„Es gibt keine Entschuldigung dafür, die AfD zu wählen!“ So antwortete Arne Semsrott bei der Premierenpräsentation seines Buches „Machtübernahme“ in Nürnberg Anfang Juni auf die Frage eines Zuschauers, der wisse wollte, ob es nicht vielleicht mehr Verständnis für AfD-Wähler*innen bräuchte.
Vor etwa 100 Zuschauer*innen las Semsrott in der Villa Leon in Nürnberg und kokettierte auf charmante Art mit dieser Premierensituation. In dem Buch geht es darum, was passiert, wenn die AfD auf Bundesebene an der Regierung beteiligt wird. Und vor allem darum, wie die Teile der Gesellschaft, die noch an demokratischen Verhältnissen interesiert sind, sich dagegen wehren können.
Bröckelnde Brandmauer
Semsrott ist der Meinung, dass eine Regierungsbeteiligung der AfD durchaus realistisch ist und dass die „Brandmauer“ fallen kann, die bisher die bürgerlichen Parteien von einer Zusammenarbeit mit der AfD abhält. Auf regionaler und kommunaler Ebene ist diese Brandmauer vielerorts bereits weitgehend abgetragen.
Das Szenario im Buch macht außerdem deutlich, welche Möglichkeiten die AfD bereits hat, wenn sie sich im Rahmen der bereits bestehenden Gesetze bewegt, um ihre völkisch-nationalistische Ideologie durchzusetzen. Auch ohne eine Änderung des Grundgesetzes oder anderer weitreichender Rechtsstandards kann die AfD reichlich Schaden anrichten. In Ostdeutschland, wo sie in Umfragen bereits zwischen 25 und 40 Prozent rangiert, tut sie das schon. Etwa indem sie auf bestimmten Posten in Verwaltung, Medien, Polizei und Behörden nur „gesinnungstreue“ Anhänger*innen durchzusetzen versucht. Die reaktionäre Politik treffe, so Semsrott, vor allem marginalisierte Gruppen wie migrantische oder queere Menschen. Massenhafte Abschiebungen nach völkischen Kriterien – Stichwort „Remigration“ – könnten bald schon an der Tagesordnung sein. Die bürgerlichen Parteien, so möchte man Semsrott beipflichten, überschlagen sich ja derzeit in vorauseilendem Gehorsam.
Sondervermögen Demokratie
Allerdings sagt er auch: „Es ist nie zu spät!“ Selbst wenn die AfD regiert, gibt es jede Menge Formen des Widerstands. Dabei diskutiert er beispielsweise ein Sondervermögen für Demokratie, was ähnlich wie das für die Bundeswehr aufgebaut sein könnte. Semsrott propagiert, was er „solidarisches Prepping“ nennt – also die aktive Vorbereitung von Gemeinschaften auf schlechte (politische) Zeiten, in denen die Menschen im Ernstfall füreinander einstehen oder sich in Selbstverteidigung üben können. Ziel kann es dabei auch sein, sagt Semsrott, „safe spaces“ für besonders schutzbedürftige Gruppen zu schaffen.
Der Mitgründer der Informationsfreiheits-NGO „#Fragdenstaat“ tritt außerdem aktiv für ein AfD-Verbot ein und erklärt, es sei sinnvoll zu protestieren, zu stören und – zum Beispiel in Behörden durch „Dienst nach Vorschrift“ zu streiken und menschenverachtende Politik zu blockieren. Politiker*innen der Partei sollten seiner Ansicht nach auch deutlich seltener eine Bühne in Talkshows und öffentlichen Events geboten werden. Stattdessen setzt er auf investigative Recherchen zu rechten Strukturen bis hin zu Hacking-Angriffen, um brisante Informationen zugänglich zu machen.
AfD: Unbedeutende Splitterpartei?
Der 36-jährige Berliner berichtet außerdem von der Plattform „Frag den Staat“, die es Bürger*innen leichter machen soll, Anfragen an Regierung, Verwaltung und Behörden, kurz: den Staat, zu richten. So konnte sein Team beispielsweise die Herausgabe von Teilen der NSU-Akten gerichtlich erzwingen. Außerdem schuf die NGO mit dem „Freiheitsfond“ eine Möglichkeit, sozial schwächere Betroffene aus dem Gefängnis freizukaufen, wenn sie Ersatzhaft wegen Fahrens ohne Fahrkarte absitzen müssen. Auf geradezu groteske Weise entlastet diese Initiative sogar Gefängnisse und spart Steuergelder ein.
Auch das Publikumsgespräch im Anschluss geriet zu einem spannenden Meinungsaustausch. Semsrott hat eine leicht selbstironische, ruhige und bedachte Art auf sein Publikum einzugehen. Das kommt gut an und auch kritische Anmerkungen zum Gesagten oder kurze abschweifende Statements sind willkommen.
Aus einem Nebensaal hatten sich auch einige wenige „Freidenker*innen“ in die Buchvorstellung verirrt und wollten lieber über die vermeintliche Diskriminierung Russlands sprechen. Ein weiterer Mitdiskutant bezeichnete die AfD als „unbedeutende Splitterpartei“, um die mit dem Buch viel zu großes Aufhebens gemacht werde: Die Menschen hätten andere Sorgen. Semsrott wies das zurück und beschrieb einmal mehr, wie schnell die AfD noch gefährlicher und mächtiger werden könne. Die Europawahlergebnisse, bei der die AfD 15,9 Prozent erzielte, bezeichnete er als Alarmzeichen.
