie aussagte, dass die Täter rechtsradikal ausgesehen hätten. Der ermittelnde Kriminalbeamte Michael Schenk „konnte keine Erklärung dafür geben, dass die Begriffe „Rechtsradikale“ bzw. „Nazis“ in keinem der Protokolle Niederschlag gefunden haben.“ (PUANRW, S. 438) Dazu kam, dass viele Angehörige und Personen aus dem Umfeld der Ermordeten insistierten, dass hier Nazis oder „Ausländerhasser“ am Werk gewesen und rassistische Motive zu vermuten seien. Diese Hinweise wurden nicht in der Öffentlichkeit kommuniziert, ganz im Gegensatz zu zum Teil absurden Vermutungen zur Verstrickung der Opfer in Drogen- und Organisierte Kriminalität, Mafia, Schutzgelderpressung, Spielsucht, Eifersucht und Ehebruch, die den Weg in die Pressestatements der Polizei fanden. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass im Fall der damaligen Ermittlungen gegen Temme und die Kasseler Naziszene dasselbe passierte. Im folgenden Abschnitt machen wir noch einmal unsere Hypothese stark, dass die Polizei bei ihren Ermittlungen zu den Morden an Mehmet Kubaşık in Dortmund und und Halit Yozgat in Kassel und damit in der ganzen Serie systematisch und verstärkt Neonazis als Tatverdächtige im Visier hatte.
Temme, immer wieder Temme: Der Tatverdacht oder zumindest der Verdacht, dass dieser verbeamtete hessische Verfassungsschützer mehr über den Mord an Halit Yozgat und die NSU-Mordserie weiß, ist bis heute nicht ausgeräumt.
Der Kasseler Mord vom 6. April 2006
Um unsere These zu erläutern, müssen wir uns über 15 Jahre zurückbegeben, zum 8. und 9. Mord der Serie am 4. und 6. April 2006. Mit diesen beiden Serientaten im Vorfeld der Fußball-WM in Deutschland bekamen die Serienkiller nun endgültig bundesweite Aufmerksamkeit in der Presse. Während die Öffentlichkeit jedoch mit völlig haltlosen alten, längst verworfenen Ermittlungsansätzen zu einer angeblich international operierenden „Drogenmafia“ versorgt wurde, vollzogen die Ermittler*innen eine 180-Grad-Wende. Der Grund: In Kassel war es der Mordkommission „MK Café“ gelungen, einen Mann zu finden, gegen den „der dringende Verdacht des Mordes“ bestand. Der Mann hatte sich zum Tatzeitpunkt der Ermordung von Halit Yozgat im Internet-Café in der Holländischen Straße aufgehalten und sich trotz mehrerer Zeugenaufrufe nicht bei der Polizei gemeldet. Als der Mann am 21.April 2006 festgenommen werden soll, stellte sich heraus, dass es ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutzes Hessen (LfV) war. Sein Name: Andreas Temme. Bei der Durchsuchung von Diensträumen und Wohnung finden die Polizeibeamten das Diensthandy, Haschisch und ein Notizbuch. Sie finden auch tatrelevante Bücher, darunter: „Immer wieder töten – Serienmörder und das Erstellen von Täterprofilen“. Dazu kommt spezielle Literatur über den Nationalsozialismus, etwa der „Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS“, „Wille und Weg des Nationalsozialismus“ und „Das wirtschaftliche Sofortprogramm der NSDAP 1932“. Daneben Zeichenhefte, in die sorgfältig die Orden des Dritten Reichs gemalt sind. Außerdem stellt die Kripo Auszüge von Hitlers „Mein Kampf“ sicher.[vii] Temme hatte erhebliche Mengen an Munition und Waffen in seinen Wohnräumen, er war ausgebildeter Sportschütze mit einem Waffenschein. Mit Temme war die Polizei auf den ersten Tatverdächtigen in der Mordserie an neun Migranten gestoßen. Mehr noch: Auf jemanden, bei dem klare Nazi-Bezüge dokumentierbar waren, und der zudem noch als Bediensteter und V‑Mann-Führer eines LfV selbst gewalttätige Nazis „verwaltete“. Mittels Telefonüberwachung stellte sich schnell heraus, dass Temmes Ehefrau über Täterwissen verfügte und sich über den Mord in rassistischer Weise lustig machte.[viii]
Der Mord in Dortmund und die bisherigen Morde der Serie
Unmittelbar nach dem Mord an Mehmet Kubaşık in Dortmund am 4. April 2006 meldete sich die Zeugin Jelica Demian (Name verfremdet) bei der Polizei. Ihr waren zur Tatzeit in der Nähe des Kiosks, in dem Kubaşık ermordet worden war, zwei Basecap tragende Männer, von denen einer ein Fahrrad schob, entgegengekommen, denen sie direkt ins Gesicht geblickt habe. Am nächsten Tag beschrieb sie diese in ihrer ersten Zeugenaussage vor zwei Beamten des polizeilichen Staatsschutzes als „Junkies oder Nazis“. Das wurde zwar in dem von den Staatsschutzbeamten gefertigten Vernehmungsprotokoll weggelassen (Stärkere Strahlkraft, S. 174ff), fand aber indirekt Eingang in die erste öffentliche Stellungnahme des ermittelnden Dortmunder Staatsanwaltes Heiko Artkämper. Gegenüber der Westfälischen Rundschau vom 8. April erwähnte er — ohne dabei schon von dem Mord in Kassel zu wissen — erstmals seit Beginn der Mordserie an nunmehr acht Migranten einen „rechtsradikalen Hintergrund“ als mögliches Motiv mit.
Die Polizei hatte bis zum Frühjahr 2006 wenig Konkretes in der Mordserie ermitteln können. Bei zwei Morden (1. und 3. Mord in Nürnberg bzw. Hamburg) waren zwei Waffen verwendet worden, beim 6. Mord in Nürnberg 2005 hatten zahlreiche glaubwürdige Zeugen zwei Fahrradfahrer vor, während und nach der Tat gesehen. Fahrradfahrer waren bereits beim ersten Mord in Nürnberg und beim 4. Mord in München gesehen worden. Mit der Dortmunder Augenzeugin verdichtete sich das Täterprofil, denn alle Zeugen hatten die beiden Fahrradfahrer gleich beschrieben: Zwischen 20 und 30 Jahre, schlank, nicht dunkelhäutig, über 1,80 Meter groß, Basecap, kurze Haare und – so die Dortmunder Zeugin – vom Typ her wie Nazis (oder Junkies: was immer diese Gleichsetzung zu bedeuten hat).
