„Democrazy“ heißt ein Schwerpunkt auf dem diesjährigen Münchener Dokumentarfilmfestival Dok.fest und widmet sich den „auseinanderstrebenden Kräften innerhalb europäischer Demokratien“, wie es im Programmheft heißt. Mit „crazy“ ist noch mild umschrieben, mit welchem politisch und ästhetisch aus der Zeit gefallenen Streifen Deutschland in dieser Reihe vertreten ist. Mit „Fragmente aus der Provinz“ vom Dokumentarfilmer Martin Weinhart lief auf dem Dok.fest ein Film, der die bevorstehenden Dammbrüche der Faschisierung in Ostdeutschland in fahrlässiger Weise verharmlost und ohne Kenntnis der wahren Situation vor Ort zur Normalisierung beiträgt.
Tommy Frenck im Fokus
Um was geht es: der Film spielt in Südthüringen, wo seit Jahrzehnten der Neonazi Tommy Frenck der weitgehend hilflosen (Zivil-)Gesellschaft auf der Nase herumtanzt. Und Frenck ist das Thema, das der Film geradezu mikroskopisch in den Fokus nimmt. Zur Erinnerung: der aus Schleusingen stammende Mittdreißiger ist weit über die Grenzen Thüringens hinaus für sein Agieren als Faschist bekannt und mischt spätestens als Wirt der Gaststätte „Goldener Löwe“ in Kloster Veßra den strukturschwachen Landstrich auf. Er betreibt diese Gaststätte, wo das Führerschnitzel am 20. April immer 8.88 Euro kostet, die Versandhandel druck18 bzw. 88 für Nazi-Outfit, Naziliteratur und Nazidevotionalien, organisiert in der Nachbarschaft die größten Rechtsrock-Konzerte im ganzen Land mit über 6000 teilnehmenden Hardcore-Nazis – auf dem Privatgrund des AfD-Politikers Bodo Dressel — und lotet die wachsweichen Genzen der heimischen Demokratie auf kommunaler und Landesebene aus – entweder in seiner Jugend für die NPD, dann deren Nachfolge-Partei „Die Heimat“ und die Wählergemeinschaft Bündnis Zukunft Hildburghausen. Als Landratskandidat erhielt er 2018 17 Prozent der Stimmen, 2022 30 Prozent als Bürgermeisterkandidat in Kloster Veßra.
Nazi-Versteher-Filme
Die Frage ist nun, warum Martin Weinhart es für richtig hält, mit seiner Kamera diesem Menschen wirklich auf die Pelle zu rücken und Löcher in den Bauch zu fragen – und ihn so hoffähig zu machen, zu normalisieren und zu verharmlosen. So, wie Weinhart sich auch beim Publikumsgespräch im Anschluss an die Filmvorführung in der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in München gab, scheint er zu glauben, einen ganz großen Coup gelandet zu haben und der Welt wirklich mal ungeschminkt einen Neonazi vorzuführen. Dass sein Agieren sträflich geschichtslos ist, offenbart ein Blick in die 1990-er Jahre, wo die Nazi-Versteher-Filme „Stau – jetzt geht‘s los“ (1992), „Beruf Neonazi“ (1993) (übrigens über den Münchener Neonazi Ewald Althans), „Führer Ex“ und viele weitere mit ihren distanzlos intimen Nahaufnahmen von Nazis heftig hinterfragt und in langen Diskussionen letztlich doch verworfen wurden. Wenn der Münchener Filmemacher Weinhart dann auch noch resümiert, mit Frenck könne man gut reden und der wolle doch auch nur irgendwie dazu gehören, dröhnt einem der Ärzte-Song vom „stummen Schrei nach Liebe“ in den Ohren. Weinreich bietet Frenck in gefühlt einem Fünftel des Films ausführlich und kaum hinterfragt Gelegenheit, seine sattsam bekannte, unverhohlen menschenverachtende, rassistische und in Tradition des historischen Nationalsozialismus stehende Ideologie auszubreiten. Es wird auch wahrlich unangenehm körperlich, wenn Frenck seine Nazi-Tattoos erläutern, Bank drücken und alle nur erdenklichen Nazi-T-Shirts wie auf einer Modenschau präsentieren darf. Die Kamera fährt durch die Küche von Frencks Gasthaus, beobachtet die Zubereitung von Essen in der vollgestellten, ekligen Küche und führt Postangestellte beim Abtransport von massenweise Versandstücken vor. Fassungslos fragt man sich, wer das im Jahre 2024 noch braucht, um den Schuss zu hören. Zumal Frenck routiniert die Inszenierung seiner Person durch den allenfalls harmlos nachfragenden Filmemacher nutzt, um ungefiltert und freundlich lächelnd seine haarsträubende Ideologie – natürlich inklusive N‑Wort – in die Kamera zu sprechen. Sicher kann sich Weinhart auch nicht an Michel Friedmanns Interview mit dem fanatischen Holocaust-Leugner Horst Mahler 2010 erinnert, wo Friedmann dachte, weiß Gott wie er den verbohrten Nazi da vorgeführt habe: Tatsache bleibt, dass Mahler damals entspannt die Gelegenheit nutzte, seine Leugnung der Shoah einmal mehr zu wiederholen.
Mit Maaßen on the road
Aber nicht genug damit: der Film hat einen weiteren Protagonisten, nämlich Hans-Georg Maaßen, den einstigen Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, den eine rechtsoffene CDU im Wahlkreis Wahlkreis Suhl/Schmalkalden-Meiningen/Hildburghausen/Sonneberg (Sonneberg? Ja: Sonneberg!) 2021 als Bundestagskandidaten aufstellte. Als solcher tingelt er im Film durch Südthüringen und nimmt an allerlei gnadenlos stumpf wirkenden Volksbeslustigungen teil und gibt sich mit seinem Null-Charisma bürgernah. Höhepunkt dieser Segmente des Films ist eine Wanderung, welche die einstige Thüringer CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht organisiert hat und zu der sich selbst Landesvater Bodo Ramelow von der Linkspartei zu kommen genötigt fühlte. Gemeinsam stapfen die Wandersleut‘ durch die Landschaft, lupfen immer wieder ein Schnäpschen und stellen in Weinharts Vorstellung wohl die Verkörperung der bundesrepublikanischen Demokratie dar: Maaßen, Ramelow, Lieberknecht und dazu noch der einstige CDU-Innenminister, Shrek Trautvetter.
Unverzeihlich
Dass Maaßen unterdessen mit seiner Werteunion selbst aus dem Rahmen der CDU rechts aus dem Bild gekippt ist, kümmert Weinhart ebensowenig wie die Gesamtsituation in Thüringen, wo mit einem Wahlsieg der AfD bei etwa 30 Prozent der Wählerstimmen und einem politischen Desaster zu rechnen ist. Thüringen – kennt Weinhart die zahllosen Stichworte, die Thüringen in Zeiten der Faschisierung umreißen, nicht: NSU, Ballstädt, Höcke, Heise, Fretterode usw. Weinhart muss so besoffen von seinem Material gewesen sein, dass er wohl dachte, er würde nun mit diesen Bildern unsterblich. Das mag man ihm vielleicht noch verzeihen, nicht aber seine sträfliche Banalisierung eines unerträglichen braunen Ist-Zustandes. Und der offensichtlich in dieser Frage schwer überforderten Jury des Dok.festes – dessen Leiter Daniel Sponsel das unsägliche Gespräch nach der Filmvorführung höchstselbst moderierte – auch nicht.