„Dienst nach Vorschrift“ als Streikform
Mehrere Wortmeldungen machten deutlich, dass die Angst vor einer Machtübernahme von rechts viele Menschen umtreibt und in die Lesung zog. Einige Personen fragten, was sie jetzt persönlich tun könnten. Der Autor erzählt, wie er nach den Europa-Wahlergebnissen niedergeschlagen war, dem allerdings nicht nachgeben wollte. Am selben Abend noch kontaktierte er Bekannte, die von einer Zuspitzung rechter Politik am stärksten betroffen sein würden, um zu zeigen, dass er an sie denke und für sie einstehen werde.
Einer Lehrerin im Publikum war die Sorge anzusehen, dass sie in Zukunft dazu gezwungen werden könnte, Inhalte zu unterrichten, die sie für moralisch verwerflich hält. Sie und eine weitere Beamtin fühlten sich vor allem von den Teilen von Semsrotts Vortrag angesprochen, in dem die besondere Rolle und Verantwortung von Staatsbediensteten hervorgehoben wurde. Hier sieht Semsrott einen wirkmächtigen Ansatz, Missstände in Behörden anzusprechen und ein Kippen der jeweiligen Institution nach rechts zu verhindern.
In den Kampf gegen Rechts einsteigen
Das Fazit vieler Besucher*innen war, dass das Buch eine Realität skizziert, die beunruhigend nah scheint. Gerade nach den Großdemos im Januar, bei denen teils Hunderttausende Menschen gegen Pläne der extremen Rechten für Massendeportationen auf die Straße gegangen waren, mache das Buch Mut weiterzumachen, in den Kampf gegen rechts einzusteigen und nicht nachzulassen.
Süleyman Taşköprü bat am Mittwoch, 27. Juni 2001, gegen 10.45 Uhr seinen Vater Ali, sich um den Einkauf von Waren zu kümmern. Danach muss er in seinem Gemüseladen in der Schützenstraße 39 in Altona von seinen Mördern überrascht worden sein. Sie erschossen ihn mit drei Kugeln, abgegeben aus zwei Pistolen, einer Česká 83 und einer Bruni. Als sein Vater um ungefähr 11.15 Uhr wieder zurückkehrte, fand er seinen Sohn auf dem Fußboden des Verkaufsraumes liegend mit einer blutenden Kopfverletzung vor. Wenig später konnte der Notarzt nur noch den Tod feststellen. Kurz darauf traf die Polizei ein und nahm die Ermittlungen in dem Tötungsdelikt auf. Die lokale Presse in der Stadt (BILD-Zeitung, Hamburger Morgenpost, Hamburger Abendblatt) berichteten dazu in den folgenden Tagen. Im Hamburger Abendblatt (HAB) war über einen „mysteriösen Mord am helllichten Tag“ sowie einer „Hinrichtung im Gemüseladen“ zu lesen. Aus der Sicht der polizeilichen Ermittler*innen lag das Motiv „noch völlig im Dunkeln“. Dem Abendblatt war es aber hier wichtig, dahingehend über das Motiv zu spekulieren, dass für die Tat „Schutzgelderpressung“ in Frage komme, wo „in vielen Fällen (…) die verbotene kurdische PKK dahinter“ stecke. (HAB v. 28.6.2001)
Vater Taşköprü: Deutsche Täter
Noch am Tag des Mordes vernahm die Polizei Taşköprüs Vater das erste Mal. Er habe bei seiner Rückkehr vor dem Geschäft zwei Männer gesehen, gab er zu Protokoll. Beide hätten gleich ausgesehen und seien 25 bis 30 Jahre alt gewesen. Auf die Frage: „Deutsche oder Türken?“, antwortete er: Deutsche. Ein Streit, in den sein Sohn habe verwickelt sein können, sei ihm nicht bekannt gewesen. Zwei Tage später gab es eine zweite Vernehmung. Er bekräftigte erneut, bei seiner Rückkehr zum Laden zwei männliche Personen im Bereich vor dem Laden gesehen zu haben, die sich in südliche Richtung entfernt hätten. Er beschrieb sie als etwa 1,78 Meter groß und jung, höchstens 25 Jahre alt. Ob „deutsch“ oder „ausländisch“, wusste er nicht genau zu sagen, aber er schloss aus, dass sie „südländisch“ gewesen seien. Ihre Haarfarbe sei hell gewesen. Es gab jedoch im Zusammenhang mit der Tatzeit noch weitere Zeuginnen. Eine gab dabei an, sie habe in den vergangenen etwa 14 Tagen mehrfach einen BMW beobachtet, dessen Fahrer mit Süleyman Taşköprü gesprochen habe, weder freundlich noch aggressiv. Eine genauere Beschreibung konnte sie nicht geben, es habe sich jedoch um einen „Südländer“ gehandelt, gab diese Zeugin zu Protokoll. Eine weitere Zeugin sagte aus, sie habe in ihrer Wohnung über dem Geschäft einen lauten Streit zwischen zwei Männern wahrgenommen. Auf die Frage, ob auf Deutsch oder „ausländisch“ gebrüllt worden sei, wollte sie nicht ausschließen, dass auch „türkische Worte“ gefallen seien. Eine dritte Zeugin berichtete von einem wenige Tage zurückliegenden Streit, den sie mitbekommen habe: Drei „südländisch“ aussehende Männer hätten sich im Laden aufgehalten, einer von ihnen hätte dem späteren Opfer „aufgeregt und wütend“ damit gedroht, wiederzukommen.