Ein neuer Ermittlungsansatz
Die hauptsächlich ermittelnden Mordkommissionen in Kassel (MK Café), Dortmund (MK Kiosk) und die mit der Mordserie bereits befasste „Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Bosporus aus Nürnberg wählten nun – so unsere Hypothese — einen neuen Ermittlungsansatz. Der lange Jahre in der Mordserie ermittelnde Kriminalpolizist Werner Störzer formulierte das einmal indirekt so, dass es die Festnahme des ersten Tatverdächtigen in der Mordserie gewesen sei, die für die Polizei einen „Quantensprung“ in ihren weiteren Ermittlungen ausgelöst habe. (PUA Bayern, S. 107) Überzeugt davon, über Temme, der aus Sicht der Ermittler*innen an der Tat beteiligt war, an weitere Hintermänner zu gelangen, suchte man jetzt konkret nach jüngeren Nazis aus Temmes Umfeld. Der dringend tatverdächtige Temme war 2006 bereits 40 und damit eher zu alt, um auf die Beschreibungen der mutmaßlichen Mörder zu passen. Temme passte eher zu einer Beobachtung beim 2. Mord an Abdurrahim Özüdoğru im Juni 2001 in Nürnberg. Allerdings war der damals per Phantombild gesuchte Mann nicht direkt zur Tatzeit gesehen worden. Die Ermittlungen konzentrierten sich also darauf – am besten zwei — jüngere Tatverdächtige zu finden, auf die die Beschreibungen der Zeug*innen zutraf und die in Kontakt mit Temme standen.
Dem ermittelnden Staatsanwalt Götz Wied ging es darum, „Erkenntnisse über Kontakte des Beschuldigten zu Personen zu gewinnen, die möglicherweise als Hintermänner der Tat in Frage kommen.“ (PUA Hessen, Linke, S. 74) Die Konzentration auf konkrete Tatverdächtige in Temmes Umfeld kann ein Grund dafür gewesen sein, dass man in Dortmund gar nicht mehr nach Tatverdächtigen fahndete. Dort gab es, soweit ersichtlich, weder eine Weitergabe der Aussage der oben zitierten Augenzeugin, noch einen Hinweis auf Fahrradfahrer und auch kein Phantombild für die Öffentlichkeitsfahndung. (Stärkere Strahlkraft, S. 176ff)
Das alberne Reenactment eines 80er Jahre Stiefelnazis stammt ebenfalls aus Kassel: der Zeuge Bernd Tödter vor Gericht in München
Konflikte zwischen den Mordkommissionen und dem Verfassungsschutz
Für die Polizeibeamt*innen zeichnete sich ab, dass Temme zum Zeitpunkt der Tat im Internet-Café mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen dienstlichen Einsatz für seine Behörde absolviert hatte. Im Zuge der Ermittlungen gegen Temme und seine Hintermänner kam es zu Konflikten der Polizeibehörden mit dem LfV Hessen. Diese sind inzwischen teilweise dokumentiert. Der engagierten Recherche der Rechtsanwälte von Ismael Yozgat, Thomas Bliwier, Alexander Kienzle und Doris Dierbach, während des Strafprozesses vor dem OLG München verdanken wir die Kenntnis einiger Abhörprotokolle der fraglichen Telefongespräche. Aus ihnen geht hervor, dass das Amt versuchte, Temme wieder in den Dienst einzugliedern, und sich gegenüber den Mordermittler*innen unkooperativ zeigte. Der von der Staatsanwaltschaft geplante Haftbefehl gegen Temme – der gleich in seiner ersten Befragung gelogen hatte und so für die Polizei unglaubwürdig war – wurde nicht realisiert, schließlich sei gar „kein Haftbefehlsantrag“ gestellt worden, so der zuständige Staatsanwalt Götz Wied Jahre später vor dem 2. PUA des Bundestages.[ix] Der SPIEGEL sollte den Vorfall drei Monate später als „ politische Katastrophe mit kaum absehbaren internationalen Folgen“ bezeichnen. Die Ermittler*innen soll „statt Freude über den Erfolg“ der Festnahme von Temme, so die Formulierung, darüber „blankes Entsetzen“ ergriffen haben. [x] Wenn es so stimmt, wie es überliefert ist, dann war dieses Entsetzen der Polizei völlig berechtigt: Denn damit war den Ermittler*innen auch deutlich geworden, dass sich die weiteren Ermittlungen in dieser Causa zwangsläufig gegen das hessische Innenministerium würden zu richten haben. Das LfV Hessen war – was sich schnell zeigte – nicht sonderlich daran interessiert bei der Aufklärung der Mordserie mitzuwirken. Mit schnellen Entwicklungen bei den Vernehmungen im Umfeld des Tatverdächtigen war also nicht zu rechnen. Die „MK Café“ war hingegen an einer möglichst schnellen Aufklärung der Mordserie gelegen und so beschritt sie eine nachvollziehbare Doppelstrategie.
Sie suchte einerseits ein Arrangement mit dem LfV Hessen. Ganz in diesem Sinne richtete z.B. Staatsanwalt Wied vier Tage nach der Festnahme des Verfassungsschutzbeamten Temme an dessen Vorgesetzte im LfV, Iris Pilling, ein „Auskunftsersuchen in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren […] gegen den Mitarbeiter des LfV Andreas Temme“: Dringend erforderlich, schrieb Wied an Pilling, seien „Auskünfte über die berufliche Tätigkeit des Beschuldigten“, um so „die weitere Erforschung des Sachverhaltes und insbesondere die Aufklärung des Umfangs der Beteiligung von Herrn Temme“ an der Mordserie in Erfahrung zu bringen. Von Interesse seien dabei „die Aufenthaltsorte von Herrn Temme zu den Tatzeiten der vorangegangenen Tötungsdelikte“. Wied wies darauf hin, dass das auch „durch Befragung der von Herrn Temme geführten VMs erfolgen sollte“. (PUA Hessen, Linke, S.74)
Andererseits ging die Polizei eigene Ermittlungswege. Dazu gehörte auch die Überwachung einer Reihe von Telefonanschlüssen (TKÜ), unter anderem Temmes Dienst-und Privatnummern. Dabei stellte sich nicht nur heraus, dass man beim LfV keinesfalls an Aufklärung in der Mordserie interessiert war. Vielmehr erhielt der Tatverdächtige Temme auch noch Rückendeckung für seine Aktion im Internetcafé. Eine derartige Rückendeckung hat nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es sich hier mit aller Wahrscheinlichkeit um einen dienstlichen Einsatz gehandelt hat. Dies legen die abgehörten Telefonate auch nahe. Auch beschattete die Polizei Temme und versuchte z.B. ein Gespräch zwischen ihm und seiner Vorgesetzten Iris Pilling abzuhören, jener Kontaktperson, an die man offizielle Anfragen gesandt hatte. Dies misslang jedoch, da man sich beim Landesamt anscheinend gerne an einer lebhaft frequentierten Autobahnraststätte trifft. Die beschattenden Polizeibeamt*innen konnten das Gespräch nicht mithören, da sie nicht nahe genug an den Tatverdächtigen herankamen. (PUA Hessen, Linke, S. 78)
Es stellte sich also heraus, dass man vom LfV keine Unterstützung zu erwarten hatte und weitere Vernehmungen von Temme und seinem Umfeld sehr schwierig werden würden. Die Beamt*innen überlegten sogar, ob das Verhalten des Amtes strafwürdig sei, und diskutierten, inwiefern Temmes Vorgesetzte sich des Delikts der Strafvereitelung schuldig machten. Anfang Juni fertigte die Polizei einen Vermerk, dass „die TKÜ-Maßnahmen bei dem Beschuldigten LfV-Beamten TEMME kritische Feststellungen hinsichtlich des Verhaltens von Vorgesetzten des Beschuldigten erbracht haben.“ Es wurde darum gebeten, dass diese „Information […] auf einen möglichst kleinen Personenkreis beschränkt bleiben“ solle, kurz: „Keinerlei Hinweise unserer Bedenken an LfVH.“ (PUA Hessen, Linke, S. 74⁄75).
