Absprachen: Die scheuen Angeklagten und ihre Verteidiger im Amtsgericht Tiergarten Foto: Gerichow
Kurz nach halb 9 Uhr öffnet sich an diesem letzten Montag im August die große Glastür zum B‑Komplex des Amtsgericht Tiergarten. Sebastian Th. und Tilo P. betreten den Flur und mustern die vor ihnen liegende Eingangstür des Gerichtssaals. Th. war viele Jahre NPD-Vorsitzender in Neukölln, P. bis 2019 im Bezirksvorstand der Neuköllner AfD. Beide sind langjährige Freunde und jetzt Hauptverdächtige im sogenannten Neukölln-Komplex. Über Jahre hinweg gab es in Neukölln Brandanschläge und Angriffe gegen Migrant*innen oder zivilgesellschaftlich Engagierte. In diesem Zusammenhang wurden die beiden dabei ertappt, wie sie Antifaschist*innen ausspähten. Obwohl die beiden von linken Initiativen schon lange als Verdächtige benannt werden, gibt es bislang keine konkreten polizeilichen Ermittlungsergebnisse. Vor Gericht sind sie dieses Mal jedoch nicht wegen der Anschläge. Stattdessen werden ihnen Sprühereien und das Verkleben von Stickern mit positivem Bezug auf den Nazi-Kriegsverbrecher Rudolf Hess vorgeworfen.
„Rin inne Kartübbeln, rut ut de Kartübbeln“: Seit über 140 Jahren steht dieser Spruch in Deutschland für einen ungeordneten militärischen Manövereinsatz. Und dieser Spruch fällt einem auch angesichts der Pressemitteilung vom 26. Juli von CasaPound in Bozen ein. Die kommunale Sektion der faschistischen Partei nämlich will im September diesen Jahres - trotz der Einstellung der Parteienaktivitäten der Gesamtpartei — an den Kommunalwahlen in Südtirol teilnehmen.
Bombendrohung: Fast erwartungsgemäß musste am ersten Prozesstag des Verfahrens gegen André M. am 21. April das Gerichtsgebäude für eine Stunde geräumt werden. Foto: Burschel
Mord, schwere Körperverletzung und das Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen — es sind schwere Verbrechen, für deren Androhung André M. sich vor Gericht verantworten muss. In mehr als hundert Drohmails an Personen des öffentlichen Lebens und Behörden soll M. seiner Wut auf die Welt Luft gemacht haben. Von dem Plan, die in den Drohbotschaften beschriebenen Verbrechen auch in die Tat umzusetzen, ist aufgrund der Sachlage auszugehen. Ausgesagt dazu hat M. bisher nicht, der Angeklagte streitet alle Vorwürfe ab.
Seit Ende April kann man im Landgericht Berlin in Moabit das Aufrollen der Ermittlungsergebnisse in der Strafsache mitverfolgen und sich selbst ein Bild machen von einer, von nationalsozialistischen Ideologien befeuerten, kranken Seele. Ende Juni gibt es zum ersten Mal auch einen privaten Einblick in das Gedankenleben von André M.: An zwei Verhandlungstagen werden zahllose verstörende Sprachnachrichten von ihm an eine Chatpartnerin abgespielt.
„Asphyx“ von Andrei Cucu. Ein Werk in der Ausstellung „AARC#1 — TORTU“, das eindrücklich versucht, die komplexen Dynamiken von Rassismus sicht- und hörbar zu machen
„Wir wollen eine Diskussion zwischen Kunst und Politik starten“, erklärt Selda Asal, die Gründerin des Apartment Projects in ihrer Eröffnungsrede zur Ausstellung „AARC#1 – TORTU“. In zwei Berliner Projekträumen werden am letzten Juni-Wochenende im Rahmen einer multimedialen Ausstellung sieben Arbeiten präsentiert, die sich die große Frage nach den Auswirkungen von Rassismus stellen – und persönliche Antworten liefern. Die beiden Projekträume — das Apartment Project in Neukölln und das Errant sound in Mitte — könnten unterschiedlicher nicht sein: Geschliffene Dielen und Stuckdecken in einem Hinterhof in Berlin-Mitte und kahler Betonboden mit Industriecharme in einer Nebenstraße der Sonnenallee in Neukölln. Doch die Betreiber*innen der beiden Räume verbindet das gemeinsame Bedürfnis, künstlerische Antworten zu finden auf ein politisches Thema. Ein Thema, das in den letzten Monaten auch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs immer mehr in Atem hält. Deshalb gründeten die Künstler*innen nach dem rassistischen Massenmord in Hanau im Februar das „Artists against Racism collaborative“ (AARC).
Neun Menschen mit (familiärer) Migrationsgeschichte fanden am 19. Februar in Hanau einen gewaltsamen Tod. Ein 43-jährige Rassist erschoss sie und verwundete zahlreiche weitere Personen — zum Teil schwer. Am 19. Februar betrat der Täter in der Hanauer Innenstadt gegen 22 Uhr zwei Lokale in der Straße „Am Heumarkt“ und erschoss drei Männer. In der Bar „La Votre“ den 33-jährigen Wirt Kaloyan Velkov, in der Shisa-Lounge „Midnight“ den 30-jährigen Inhaber Sedat Gürbüz und auf der Straße den 34-jährigen Fatih Saraçoğlu. Anschließend fuhr er in den benachbarten Stadtteil Kesselstadt. Auf dem Parkplatz vor einem Hochhaus am Kurt-Schumacher-Platz erschoss er Vili Viorel Păun.