Zunächst konnte die Polizei natürlich noch nicht wissen, dass es sich um den dritten Mord als Teil einer Serie handelte. Am 9. September 2000 war der türkische Blumenhändler Enver Şimşek in seinem Transportwagen an einer Ausfallstraße bei Nürnberg ebenfalls mit zwei Tatwaffen erschossen worden. Elf Monate später, am 13. Juni 2001, also gerade einmal zwei Wochen vor der Ermordung Taşköprüs war — ebenfalls in Nürnberg — der türkische Staatsangehörige Abdurrahim Özüdoğru in seiner Änderungsschneiderei mit einer Pistole Marke Česká 83 ermordet worden. Das ergab die unmittelbar nach den beiden Taten vorgenommenen kriminaltechnische Untersuchung des Bundeskriminalamtes (BKA). Mit der Česká 83 war dieselbe Waffe als Tatwaffe verwendet worden. Vom Polizeipräsidium Mittelfranken (Nürnberg) war das schon fünf Tage nach der Tat in einer Pressemitteilung kommuniziert worden.[1]
Über Hamburg hinaus
Der Wissensstand der Hamburger Ermittler*innen zu der Mordsache Taşköprü sollte sich aber schnell und gravierend ändern. Als sie noch am Tattag zu dem Mord an Taşköprü ein Fernschreiben an bundesweite Dienststellen absetzten, meldeten sich schon kurz darauf die Nürnberger Kolleg*innen, die in der Mordsache Özüdoğru ermittelten. Offenbar kam ihnen der Modus Operandi der Mordtat bekannt vor. Jahre später, Ende Juni 2005 nach dem siebten Mord in der Serie, rapportierte das Hamburger Abendblatt die Aussage eines ungenannten Hamburger Ermittlers aus der Mordkommission: Sie seien noch am späten Abend des 27. Juni 2001 von Nürnberger Kolleg*innen angerufen worden. Dadurch sei ihnen klar geworden, „dass der Fall über Hamburg hinausgeht“. (HAB v. 23.6.2005) Einen Tag später informierten die Nürnberger Polizist*innen ihre Hamburger Kolleg*innen per Fax darüber, dass „die gleiche Tatwaffe“ bei der Tötung von zwei türkischen Staatsbürgern verwendet worden sei. Das war eine außerordentlich wichtige Information. Die Ermittler*innen sowohl in Hamburg wie auch in Nürnberg hätten also allen Grund dazu gehabt – umgangssprachlich formuliert – Alarm zu schlagen: Es war doch definitiv klar, dass man mit einer Mordserie in zwei großen Städten in der Bundesrepublik konfrontiert war. Und was passierte nun? Richtig: Zwecks genauer Prüfung der Tatwaffe wandten sich die Hamburger Ermittler*innen an das BKA und warteten. Wie lange? Es sollte lange zwei Monate, sprich bis zum 31. August 2001, dauern, bis das BKA die Identität der Tatwaffen im Hamburger und den beiden Morden an Şimşek und Özüdoğru feststellte. Gleich dazu die nächste Frage: Warum hat das BKA die eigentlich seit Ende Juni 2001 anstehende kriminaltechnische Untersuchung erst Ende August abgeschlossen? In München hatte sich, keine 72 Stunden zuvor, der nächste Mord, der vierte in der Serie, ereignet: Am 29. August 2001 zwischen 10.35 und 10.50 Uhr erschossen die Mörder im „Frischmarkt“ in der Bad-Schachener-Straße 14 in München den hinter dem Kassentresen stehenden 38-jährigen türkischen Gemüsehändler Habil Kılıç. Das BKA ermittelte hier binnen kürzester Frist, schon am 4. September, dass es sich um dieselbe Česká 83-Tatwaffe wie bei den drei vorangegangen Morden gehandelt hatte. Denkbar wäre auch, dass sich nach dem Mord an Kilic sowohl das BKA wie auch die Hamburger Ermittler*innen mit einem Mal an die noch offene Anfrage bezüglich der Tatwaffe von Hamburg von Ende Juni 2001 erinnert hatten.