Temmes Quellen als mutmaßliche Tatbeteiligte
Bei der Durchsuchung von Temmes Unterlagen hatte die Polizei seine Quellen enttarnt und kannte somit seine V‑Leute, auch die aus der Kasseler Naziszene: „Zwischenzeitlich war es den Ermittelnden gelungen, anhand der bei Temme beschlagnahmten Unterlagen die Klarnamen der von ihm geführten VM [Vertrauensmänner] zu ermitteln.“ (PUA Hessen, Linke, S. 229). Aus zahlreichen Akten, die vom Hessischen PUA eingesehen werden konnten, geht hervor, dass über offizielle Kanäle versucht worden ist, alle V‑Leute von Temme zu befragen. Es gab, berechtigterweise, kein Vertrauen der Ermittelnden zum LfV. Andererseits waren die Nazis um Temme wichtige Tatverdächtige und als solche die bisher beste Spur. Es ist eine offene Frage, warum die Ermittlenden, wie es Clemens Binninger einmal im ersten NSU-PUA im Bundestag ausrief, damals nicht direkt auf die Zeugen oder mutmaßlichen Tatbeteiligten zugegangen waren Es sei ja schließlich um nichts geringeres als um die Aufklärung einer Mordserie gegangen. Da die Polizei kein Interesse daran hatte, sich vom LfV in die Karten schauen zu lassen, gibt es Gründe davon auszugehen, dass die Polizei bei manchen Ermittlungsschritten sehr vorsichtig war, was deren Dokumentation angeht. Vielleicht sind die Beamt*innen ja viel direkter auf die Tatverdächtigen zugegangen als heute bekannt ist. Im PUA Hessen ist dazu vermerkt: „Die StA [Staatsanwaltschaft] erwog zunächst, die Quellen ohne Einverständnis des LfV zur Vernehmung abzuholen, entschied sich dann aber dagegen“ (PUA Hessen, Linke, S. 229). Interessanterweise wird die Staatsanwaltschaft erwähnt, obwohl doch die Polizei für Vernehmungen zuständig gewesen wäre. Auch die Wortwahl „abzuholen“ fällt hier auf, man hatte also auch die Adressen dieser Leute.
Der Sitzungsvertreter des Generalbundesanwalts im Münchener NSU-Prozess Herbert Diemer — stur bis zum Schluss mit der Trio-These
Ein erster Treffer
Auch wenn im Dunkeln bleibt, wie die Ermittelnden genau an Temmes Umfeld herankamen, so ist uns doch bekannt, dass sie einen von Temmes V‑Leuten, einen Benjamin Gärtner, ausfindig machen konnten. Gärtner war in der Kasseler Neonaziszene aktiv. Sein Halbbruder galt als der Anführer der „Kameradschaft Kassel“. Gärtner hatte Zugang zu wichtigen Neonazi-Anführern in Nordhessen, die auch enge Kontakte nach Dortmund pflegten. (PUABTII, S. 888) Gärtner war 2006 ca. 22 Jahre alt und „hochgewachsen“[xi] sowie ein Neonazi, passte damit also zu den erwähnten Täterbeschreibungen. Dazu kam aber noch mehr: Temme und Gärtner hatten am Tattag zweimal telefoniert. Es konnte ermittelt werden, „dass zwischen Temme und Gärtner auch am 09.06.2005 (6. Mord in der Serie in Nürnberg an İsmail Yaşar) u. 15.06.2005 (7. Mord in München an Theodoros Boulgarides) Telefonate geplant waren bzw. stattgefunden haben.“ (PUA Hessen, Linke, S. 126) Ebenso fand ein Treffen mit Gärtner am 10. April, 4 Tage nach der Tat in Kassel, statt. Diese Erkenntnisse sind aus polizeilicher Sicht Volltreffer. Es gibt ein weiteres Indiz, welches eine Tatbeteiligung von Gärtner nahelegt, welches den Ermittlern 2006 jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht vorlag. Es gab am Tattag, schon kurz bevor Temme zum Tatort gefahren war, ein 11-minütiges Telefongespräch zwischen ihm und Benjamin Gärtner.
Als Benjamin Gärtner zum Mordfall in Kassel erstmals im April 2012 durch die Bundesanwaltschaft vernommen wurde, wurde ihm ein Anwalt des Verfassungsschutzes zur Seite gestellt, der ihn bei jeder Frage beraten konnte. Aus den vom PUA Hessen eingesehenen Akten ergibt sich – wenig überraschend –, dass das hessische Innenministerium an einer unkontrollierten polizeilichen Vernehmung ihrer „Vertrauenspersonen“ kein Interesse hatte. So wurde der Polizei lediglich offeriert, dass man doch selber die V‑Leute befragen und die Verhörprotokolle der Polizei übersenden werde. Es ist also nicht verwunderlich, dass sich die Mordermittlern*inne der „MK Café“ in ihrer Korrespondenz mit dem Amt nicht damit einverstanden zeigten, dass man die Zeugen nicht selbst vernehmen können würde. Ein weiteres Indiz, dass Gärtner damals eine wichtige Spur war, ergibt sich retrospektiv aus der Tatsache, dass der GBA kurz nach der Enttarnung des NSU 2011 eine Liste mit möglichen Unterstützer*innen anfertigte, auf der Gärtner stand.