Mit bunten Bannern macht eine Kundgebung vor dem Landgericht Berlin auf die verbrecherischen Handlungen des Rüstungskonzerns Rheinmetall aufmerksam
„Es ist bezeichnend, dass ich mich hier vor Gericht verantworten muss und die, die Profit mit dem Tod machen, nicht auf der Anklagebank sitzen“, beginnt Lukas B. seine Stellungnahme vor dem Landgericht Berlin (LG), wo er im Rahmen einer Protestaktion des anti-militaristischen Bündnisses „Rheinmetall Entwaffnen!“ aus dem Jahr 2019 angeklagt ist. Eine Stunde nach Prozessbeginn ist das Verfahren auch schon beendet und das Bündnis feiert einen Erfolg: B.s Anklage wegen Widerstands und tätlichem Angriff auf Polizeibeamte wird unter Auflagen fallengelassen.
Im imposanten historischen Justizgebäude in der Turmstraße in Moabit: Der Prozess gegen André M. gibt Einblicke in das Denken eines neonazistischen Drohbriefschreibers.
Schmächtig, in sich zusammen gesunken und mit dem Charme eines introvertierten Computernerds sitzt der Schleswig-Holsteiner André M. auf der Anklagebank und schweigt beharrlich zu den Verbrechen, die ihm vorgeworfen werden.
Für über 100 Drohmails an Behörden, Personen des öffentlichen Lebens und Politiker*innen wird der Angeklagte verantwortlich gemacht. Unter dem Namen „nationalsozialistische Offensive“ soll er Mord- und Bombendrohungen versandt haben — triefend vor nationalsozialistischem Gedankengut und inklusive brutaler Gewaltphantasien. Im April hatte die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin begonnen und wird wohl noch einige Monate andauern. Das Verfahren ist komplex, denn unübersichtlich scheinen die verschiedenen Stränge der Ermittlungsarbeiten gegen M. und kompliziert die technologischen Details für den Nachweis internetbasierter Straftaten.
Antisemitische Ideen und Äußerungen sind gerade wieder erschreckend aktuell (hier Teilnehmer*innen einer „Hygienedemos“). Die Frage des pädagogischen Umgangs damit natürlich auch. Foto: Privat
Das Feld von Antisemitismuskritik und ‑bekämpfung ist emotional und politisch hoch aufgeladen. Im politischen Diskurs sind manche Vereindeutigungen und normative Aussagen nachvollziehbar und in einzelnen Fällen sogar notwendig. Antisemitismus kann durch Bildungsmaßnahmen nicht abgeschafft werden. Was aber im Rahmen der Möglichkeiten liegt, ist Antisemitismus „zu erkennen, Empathie mit den Opfern her(zu)stellen sowie Gegenstrategien (zu) erproben.“ (S.9) Ein solches Bewusstsein über die Grenzen dessen, was Bildungsarbeit leisten kann, liegt quer zu öffentlichen und politischen Erwartungen an die Pädagogik, wenn im Anschluss an als antisemitisch wahrgenommene Vorfälle nach der pädagogischen Feuerwehr gerufen wird.
„Kinder retten“: Der Appell zum Schutz wenigstens der verletzlichsten Gruppen unter den an den EU-Außengrenzen gestrandeten Geflüchteten verhallt bisher ungehört. Foto: Uwe Hiksch
„Die Bundesregierung hat nicht den politischen Willen Menschen in Not zu helfen!“, beginnt Tareq Alaows von der Seebrücke sein Statement auf einer Online-Pressekonferenz, die die Seebrücke gemeinsam mit Pro Asyl und den Landesflüchtlingsräten vor wenigen Tagen ausgerichtet hat. Unter dem Titel „Niemand darf zurückgelassen werden“ berichteten Vertreter*innen dieser Organisationen und ein Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft in Henningsdorf (Oberhavel) über die Situation und die Perspektiven von Geflüchteten in Deutschland und an den europäischen Außengrenzen.
Die Berichte aus und über Unterkünften für Geflüchtete aus verschiedenen Teilen Deutschlands zeichnen alle ein ähnliches Bild: In vielen Sammellagern ist die Situation für die Menschen vor Ort nach wie vor katastrophal. Wir berichteten bereits Mitte April darüber: Mindestabstände können aufgrund der Enge, mangelhafter Gemeinschaftstoilletten und geteilter Wohnräume nicht eingehalten werden und führen zu rasanten Ausbreitungsketten mit dem SARS-CoV-2-Virus. Fehlende und vorenthaltene Informationen bzw. deren Übersetzung bedeuten außerdem eine enorme psychische Belastung für viele Bewohner*innen. Ihnen wird dabei regelmäßig jegliche Handlungsmöglichkeit und Entscheidungsfreiheit entzogen.