Deutlich zu lange Frist
Ende August 2013 wurde der Abschlussbericht des ersten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestages zum NSU-Komplex veröffentlicht. In ihren gemeinsamen Bewertungen erklärten sich alle Fraktionen mit den in Bezug auf die Mordsache Taşköprü ungewöhnlich schleppend durchgeführten Ermittlungen nicht zufrieden. Eine „deutlich zu lange Frist“ ist da vermerkt. Ja, so darf man es wohl formulieren, um dann noch nachzuschieben, dass leider „nicht geklärt werden konnte, wer für die Verzögerung die Verantwortung trug“, zumal „nach dem nächsten Mord in München (…) die Feststellung der Serienzugehörigkeit weniger als eine Woche“ gedauert habe.[2]
Doch es kommt noch besser: Das Polizeipräsidium Mittelfranken veröffentlichte aus direktem Anlass der Ermordung von Kılıç am 5. September 2001 eine Pressemeldung. In Bezug auf den „Mord an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg“ wird nun in der Überschrift auf einen „Zusammenhang mit Mordfall in München“ hingewiesen: „Auf Grund des Schusswaffenvergleichs“ bei den Morden an Şimşek (9.9.200) und Özüdoğru (13.6.2001) sei „eine Identität der Tatwaffen festgestellt“ worden. Nun sei auch „der türkische Staatsangehörige Habil K. in seinem Obst- und Gemüseladen erschossen aufgefunden“ worden. In der Pressemitteilung wird von der Polizei nicht von einer Mordserie gesprochen, aber weiter wird ausgeführt: „Wie jetzt feststeht, ist auch im Münchener Fall die Tatwaffe identisch. Alle Fälle sind bisher noch nicht geklärt.“[3] Alle Fälle? Der Mord an Süleyman Taşköprü wird doch explizit nicht erwähnt. Warum wird er von der Polizei auch zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht zu „allen Fällen“ gezählt? Und das obwohl ein paar Tage zuvor vom BKA die Identität der Tatwaffe bestätigt worden war.
„Türkische Mentalität“
Nächste Frage: Wie lange dauerte es denn nun bis die Ermittler*innen dazu bereit waren, die Öffentlichkeit von dem Mord an Taşköprü als Teil derselben Mordserie zu unterrichten? Kurze Antwort: Zwei weitere Monate. Erst am 9. November 2001 setzte das Polizeipräsidium Mittelfranken die Öffentlichkeit via Pressemitteilung nun auch über einen, wie sie formulierte, „Zusammenhang jetzt auch mit Mordfall in Hamburg“ in Kenntnis. Vier Monate waren nun vergangen nachdem die Nürnberger Ermittler*innen die Hamburger Polizeikolleg*innen im Mordfall Taşköprü auf den unmittelbaren Zusammenhang mit einer Mordserie aufmerksam gemacht hatten. Immerhin findet sich in dieser Pressemitteilung erstmals der Begriff „Mordserie“. Hier hielt es die Polizei für angezeigt, darauf hinzuweisen, dass sich „nach Zeugenangaben (…) zwei Tage vor dem Verbrechen (an Taşköprü) drei Türken in dem Laden aufgehalten haben und sich mit dem späteren Mordopfer in sehr aggressiver Weise gestritten haben.“[4]
Die Polizei fertigte nach diesen Angaben ein Phantombild an. Die zu der Pressemitteilung hinzugefügte Bildveröffentlichung zeigte zwei „südländisch“ aussehende Verdächtige. Den Betrachter*innen wird so nahegelegt, es habe sich um einen Streit „unter den Türken“ gehandelt.. Ignoriert wurden die gegenläufigen Angaben in den Tatbeobachtungen des Vaters von Süleyman Taşköprü, der ja ausgeschlossen hatte, dass die beiden Täter „südländisch“ ausgesehen hätten, auch weil von ihm deren Haarfarbe als hell beschrieben worden war. Denkbar hier, dass die Polizeibeamt*innen dieser Aussage aus einem bestimmten Grund keine besondere Aufmerksamkeit schenken wollten: So formulierte diese Pressemitteilung eine in der Sache zwar falsche, gleichwohl für die weiteren polizeilichen Ermittlungen in den nächsten Jahren wirksame rassistische Erzählung: „Die Ermittlungen gestalteten sich aufgrund der türkischen Mentalität und der damit verbundenen Zurückhaltung sowie der Sprachbarriere von Anfang an sehr schwierig.“
Keine Soko für Hamburg
Auch heute noch türmen sich die weiter offenen Fragen zu den Ermittlungen der Hamburger Polizei im Mordfall Taşköprü auf. Wie mag denn gerade in den ersten Monaten nach dem 27. Juni 2001 die Zusammenarbeit zwischen den Hamburger und den Nürnberger Strafverfolgungsbehörden ausgesehen haben, die der Öffentlichkeit in der Pressemitteilung vom 9.11.2001 als „eng“ vorgestellt worden war? Wie eng konnte sie gewesen sein, wenn schon im Nürnberger Fernschreiben vom 28. Juni 2001 darauf hingewiesen wurde, dass zwei Tötungsdelikte an türkischen Staatsbürgern in Nürnberg mit der gleichen Tatwaffe verübt worden seien? Und warum wurde in Hamburg nicht wie in Nürnberg Mitte September 2001 eine Soko gebildet, als allmählich klar wurde, dass es sich um eine Mordserie handelte? Fragen über Fragen.