Neues Profiling
Während die konkreten Ermittlungen in der Kasseler Naziszene stattfanden, kam Bewegung in die bundesweiten Ermittlungen, die aus Nürnberg koordiniert wurden. Plötzlich wurden wichtige Zeuginnen befragt, ein neues Profiling verfasst und ein Zusammenhang der Mordserie zum Nagelbombenanschlag in Köln wieder ausgegraben. Die Beamt*innen schienen sich recht sicher gewesen zu sein, dass sie kurz vor einem Fahndungserfolg standen, bei dem sie der Öffentlichkeit Neonazis als Tatverdächtige würden präsentieren können. Wenige Tage nachdem die Ermittlungen gegen Temme aufgenommen worden waren, gab man auch ein neues Profiling, unter der Fachbezeichnung Operative Fallanalyse (OFA), in Auftrag. Ziel: Eine gut ausgeführte Begründung dafür vorzulegen, warum ein Richtungswechsel in den weiteren Ermittlungen in der Mordserie angezeigt sei: Weg von der jahrelang ergebnislos verfolgten These der Organisierten Kriminalität (OK), hin zur Verfolgung einer gut organisierten und bundesweit operierenden Nazi-Gruppe. Das Profiling wurde in einer Rekordzeit von lediglich zwei Wochen von dem Fallanalytiker des LKA Bayern, Alexander Horn, zusammen mit vier weiteren Kolleg*innen fertig gestellt. Das Profiling kam zu dem Ergebnis, dass es sich wahrscheinlich um zwei Täter handeln müsse. Für einen Mittäter sprächen laut OFA vor allem die Zeug*innenaussagen im Fall des Mordes an İsmail Yaşar in Nürnberg im Juni 2005, bei dem die beiden Täter mit den Fahrrädern ja von vielen Zeug*innen gesehen worden waren, und die Verwendung von zwei Waffen bei den Morden an Enver Şimşek im September 2000 in Nürnberg und Süleyman Taşköprü in Hamburg im Juni 2001. Die Fallanalyse bezog alle empirischen Befunde in die Analyse mit ein (dieselbe Waffe, Tat am Tage ausgeführt, Opfer kannten einander nicht, Opfer waren aus Sicht des Täters austauschbar). Es entstand ein Täterprofil, das von einem oder zwei Tätern ausging, die bis zum Jahr 2000 eine Nähe zur rechten Szene gehabt, eine ausländerfeindliche Gesinnung besessen und die größte ethnische Minderheit in Deutschland, Türk*innen, gehasst hätten. Alexander Horn sagte bei der Vorstellung vor der „BAO Bosporus“ in Nürnberg am 9. Mai 2006: „Wenn es zwei Täter sind, wofür ja sehr vieles spricht, verbindet sie eine starke Dynamik. Sie inszenieren ihre Taten wie ein Abenteuer, wie eine militärische Kommandoaktion eben. Sie sind entweder Brüder – oder Brüder im Geiste.“ Das Profiling forderte die nochmalige Untersuchung des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße. Als Parallele zu den Mordtaten wurde hier gesehen: „Anschlag mit Nagelbombe in Straße mit eindeutig erkennbarem Schwerpunkt türkischer Geschäfte – Ermittlungen konnten bisher weder OK-Hintergrund, noch sonstiges Motiv erhellen; – Tatbegehung durch zwei Männer mit Fahrrädern; Tatbegehung als „Kommandoaktion““.(PUABT I, S. 578) Der später eng mit Horn für die Buchpublikation „Profiler auf der Spur von Serientätern“ zusammen arbeitende Journalist der Süddeutschen Joachim Käppner sollte hier in Bezug auf den Bombenanschlag in der Keupstrasse darauf verweisen, dass dieser „viele Parallelen zu den neun Morden auf(weise). Etwa die Männer mit den Fahrrädern, wie die beiden, von denen bei den Česká-Morden mehrfach berichtet wurde. Wie bei diesen geschah der Anschlag in einem Viertel mit hohem Ausländeranteil; das Motiv, (…) scheint dasselbe zu sein: Zerstörungsdrang, Hass“. (J. Käppner, S. 277)
Als Ermittlungsansätze empfahl die OFA u.a., dass man nach Personen mit Waffen- oder Sprengstoffaffinität suchen solle, die der Naziszene nahestanden. Auch Ermittlungen in den lokalen Naziszenen von Dortmund und Kassel werden in der OFA angeregt.
Liest man dieses Profiling durch, so beschreiben Teile davon den tatverdächtigen Verfassungsschützer Andreas Temme. Er wird darin ohne Namensnennung indirekt als „Person mit Tüte“ benannt. Bevor die Ermittelnden die Identität von Temme feststellen konnten, wurde nach ihm seinerzeit bereits gefahndet. Mehrere Zeug*innen hatten berichtet, dass diese Person eine auffällige Supermarkt-Plastiktüte getragen habe, die oben zugemacht worden war und in der sich etwas Eckiges befand. Bemerkenswert an diesem Profiling war auch die Ansage, nunmehr den Nagelbombenanschlag auf die Keupstraße in Köln vom Juni 2004 in die Ermittlungen zu der Mordserie an den Migranten einzubeziehen. Eben das war noch ein Jahr zuvor bei der Gründung der „BAO Bosporus“ gegen die auch presseöffentlich ausgesprochenen Anregungen der Kriminalpolizei in Köln von den Verantwortlichen in Nürnberg verworfen worden. Die Gründung der „BAO Bosporus“ war ganz unmittelbar und direkt mit dem Ende der Spur nach Köln verbunden. Der Sprecher des Polizeipräsidiums Nürnberg, Kiminalrat Peter Grösch, hatte damals in der Nürnberger Zeitung vom 23. Juni 2005 apodiktisch erklärt: „Eine von den Medien ins Spiel gebrachte Verbindung zwischen der Mordserie und dem Nagelbomben-Attentat vor einem Jahr in Köln besteht jedoch nicht. (…) Es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen dem Verbrechen in Köln und den sieben Morden an den Kleinunternehmern.“ Nun machten die polizeilichen Ermittler mit ihrer Entscheidung, den mörderischen Anschlag auf die Keupstraße in die weiteren Ermittlungen aufzunehmen, klar, dass sie in ihrer Suche entschieden Kurs auf eine Nazi-Organisierung nahmen. Am 23. Mai 2006, zwei Wochen nach einer internen Vorstellung der OFA, wurde eine der wichtigen Zeuginnen aus Nürnberg, die die Mörder von İsmail Yaşar im Juni 2005 beobachtet hatte, zu dem Überwachungsvideo in der Keupstraße befragt. Es zeigte zwei Basecap tragende, ein Fahrrad mit einem Topcase schiebende Männer mutmaßlich auf dem Weg zum Tatort. Beide wurden von der Nürnberger Zeugin als Mörder von Yaşar wiedererkannt. (PUA Bayern, S. 99
Die Hauptangeklagte im NSU-Prozess Beate Zschäpe — bis heute versucht sie sich mit ihrem Wissen wichtig zu machen, ohne ernsthaft zur Aufklärung beizutragen: schwieg sie über Jahre im Verfahren, dient sie sich heute dem PUA des Bayerischen Landtags als Aussteigerin an
Ein weiterer Treffer
In Kassel und Dortmund führten die Ermittlungen im Juni 2006 zu einem weiteren Treffer, der unseres Erachtens bis heute überhaupt nicht klar erfasst worden ist. Am Freitag, 9. Juni, legen die Ermittler in Dortmund der Zeugin Jelica Demian* ein Lichtbild von Andreas Temme vor. Dabei konnte sie ihn nicht als einen der Täter identifizieren, die sie gesehen hatte. Temme war offensichtlich zu alt. Ob der Zeugin ein Lichtbild von Gärtner vorgelegt wurde, ist nicht bekannt, wohl aber denkbar. Drei Tage später, am Montag, 12. Juni, luden die in Kassel Ermittelnden Markus Hartmann zur Vernehmung auf das Kasseler Polizeipräsidium vor. Hartmann war der Polizei als Neonazi bekannt, er hatte zuletzt Anfang 2006 in einer Kneipe einen Hitlergruß gezeigt. Die Abteilung Staatsschutz der Polizei war in Kassel und Umgebung für die politisch motivierten Straftaten im Bereich Rechtsextremismus zuständig. Sie ermittelte deshalb zum Beispiel bei Delikten wie dem Zeigen des Hitlergrußes oder anderweitigem Verwenden von Zeichen verfassungswidriger Organisationen (§86a StGB). (PUA Lueb, S. 47) Erst kurz vor dem Mord an Hailt Yozgat, im März 2006, hatte das LfV Hessen eine Personenermittlung zu Hartmann angestrengt. Dabei wollte man „die vollständigen Personendaten, sowie ein Lichtbild und Polizeiliche Erkenntnisse“ ermitteln. (PUA Lueb, SPD, FDP, S. 256) Das bedeutete aber wiederum, dass der Polizei bekannt war, dass Hartmann für das LfV von Interesse war. Inwieweit Andreas Temme an der Beschaffung der Informationen zu Hartmann beteiligt war, ist nicht bekannt. Denkbar ist, dass sich Hartmanns Name in dem Notizbuch befand, welches die Polizei bei Temme sichergestellt hatte.