Die Hamburger Sicherheitsbehörden haben den parlamentarischen Untersuchungshausschüssen zum NSU bislang allein Kriminaloberrat Felix Schwarz als Zeugen zur Verfügung gestellt. Und der trat seinen Dienst in der diesbezüglichen Mordkommission erst ab dem 1. Februar des Jahres 2006 an. Insofern konnte er bei seinen Befragungen im Berliner und Mecklenburger Untersuchungsausschuss für die Zeit der polizeilichen Ermittlungen in Hamburg in der Mordsache Taşköprü in den Jahren 2001 ‑2003 vieles allenfalls vom Hörensagen kolportieren.
Grüne Schritte
Mitte April 2023 wurde der Antrag der Partei Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft auf die Einsetzung einen NSU-Untersuchungsausschusses abgelehnt. Bei Annahme hätte dieses Gremium in weniger als sechs Monaten seine Arbeit aufnehmen können. Von der Fraktion der Grünen war der Antrag der Linken trotz eines gegenläufigen Parteitagsbeschlusses nicht unterstützt worden. Gemeinsam mit der SPD nahm sie in der Bürgerschaft den Antrag an, nunmehr die „Aufarbeitung des NSU-Komplexes im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie“ durchzuführen.[5] Das sei doch „ein großer Schritt in Richtung umfassenderer Aufklärung“, gaben sich die Grünen in einer Pressemitteilung damals überzeugt. Mehr noch: Die Grünen bezeichneten es als ganz „entscheidend (…), dass die Aufklärungsarbeit nun endlich und intensiv vorangetrieben wird.“ Eben dies „sollte der Fokus der Debatte sein und bleiben.“[6] Wie wurde nun die Aufklärungsarbeit „intensiv vorangetrieben?“ Die Fortschritte sind schleppend: Nach jüngster Auskunft der Pressestelle der Hamburger Bürgerschaft gibt es inzwischen bei der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft einen Beirat, der zunächst nur damit beauftragt ist, ein Vergabeverfahren bis zum Ende das Jahres 2024 abzuschließen, „so dass mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung zum Jahresbeginn 2025 begonnen werden kann. Ein Büro für den Beirat ist nicht eingerichtet, er tagt in den Sitzungsräumen der Bürgerschaft.“ (Mail an den Verfasser vom 18.6.2024)
Somit darf zunächst einmal trocken festgestellt werden: Der von den Grünen Mitte April 2023 vor mehr als einem Jahr versprochene „große Schritt“ in Sachen „umfassender“ NSU-Aufklärung in Hamburg ist bislang unterblieben. Für die seit April 2023 als Alternative zu einem Untersuchungsausschuss angestrebte „wissenschaftliche Studie“ existiert auch am 23. Todestag von Süleyman Taşköprü noch nicht einmal eine Ausschreibung.
Fußnoten:
[1] Polizeipräsidium Mittelfranken POL-MFR: (1123) Mordfall Özüdoğru — hier: Zusammenhang mit Mordfall Şimşek, PM vom 18.6.2001, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/257963
[4] Polizeipräsidium Mittelfranken POL-MFR: 2073. Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg und München hier: Aktueller Ermittlungsstand: 9.11.2001 mit Bildveröffentlichungen Zusammenhang jetzt auch mit Mordfall in Hamburg, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/298764
Sie wollten den Staat stürzen und bauten einen militärischen Arm für einen gewaltsamen Sturm auf den Bundestag auf: So lässt sich die Anklage der Bundesanwaltschaft (BAW) gegen die acht in München vor dem Oberlandesgericht (OLG) angeklagten Mitglieder der Reichsbürgergruppe um Prinz Heinrich XIII Reuß zusammenfassen.
Hochverrat und Staatsgefährdung
In Frankfurt und Stuttgart wird schon seit einigen Wochen der Prozess gegen 18 weitere Mitglieder dieser Gruppe – in Frankfurt Prinz Reuß auch persönlich – eröffnet. Unter den Angeklagten große Teile der politischen Führungsriege der Verschwörer*innen und des militärischen Arms, den so genannten Heimatschutzkompanien (HSK). Neben hochverräterischen Absichten und der Vorbereitung staatsgefährdender schwerer Straftaten wird ihnen die Gründung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen.
Als nun in München die 8 Angeklagten vorgeführt wurden, hielt sich allerdings das öffentliche und mediale Interesse in Grenzen – verglichen zumal mit dem Promi-Verfahren in Frankfurt, wo Reuß selbst, aber auch die einstige AfD-Bundestagsabgeordnete und Ex-Richterin Malsack-Winkemann und die beiden ehemaligen hohen Bundeswehr-Offiziere von Pescatore und Eder vor Gericht stehen.
Der erwartete Andrang wie zu Zeiten des NSU-Prozesses blieb in München aus. Dieser hatte damals im selben Gerichtssaal A 101 stattgefunden und zumindest einige der Gesichter unter den Journalist*innen und Verteidiger*innen von damals waren wieder dabei.
Die Besucher*innen wurden nicht nur durch ein großes Polizeiaufgebot im Saal, inklusive Absperrungen und gründlicher Durchsuchungen eingeschüchtert. Sie mussten außerdem sämtliche Taschen, technischen Geräte und Trinkflaschen abgeben. Auch die kahlen Betonwände des großen Saales wirkten durchaus erdrückend.