Die SPD und FDP-Landtagsfraktionen in Hessen haben nun im Untersuchungsauschussbericht zur Ermordung von Walter Lübcke die Vernehmung von Hartmann ausführlicher dargestellt.
Hartmann sei durch seinen Freund Nazif Kasan* auf den Mord an Halit Yozgat aufmerksam gemacht worden. Kasan* sei mit der Familie Yozgat verschwägert. Hartmann erzählte den vernehmenden Beamt*innen, dass er auf einer BKA-Webseite nach einem Foto des Verstorbenen gesucht habe, da er diesen ja wahrscheinlich gekannt habe. Einmal habe er Halit Yozgat direkt getroffen, und zwar „an der Imbissbude der Familie K., direkt an dem Wohnhaus, xxx1021, […] und dadurch auch ganz kurz kennen gelernt.“ Hartmann wurde noch kurz zu seinem Alibi am Tag der Ermordung von Halit Yozgat befragt und dann aus der Vernehmung entlassen. In seiner Vernehmung durch den hessischen Untersuchungsausschuss gab Hartmann Mitte Dezember 2022 noch an, vor der Vernehmung von dem Polizeibeamten im Treppenhaus „auf die Sache mit der Verurteilung wegen des Hitlergrußes angesprochen“ worden zu sein. (PUA Lueb, SPD/FDP, S. 308–12)
Hartmann, Jahrgang 1976, war zu Beginn der Mordserie Mitte zwanzig und hätte ohne Weiteres zu den Zeug*innenaussagen über die beiden Fahrradfahrer aus Köln und Nürnberg gepasst. Auf ihn traf auch das im Profiling (OFA Horn) angesprochene Merkmal wie Sprengstoffaffinität zu. Hartmann war am 7. April 2005, also fast genau ein Jahr vor dem Mord, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung nach § 34 der „Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz“ ausgestellt worden, mit der er an einem Sprengstofflehrgang teilnehmen konnte. Er war offensichtlich in der Kasseler Naziszene aktiv, der 2006 etwa 30 Personen angehört haben sollen. Mit Benjamin Gärtner wird er wohl schon deshalb bekannt gewesen sein. Im Lübcke-PUA wird mehrfach erwähnt, dass die Meldeadressen der beiden nahe zueinander gelegen haben sollen. Der wichtigste Punkt jedoch war einer, der für die Ermittelnden in der ganzen Mordserie immer eine extreme Bedeutung hatte: Hartmann kannte das Mordopfer. Allein diese Beziehung musste als Spur gewertet werden.
Während Hartmann in Kassel verhört wurde, war am gleichen Tag in Dortmund auch die Augenzeugin vorgeladen, um ein Phantombild des Fahrradfahrers mit Basecap anzufertigen. Da in Dortmund im Zuge der Ermittlungen in Kassel alle Hinweise auf die dortigen Tatverdächtigen (Fahrräder, Bezeichnung als Nazis, Personenbeschreibungen) der Öffentlichkeit vorenthalten worden waren (Stärkere Strahlkraft, S. 176ff), gab es keinen nachvollziehbaren Grund, zwei Monate nach der Tat plötzlich ein Phantombild anfertigen zu lassen. Es ist, soweit wir das wissen, 2006 auch nicht an die Presse weitergegeben worden. Es diente wohl eher dazu, bei den Ermittlungen in der Kasseler Naziszene mit einer Bildvorlage arbeiten zu können. Ob der Dortmunder Zeugin, die in der gleichen Woche nochmals einbestellt wurde, ein Foto von Hartmann gezeigt worden ist, ist nicht bekannt.
Eine halbseidene Flitzpiepe von einem Schlapphut: Andreas Temme wurde 5 Tage lang in München zum Mordfall Halit Yozgat vernommen und wand sich aus der Beantwortung drängender Fragen stur, schmierig und quengelnd heraus
Vernehmung von Temme wird vorbereitet
Mit Temme, Gärtner und Hartmann schienen die Ermittelnden eine Gruppe von drei rechtsgerichteten Tatverdächtigen eingekreist zu haben, welche sich nach entsprechenden Vernehmungen dem Haftrichter würden vorführen lassen. Allein Temme war nach wie vor dringend tatverdächtig. Der Verdacht gegen ihn erhärtete sich am 16. Juni durch eine genaue Rekonstruktion des Mordes in Kassel. Dabei wurden die Zeug*innenaussagen wiedergegeben und in einen Zusammenhang gebracht mit den jeweiligen PC- und Telefon-Aktivitäten der einzelnen Zeug*innen in dem Internet-Café. (PUA Hessen, Linke S.20 ff) Am selben Tag wurde eine Wegrekonstruktion mit der Dortmunder Zeugin gemacht und ein neues Protokoll erstellt. In diesem tauchen zwei neue Aspekte auf. Sie erwähnt das Basecap und bezeichnet die beiden tatverdächtigen Männer als „Junkies oder Nazis“. Die Ermittler*innen waren jetzt jeden Tag aktiv.
Am 18. Juni fasst Profiler Alexander Horn in einem Vermerk für die „MK Café“ den bis dahin erreichten Wissensstand zu Andreas Temme zusammen. Er forderte hier, dass „im Rahmen der Vorbereitung der Vernehmung“ von Temme Gespräche mit den Verantwortlichen des hessischen LfV geführt werden sollten. Horn formulierte weiter: „Das Ziel dieser Gespräche sollte eine Infragestellung und Erschütterung der derzeit überraschend stark wirkenden innerdienstlichen Position des Temme sein.“ Horn riet dazu, das LfV zu einer „echten Kooperation“ aufzufordern, „da sonst eine Schädigung der Behörde unvermeidbar sein dürfte (Schriften mit rechtsextremistischem Hintergrund im Privatbesitz, Haschbesitz)“. Horn spricht davon, dass dem LfV drei allesamt „unerfreuliche“ Szenarien verdeutlicht werden müssten, die Temme
als Täter
als Zeugen, der eine wichtige Wahrnehmung verschweigt oder
als Person, die zur falschen Zeit, am falschen Ort ist, sich danach falsch verhält (er hatte sich nicht selbst gemeldet) und der zudem „mit seinem Besuch des Internetcafés erheblich gegen interne Sicherheitsregeln verstoßen hat.“
Horn sah hier bei Temme „Anzeichen für eine überangepasste Persönlichkeit, die eigene Interessen auch in der Vergangenheit verdeckt verfolgt hat.“ (PUA Hessen, Linke, S. 81 – 83).