Croissants und Handyverbot
„Ich werde selbstverständlich jeden Tag Croissants mitbringen“ scherzte der Pressesprecher des Oberlandesgerichts, Laurent Lafleur, zwei Wochen vor Prozessbeginn gegenüber den Journalist*innen bei einer Führung durch den Gerichtssaal. Trotz dieser bemühten Freundlichkeiten blieben die Auflagen des Gerichts für Pressevertreter*innen dennoch hart: Sie mussten am Zugang zum Pressebereich einem Justizbeamten vorweisen, dass ihre Handys ausgeschaltet waren, und konnten ihre Laptops nur ohne Internetverbindung nutzen.
Der gesamte Vormittag war nach den Eröffnungsformalia der mehrstündigen Verlesung der Anklageschrift gewidmet. Die Sitzungsvertreter*innen des Generalbundesanwaltes im Verfahren fächerten darin die Planungen der Gruppe in den Jahren 20 – 22 auf: Die Angeklagten in München seien demnach unter anderem auch für Ämter in der Putschist*innen-Regierung vorgesehen und in Waffengeschäfte verwickelt gewesen. Außerdem werde einigen von ihnen vorgeworfen, für den Aufbau der insgesamt über 280 geplanten HSK-Truppen, die Rekrutierung und Vernetzung mit Unterstützer*innen, sowie die Gewährleistung einer abhörsicheren Kommunikation etwa über Satellitentelefone zuständig gewesen zu sein.
Außerdem schilderte die Bundesanwaltschaft im Detail das Weltbild der Reichsbürger*innen: So würden die Anhänger*innen an die krude Verschwörungserzählung Q‑Anon glauben, die im Kern besagt, dass „die Eliten“ Kinder in unterirdischen Tunnelsystemen gefangen hielten, um sie zu misshandeln und aus ihrem Blut Verjüngungsserum zu gewinnen.
Eine der Angeklagten habe sich in der Schweiz auch mehrmals mit den Eltern eines vermeintlich in diese Unterwelt entführten Kindes getroffen.
Irre Narrative und realer Terrorismus
Außerdem habe die Gruppe für ihr Vorhaben immer wieder Kontakt und Unterstützung bei offiziellen Vertreter*innen der russischen Föderation etwa im Generalkonsulat in Frankfurt und in Bratislava gesucht.
Vor allem die ablehnende Haltung zu Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 hätte die Gruppe radikalisiert und geeint. Die in München angeklagte und als Gesundheitsministerin der Putschist*innen vorgesehene Ärztin, Melanie R., habe laut Anklage beispielsweise immer wieder Vorträge zu den Auswirkungen von Impfungen mit dem während der Pandemie neu entwickelten MRNA-Serum gehalten.
Prozessbeobachter*innen diskutierten in der Mittagspause, ob die Umsturzpläne wohl ohne die Pandemie zustande gekommen wären. Außerdem stellten sie sich die Frage, ob die „Gruppe Reuß“ nur ein Beispiel für das Umkippen ganzer Bevölkerungsgruppen in verschwörungsideologisches Denken darstelle. Immerhin seien sie nicht die einzigen, die im Laufe der Zeit aufgeflogen und jetzt peu-á-peu angeklagt würden. Neben den „Reuß-Prozessen“ laufen derzeit auch Prozesse gegen die „Kaiserreichgruppe“/„Patriotische Vereinigung, die vorhatte, Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu entführen, sowie gegen den „Reichsbürger-Star“ Johannes M..
Der verlesene Anklagesatz im Reuß-Verfahren verdeutlicht durchaus die Absurdität der Gesinnung der Angeklagten. Jenseits der zum Teil irrwitzigen Verschwörungserzählungen konnte die Bundesanwaltschaft vor allem durch die Aufzählung der von der Gruppe gehorteten Waffen samt Munition, Waffenteilen und weiterer Militärausstattung den Ernst der Absichten der Gruppe veranschaulichen. Unter anderem habe die Gruppe, der auch hochrangige KSK-Offiziere angehörten, versucht, Soldat*innen des Kommandos Spezialkräfte (KSK) zu rekrutierten, um die „Heimatschutzkompanien“ aufzubauen.
Antisemitisch, rassistisch und faschistisch
Dennoch mag manchen in der Anklage eine Einordnung der völkisch-nationalistischen und in Teilen faschistischen Ideologie der angeklagten Reichsbürger*innen gefehlt haben. Nur nebenbei erwähnt die BAW die rassistischen Ansichten zur Migrationspolitik – eine Einstufung der Verschwörungserzählungen rund um Q‑Anon als antisemitisch blieb gänzlich aus.
Diese Aussparungen könnten auf einige vor allem deshalb fatal wirken, da sie einen großen Teil der Gefahr verkennen, die von der „Gruppe Reuß“ ausging. Wäre es zu dem, mit Hilfe der AfD-Abgeordneten geplanten Angriff auf den Bundestag und einer Machtübernahme gekommen, lässt sich ahnen, wie die neuen Machthaber*innen mit migrantischen und geflüchteten Personen verfahren wären. Der Begriff der „Re-Migration“ und die Pläne für Massendeportationen von Millionen sind ja derzeit in aller Munde.