Unseres Erachtens waren die Beamt*innen sich in jenen Tagen 2006 ziemlich sicher, dass sie weitere Vernehmungen würden vornehmen können und bereiteten sich auch darauf vor, dass im Falle eines Geständnisses Haftbefehle erlassen werden müssten und die Presse erfahren würde, dass man Nazis in Gewahrsam genommen habe. So erklären wir uns, dass am 19. Juni die Presse schon einmal darauf vorbereitet wurde, dass man bald einen Täter präsentieren werde. Am 20. Juni kam es in Nürnberg zu einem Treffen der „BAO Bosporus“ mit zwei Ermittlern der Polizei Köln. Man legte fest, dass „die Videoaufnahmen samt Lichtbildausdrucken entsprechenden Zeugen“ in den Verfahren Yaşar, sowie der Zeugin aus Dortmund vorgelegt werden sollten. (PUABT I, S. 524) Bei diesem Treffen könnte abgestimmt worden sein, wie man sich gegenüber der Öffentlichkeit positionieren wollte.
Ermittlungen werden gestoppt
Wenige Tage später, gegen Ende Juni, kamen die Ermittlungen gegen die „Temme-Gruppe“ zum Erliegen. Am Ende schaltete sich der damalige hessische Innenminister ein, der Staatsanwaltschaft teilte man schließlich mit, dass sich die Ermittlungen „auf den Kern der geheim zu haltenden Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz richten und unabsehbare Risiken für die öffentliche Sicherheit in Nordhessen herbeiführen“ könnten. Es gab dazu auch ein offizielles Treffen am 30. Juni 2006 zwischen der Staatsanwaltschaft Kassel, der „MK Café“ und Vertreter*innen des LfV Hessen. Hier machte das LfV seinen Standpunkt in der Causa Temme wohl sehr deutlich. Man sehe derzeit keinen Anlass dazu, über die Suspendierung von Temme nachzudenken. Während des Gesprächs soll der Geheimschutz-Beauftragte des LfV Hessen, Gerald-Hasso Hess, darauf hingewiesen haben, dass eine Vernehmung der Quellen von Andreas Temme „das größtmögliche Unglück für das Landesamt darstellen würde“. Durch die Genehmigung solcher Vernehmungen würde es „für einen fremden Dienst einfach [sein], das gesamte LfV lahmzulegen. Man müsse nur eine Leiche in der Nähe eines VM bzw. eines VM-Führers positionieren.“ Bezugnehmend auf Ausführungen von Kriminaldirektor Hoffmann teilte der Referent des Landespolizeipräsidenten Nederla, Karlheinz Schaffer, seinen Vorgesetzten aus dem Verlauf des Treffens in einem Vermerk mit: „Seitens der LfVH-Vertreter“ gab es „von Beginn an kein Interesse an sachfördernder Kooperation. Äußerungen wie ‚…wir haben es hier doch nur mit einem Tötungsdelikt zu tun…‘ und ‚…Stellen Sie sich vor, was ein Vertrauensentzug für den Menschen (Temme) bedeutet…‘ machten deutlich, dass das LfVH die eigene Geheimhaltung, die ‚für das Wohl des Landes Hessen‘ bedeutsam sei, über die mögliche Aufklärung der im Raum stehenden Verdachtsmomente gegen einen LfVH-Mitarbeiter stellt.“ (PUA Hessen, Linke, S. 87) Am 5. Oktober 2006 erfolgte schließlich eine endgültige Sperrerklärung bezüglich Vernehmung von V‑Leuten: der hessische Innenminister Volker Bouffier in einem Brief an die Staatsanwaltschaft: „Die erbetenen Aussagegenehmigungen (können) nicht erteilt werden […], ohne dass dem Wohl des Landes Hessen Nachteile bereitet und die Erfüllung öffentlicher Aufgaben erheblich erschwert würden.“ (PUA Hessen, Linke, S. 136) Drei Wochen zuvor hatte Bouffier den Eltern des ermordeten Halit Yozgat in einem Brief noch seine Anteilnahme wegen der Ermordung ihres Sohnes übermittelt. Hier war es ihm sehr wichtig zu versichern, dass „wirklich alle Möglichkeiten“ ausgeschöpft werden würden, um die Täter zu finden. (Stärkere Strahlkraft, S. 212)
Der Versuch der Mordermittler*innen, die Unterstützungshaltung des hessischen LfV für den tatverdächtigen Temme mit dem Ziel aufzubrechen, eine Nazigruppe als Mörder der Migranten dingfest zu machen, war gescheitert. Von Bouffier sind alle Versuche der Polizei, im Jahre 2006 erfolgversprechende Ermittlungen gegen eine Nazi-Gruppe wegen der Mordserie an neun Migranten und des Nagelbombenanschlags von Köln voranzutreiben, unterbunden worden. Mehr noch: Durch die Blockadepolitik des hessischen Innenministers gegenüber den polizeilichen Ermittlungen in der Mordserie errichtete dieser für fünf weitere lange Jahre – bis zur Selbstenttarnung des NSU – gewissermaßen eine „Mauer des Schweigens“ um die Urheberschaft der Mordserie an den neun Migranten. Die Verdächtigungen und Stigmatisierungen der Angehörigen der Mordopfer gingen natürlich ungebrochen weiter. Konkret wurde damit insbesondere eine direkte Vernehmung von Benjamin Gärtner erfolgreich vereitelt. Die damaligen Mordermittler bekamen den V‑Mann und Nazi Gärtner Zeit der Existenz der zuständigen Mordkommissionen nicht mehr zu Gesicht. Auch Ermittlungen im Fall Hartmann, z.B. eine Vernehmung seines „Freundes“ Nazif Kasan*, der mit dem Mordopfer verwandt war, erfolgten – zumindest laut Quellenlage – nicht mehr. Hier wurde nicht einfach eine kalte Spur zu den Akten gelegt. Hier wurden die Ermittlungen über Nacht beendet, eine heiße Spur kalt abgeschnitten. Die Vernehmung von Nazif Kasan* wurde dann übrigens dreizehn Jahre später (!) noch nachgeholt, ein klares Indiz dafür, dass hier etwas Zentrales versäumt worden war.