Obwohl sich zwischenzeitlich fast doppelt so viele Justiz- und Polizeibeamt*innen wie Zuschauer*innen auf den Tribünen aufhielten, konnten dort auch einige vermutliche Unterstützer*innen der Angeklagten ausgemacht werden. Ein protestierender Schreihals, warf noch vor Verlesung des Anklagesatzes der Bundesanwaltschaft vor „die Falschen anzuklagen“ und spielte damit vermutlich auf die Verschwörung rund um Q‑Anon an. Er wurde allerdings sehr schnell abgeführt. Etwas moderater verhielten sich zwei Frauen, die mit ausgebreiteten Armen von unterschiedlichen Seiten der Zuschauer*innentribüne offenbar Energie in den Gerichtssaal zu schicken versuchten — bis ihre Hände nach einigen Stunden müde wurden. Ob ihre Aura das Gericht und die Vorsitzende Richterin Dagmar Illini milde stimmen wird, muss sich noch zeigen.
Sterndeuterin im Dienste der AfD-Abgeordneten
An diesem Phänomen wurde aber auch deutlich, wie wichtig den Reichsbürger*innen um Reuß diese Art der Spiritualität ist: So war eine der Münchner Angeklagten, Hildegard L., als astrologische Mitarbeiterin der in Frankfurt mitangeklagten AfD-MdB Malsack-Winkemann angestellt.
Außerdem war sie spirituelle Beraterin von Reuß und seiner politischen Führungsriege.
Ein Ende nicht abzusehen
Ein 36-seitiges, längliches Opening–Statement des ehemaligen Verteidigers der NSU-Terroristin Beate Zschäpe, Wolfgang Heer, und jede Menge angekündigter Anträge verschiedener weiterer Verteidiger*innen gaben bereits am ersten Tag einen Vorgeschmack darauf, wie sich der Prozess bis zum geplanten Ende im Januar 2025 oder darüber hinaus in die Länge ziehen könnte. Es bleibt spannend, wie die Dreiteilung des Prozesses sich auf das Verfahren auswirken wird und welche Strategien die Angeklagten und ihre Verteidiger*innen anwenden werden. Vor allem das Spannungsfeld zwischen Verschwörungserzählungen und rechtem Terror könnte das Verfahren prägen. Wie die Richter*innen dieses beurteilen werden, sowie der Ausgang des Prozesses bleiben zunächst offen.
„Democrazy“ heißt ein Schwerpunkt auf dem diesjährigen Münchener Dokumentarfilmfestival Dok.fest und widmet sich den „auseinanderstrebenden Kräften innerhalb europäischer Demokratien“, wie es im Programmheft heißt. Mit „crazy“ ist noch mild umschrieben, mit welchem politisch und ästhetisch aus der Zeit gefallenen Streifen Deutschland in dieser Reihe vertreten ist. Mit „Fragmente aus der Provinz“ vom Dokumentarfilmer Martin Weinhart lief auf dem Dok.fest ein Film, der die bevorstehenden Dammbrüche der Faschisierung in Ostdeutschland in fahrlässiger Weise verharmlost und ohne Kenntnis der wahren Situation vor Ort zur Normalisierung beiträgt.
Tommy Frenck im Fokus
Um was geht es: der Film spielt in Südthüringen, wo seit Jahrzehnten der Neonazi Tommy Frenck der weitgehend hilflosen (Zivil-)Gesellschaft auf der Nase herumtanzt. Und Frenck ist das Thema, das der Film geradezu mikroskopisch in den Fokus nimmt. Zur Erinnerung: der aus Schleusingen stammende Mittdreißiger ist weit über die Grenzen Thüringens hinaus für sein Agieren als Faschist bekannt und mischt spätestens als Wirt der Gaststätte „Goldener Löwe“ in Kloster Veßra den strukturschwachen Landstrich auf. Er betreibt diese Gaststätte, wo das Führerschnitzel am 20. April immer 8.88 Euro kostet, die Versandhandel druck18 bzw. 88 für Nazi-Outfit, Naziliteratur und Nazidevotionalien, organisiert in der Nachbarschaft die größten Rechtsrock-Konzerte im ganzen Land mit über 6000 teilnehmenden Hardcore-Nazis – auf dem Privatgrund des AfD-Politikers Bodo Dressel — und lotet die wachsweichen Genzen der heimischen Demokratie auf kommunaler und Landesebene aus – entweder in seiner Jugend für die NPD, dann deren Nachfolge-Partei „Die Heimat“ und die Wählergemeinschaft Bündnis Zukunft Hildburghausen. Als Landratskandidat erhielt er 2018 17 Prozent der Stimmen, 2022 30 Prozent als Bürgermeisterkandidat in Kloster Veßra.