Die Eltern des Mordopfers Halit, Ismail und Ayse Yozgat als Nebenkläger*innen im NSU-Verfahren. Vater Yozgat zu Temme: „Herr Temme hat entweder gesehen, wer die Täter waren, oder er hat sie geführt, oder er hat selber die Tat begangen und meinen Sohn ermordet. Ich finde keine anderen Antworten als diese.“
Entwicklungen nach der Selbstenttarnung 2011
Nach der Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 eröffnete die Bundesanwaltschaft (BAW) unter dem Titel „Trio“ ein Ermittlungsverfahren gegen drei, genau drei einer rechtsterroristischen Vereinigung zugerechnete Nazis aus Ostdeutschland. Nun wurde in der Mordserie wieder ermittelt. Benjamin Gärtner wurde Ende April 2012 erstmals in der Angelegenheit polizeilich vernommen – allerdings in Begleitung eines vom LfV Hessen finanzierten Rechtsanwaltes. (PUA Hessen, Linke, S. 195ff) Dabei wurde er auch zu dem inzwischen bekannt gewordenen, mit 11 Minuten sehr langen Telefongespräch mit seinem V‑Mann-Führer Temme befragt, welches am 6. April 2006, kurz vor der Ermordung von Halit Yozgat stattgefunden hatte. Er konnte sich daran genau so wenig erinnern, wie auch Andreas Temme in seinen Vernehmungen. (PUA Hessen, Linke, S. 40) Woran Markus Hartmann sich 2012 noch hätte erinnern können, ist eine gute Frage: Seine Vernehmungsakte vom Juni 2006 tauchte in den nach der Offenlegung des rechtsterroristischen Hintergrunds 2011 neu angestoßenen Ermittlungen einfach nicht mehr auf. Hier stellten die Vertreter*innen der Partei „Die Linke“ in ihrem Votum zum Lübcke-Ausschuss ernüchtert fest: „Dieser Umstand überrascht umso mehr, da H. bei dem […] Abgleich der Datenbank CRIME und der Datenbank der Mordkommission im Jahr 2011 als Schnittmenge auffiel.“ (PUA Lueb, Linke, S. 166) Kurz: Die Akte Hartmann in der Mordsache Yozgat spielte in den ab 2012 arbeitenden parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zum NSU wie auch in dem im Mai 2013 beginnenden Strafverfahren vor dem OLG München keine Rolle. Diese nächste Mauer des Schweigens hielt bis Ende Juni 2019 und hat so eine Reihe notwendiger Ermittlungen verhindert. Es ist bis heute ungeklärt, wie die Mörder – sollten sie von außen gekommen sein – an ausreichend Informationen zu den Tatorten gekommen sein sollen. Ein lokaler Nazi vor Ort mit Kontakt zum Mordopfer hätte da schon relevant sein können.
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass es 2011 auch keine Ermittlungen im Fall des Kasseler Neonazis Martin Korn* gab, obwohl dieser neben dem Internet-Café wohnte. Dieser hätte den Tätern zum Beispiel vor und nach der Tat schnell Unterschlupf gewähren können. Mindestens drei Kasseler Neonazis – Gärtner, Hartmann und Martin Korn* — hatten Verbindungen zum Opfer. Weitere Verbindungen hätten womöglich aufgedeckt werden können. Seit ihrer Vernehmung durch den hessischen Untersuchungsausschuss weiß man heute, dass auch die u.a. mit Bombenbau beschäftigte Nazi-Aktivistin Corryna Görtz das Internet-Café Ende 2005 – nach ihren eigenen Angaben – wenigstens dreimal besucht hatte. (PUA Hessen, Linke, S. 168). Görtz verfügte auch über Verbindungen zum Thüringer Heimatschutz.[xii] Sollte je der Wille bestehen, den Mord an Halit Yozgat doch noch ganz aufzuklären, dann wird man sich alle diese Spuren noch einmal vornehmen müssen. Angesichts der blinden Flecken, was mutmaßliche Tatbeteiligte an der Mordserie aus Kassel angeht, war es für die BAW ein leichtes, die Ermittlungen in der Mordserie in der im November 2012 dann vorgelegte Anklageschrift so abzuschließen, dass jeder konkrete Tatbezug auf westdeutsche Naziaktivist*innen, ob nun in Kassel, Dortmund oder in Hamburg und Köln aus dem Blick geriet.
Entwicklungen nach dem Lübcke-Mord
In der Nacht zum 2. Juni 2019 wurde Walter Lübcke ermordet, am 15. Juni der Kasseler Nazi Stephan Ernst als dringend tatverdächtig festgenommen. Am 25. Juni kam es zu einem ersten Geständnis, bei dem auch der Name von Markus Hartmann fiel.[xiii] Einen Tag später, am 26. Juni, wurde auch Markus Hartmann festgenommen, am 27. Juni ein Haftbefehl gegen ihn erlassen.[xiv] Am gleichen Tag erschien um 14.51 Uhr ein Beitrag auf Spiegel online. Dort heißt es, Hartmann sei bereits im Zuge der Mordermittlung zu Halit Yozgat 2006 vernommen worden.[xv] Der Inhalt des Artikels stimmt inhaltlich weitgehend mit einem Vermerk des BKA vom gleichen Tag überein, den die nach dem Wohnort von Walter Lübcke benannte Soko Liemecke um „11:24“ Uhr zur Ermordung von Walter Lübcke anfertigte (PUA Lueb, Linke, S. 166). Es liegt nahe zu vermuten, dass das so abgesprochen war. Zuerst veröffentlicht der Generalbundesanwalt die Nachricht von dem Haftbefehl gegen Hartmann, dann wird in den Akten eingetragen, dass Hartmann schon als Zeuge bei den NSU-Morden auftauchte, und dann wird das ganze drei Stunden später online in der Presse veröffentlicht. Denkbar ist, dass die GBA nach der Inhaftierung von Hartmann nicht das Risiko eingehen wollte, dass Hartmann selbst in einer Vernehmung aussagen würde, dass er 2006 schon bei der NSU-Mordserie von der Polizei vernommen worden war. So bot sich eine Veröffentlichung an, die aber gleich mit dem kruden Hinweis versehen war, dass die Vernehmung damals „nicht weiter relevant, als abgeschlossen anzusehen“ gewesen sein soll. Wie wir dargestellt haben, waren die Mordermittler*innen in jenen Junitagen 2006 weit davon entfernt die Nazispur abzuschließen, weshalb dieser Vermerk kritisch zu sehen ist.
[i] Oberlandesgericht München 6. Strafsenat (Richter Manfred Götzl, Dr. Peter Lang, Dr. Konstantin Kuchenbauer, Michaela Odersky, Axel Kramer) Urteil im Namen des Volkes gegen Beate Zschäpe u.a. Az: 6 St / 312 vom 20.4.2020, URL: https://fragdenstaat.de/dokumente/4766-nsu-urteil/
[ii] Frauke Hunfeld: NSU-Chef-Aufklärer: „Es gibt Tatbeteiligte, die wir noch nicht kennen“. Interview im STERN vom 9.7. 2018, URL ://www.stern.de/politik/deutschland/nsu-ausschussvorsitzender-clemens-binninger—viele-fehler-passiert–8146480.html
[iii] Martin Steinhagen: Aufklärung unter Hessischen Bedingungen. in Frankfurter Rundschau vom 8.4.2019 (Bericht über die 55. Sitzung des NSU-UA-Hessen vom Montag den 26.6.2017) URL: https://www.fr.de/rhein-main/nsu-morde-aufklaerung-unter-hessischen-bedingungen-12141609.html
[iv] Franz Feyder: Vor Gericht ist kein Platz für andere Theorien, in: Stuttgarter Nachrichten vom 15.01.2014. URL: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.polizistenmord-von-heilbronn-vor-gericht-ist-kein-platz-fuer-andere-theorien.cc343562-0b9c-4505–9687-6d05cb27d369.html
[v] Rezension des Buches von Tanjev Schulz: „Nationalsozialistischer Untergrund“ vom 16.9. 2021. URL: https://antifra.blog.rosalux.de/rezension-tanjev-schultz-nationalsozialistischer-untergrund/
[vi] Juliane Karakayalı, Massimo Perinelli: Postmigrantisches Gedenken. Solidarische Praktiken gegen institutionellen Rassismus, in: APuZ 37–38/2023, S. 33 — 39, hier S. 35, URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/nsu-komplex-2023/539787/postmigrantisches-gedenken/
[vii] Gerd Elendt, Kerstin Herrnkind: Am 6. April 2006 wird der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel erschossen / Die Täter: Laut Anklage das NSU-Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe / Die Zweifel: Was macht der Verfassungsschützer Sekunden vor der Tat in dem Geschäft? Hat er wirklich nichts gesehen? Und warum behindern Geheimdienst und Politik die Arbeit der Mordkommission?, in: STERN Nr.49 vom 27.11.2014, S. 68–74, URL: http://www.stern.de/politik/deutschland/beate-zschaepe-im-nsu-prozess–der-mord-in-kassel-und-der-mann-vom-verfassungsschutz-3251268.html
[viii] Frank Jansen: „Du hast unsere Zeit verplempert in so einer Asselbude bei einem Dreckstürken“, in: TSP vom 30.06.2015, URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/du-hast-unsere-zeit-verplempert-in-so-einer-asselbude-bei-einem-drecksturken-5780950.html
[ix]UABTII, Anlage 27, S. 11 URL: https://dserver.bundestag.de/btd/18/CD12950/Anlagen%200001–0094/Anlage%2027%20-%2043.%20Sitzung_endg.%20stenogr.%20Protokoll_15.12.2016.pdf
[x] Guido Kleinhubbert, Conny Neumann und Sven Röbel: Seltsame Neigungen. Nach dem neunten Mord an ausländischen Kleinunternehmern glaubte sich die Polizei vor dem Durchbruch: Sie nahm vorübergehend einen hessischen Verfassungsschützer fest, in: SPIEGEL Nr. 29 v. 16.07.2006, URL: https://www.spiegel.de/politik/seltsame-neigungen-a-375d7c71-0002–0001-0000–000047602972
[xi] Martin Steinhagen und Hanning Voigts: Gegrillt und gesoffen bei Rechtsrock., in: FR vom 18.1.2019, URL: https://www.fr.de/politik/gegrillt-gesoffen-rechtsrock-11063303.html
[xii] Recherchekollektiv Exif: Nicht verfolgte Spuren im Mordfall Halit Yozgat – Verbindungen zwischen dem NSU-Mord & dem Mord an Walter Lübcke, in: exif-recherche.org vom 1.3.2020, URL: https://exif-recherche.org/?p=6622
[xiii] Julia Jüttner: Die Enttarnung des Stephan Ernst, in: SPON vom 27.08.2020, URL: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/fall-walter-luebcke-wie-die-ermittler-auf-stephan-ernst-und-markus-h-kamen-a-a638f0dd-70a1-429b-b277-f7ef9446bad9
[xiv] Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Mitteilung zum Stand der Ermittlungen im Ermittlungsverfahren wegen des Mordes zum Nachteil des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke, URL: Pressemitteilung2-vom-27–06-2019.html
[xv] Sven Röbel und Roman Lehberger: Mutmaßlicher Waffenvermittler im Fall Lübcke. Polizei befragte Markus H. schon 2006 zu NSU-Mord / Mordermittler haben einen der Verdächtigen im Mordfall Lübcke bereits vor 13 Jahren vernommen: Der jetzt festgenommene Rechtsextremist Markus H. tauchte im Verfahren zu einem NSU-Mord auf, in: SPON vom 27.06.2019, URL: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/walter-luebcke-polizei-befragte-markus-h-2006-wegen-nsu-mord-a-1274644.html
Markus Mohr, Daniel Roth: Stärkere Strahlkraft / Wahrheit und Lüge in den polizeilichen Ermittlungen im NSU-Komplex, Leipzig 2021, URL: https://strahlkraft-buch.org
Ayşen Taşköprü: „Alles was ich noch möchte, sind Antworten. Wer sind die Leute hinter der NSU? Warum ausgerechnet mein Bruder? Was hatte der deutsche Staat damit zu tun? Wer hat die Akten vernichtet und warum?“ (Aus dem Absagebrief zur Einladung des Bundespräsidenten Joachim Gauck zu einem Empfang für die Angehörigen der Opfer des NSU, im Februar 2013) * Fotos: Burschel
Für Süleyman Taşköprü
Im Mai 1999 veröffentlichte die Nazizeitung Hamburger Sturm ein Aufsehen erregendes Interview. Hier erhielten erstmals die sogenannten „National Revolutionären Zellen“ (NRZ) das Wort und sie sprachen sich für die Praxis des bewaffneten Untergrundkampfes aus. Das dazu gehörige Foto zeigt einen Mann mit Sturmhaube und ein Interviewter gibt unmissverständlich kund: „Unser Weg ist der aus dem Untergrund handelnde Aktivist.“ Weiter heißt es: „Man darf nicht vergessen, dass wir im Krieg sind mit diesem System und da gehen nun mal einige Bullen oder sonstige Feinde drauf.“ Ergänzt wurden diese markanten Aussagen durch Hinweise und Tipps für klandestines Verhalten. Diese durch den Hamburger Sturm öffentlich kund getane Konzeption des bewaffneten Kampfes, wurde zeitgenössisch nicht nur von Antifaschist*innen, sondern auch von den Skinheads in Zwickau und Chemnitz aufmerksam registriert. In ihrem Statement legten die NRZ dar: „Wir sind eine Gruppe von mehreren Personen, die in der NPD tätig sind, aber mit dem NPD-Führungsstil unzufrieden geworden sind“, weshalb „wir den neuen Weg als handelnde Aktivisten aus dem Untergrund eingeschlagen haben“. Mitmachen bei dem „Untergrundkampf für die Freiheit der Weißen Völker“ können ausschließlich Männer, die Kampfsport betreiben und mit Waffen umgehen können sowie Computerkenntnisse haben. Continue reading „Grüne Infamie: In Hamburg kein NSU-Untersuchungsausschuss“