Nazi-Versteher-Filme
Die Frage ist nun, warum Martin Weinhart es für richtig hält, mit seiner Kamera diesem Menschen wirklich auf die Pelle zu rücken und Löcher in den Bauch zu fragen – und ihn so hoffähig zu machen, zu normalisieren und zu verharmlosen. So, wie Weinhart sich auch beim Publikumsgespräch im Anschluss an die Filmvorführung in der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in München gab, scheint er zu glauben, einen ganz großen Coup gelandet zu haben und der Welt wirklich mal ungeschminkt einen Neonazi vorzuführen. Dass sein Agieren sträflich geschichtslos ist, offenbart ein Blick in die 1990-er Jahre, wo die Nazi-Versteher-Filme „Stau – jetzt geht‘s los“ (1992), „Beruf Neonazi“ (1993) (übrigens über den Münchener Neonazi Ewald Althans), „Führer Ex“ und viele weitere mit ihren distanzlos intimen Nahaufnahmen von Nazis heftig hinterfragt und in langen Diskussionen letztlich doch verworfen wurden. Wenn der Münchener Filmemacher Weinhart dann auch noch resümiert, mit Frenck könne man gut reden und der wolle doch auch nur irgendwie dazu gehören, dröhnt einem der Ärzte-Song vom „stummen Schrei nach Liebe“ in den Ohren. Weinreich bietet Frenck in gefühlt einem Fünftel des Films ausführlich und kaum hinterfragt Gelegenheit, seine sattsam bekannte, unverhohlen menschenverachtende, rassistische und in Tradition des historischen Nationalsozialismus stehende Ideologie auszubreiten. Es wird auch wahrlich unangenehm körperlich, wenn Frenck seine Nazi-Tattoos erläutern, Bank drücken und alle nur erdenklichen Nazi-T-Shirts wie auf einer Modenschau präsentieren darf. Die Kamera fährt durch die Küche von Frencks Gasthaus, beobachtet die Zubereitung von Essen in der vollgestellten, ekligen Küche und führt Postangestellte beim Abtransport von massenweise Versandstücken vor. Fassungslos fragt man sich, wer das im Jahre 2024 noch braucht, um den Schuss zu hören. Zumal Frenck routiniert die Inszenierung seiner Person durch den allenfalls harmlos nachfragenden Filmemacher nutzt, um ungefiltert und freundlich lächelnd seine haarsträubende Ideologie – natürlich inklusive N‑Wort – in die Kamera zu sprechen. Sicher kann sich Weinhart auch nicht an Michel Friedmanns Interview mit dem fanatischen Holocaust-Leugner Horst Mahler 2010 erinnert, wo Friedmann dachte, weiß Gott wie er den verbohrten Nazi da vorgeführt habe: Tatsache bleibt, dass Mahler damals entspannt die Gelegenheit nutzte, seine Leugnung der Shoah einmal mehr zu wiederholen.
Mit Maaßen on the road
Aber nicht genug damit: der Film hat einen weiteren Protagonisten, nämlich Hans-Georg Maaßen, den einstigen Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, den eine rechtsoffene CDU im Wahlkreis Wahlkreis Suhl/Schmalkalden-Meiningen/Hildburghausen/Sonneberg (Sonneberg? Ja: Sonneberg!) 2021 als Bundestagskandidaten aufstellte. Als solcher tingelt er im Film durch Südthüringen und nimmt an allerlei gnadenlos stumpf wirkenden Volksbeslustigungen teil und gibt sich mit seinem Null-Charisma bürgernah. Höhepunkt dieser Segmente des Films ist eine Wanderung, welche die einstige Thüringer CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht organisiert hat und zu der sich selbst Landesvater Bodo Ramelow von der Linkspartei zu kommen genötigt fühlte. Gemeinsam stapfen die Wandersleut‘ durch die Landschaft, lupfen immer wieder ein Schnäpschen und stellen in Weinharts Vorstellung wohl die Verkörperung der bundesrepublikanischen Demokratie dar: Maaßen, Ramelow, Lieberknecht und dazu noch der einstige CDU-Innenminister, Shrek Trautvetter.
Unverzeihlich
Dass Maaßen unterdessen mit seiner Werteunion selbst aus dem Rahmen der CDU rechts aus dem Bild gekippt ist, kümmert Weinhart ebensowenig wie die Gesamtsituation in Thüringen, wo mit einem Wahlsieg der AfD bei etwa 30 Prozent der Wählerstimmen und einem politischen Desaster zu rechnen ist. Thüringen – kennt Weinhart die zahllosen Stichworte, die Thüringen in Zeiten der Faschisierung umreißen, nicht: NSU, Ballstädt, Höcke, Heise, Fretterode usw. Weinhart muss so besoffen von seinem Material gewesen sein, dass er wohl dachte, er würde nun mit diesen Bildern unsterblich. Das mag man ihm vielleicht noch verzeihen, nicht aber seine sträfliche Banalisierung eines unerträglichen braunen Ist-Zustandes. Und der offensichtlich in dieser Frage schwer überforderten Jury des Dok.festes – dessen Leiter Daniel Sponsel das unsägliche Gespräch nach der Filmvorführung höchstselbst moderierte – auch nicht.
„In Gedenken an Mehmet Turgut, der hier am 25. Februar 2004 dem menschenverachtenden, rechtsextremistischen Terror einer bundesweiten Mordserie zum Opfer fiel.“ Gedenkplatte der Stadt Rostock, eröffnet am 25.2.2014
Vor zwanzig Jahren
Am 25. Februar 2004 wurde Mehmet Turgut in Rostock-Toitenwinkel in einem Dönerimbiss erschossen.Der oder die Täter*innen hatten den Stand kurz nach der Öffnung zwischen 10.10 Uhr und 10.20 Uhr durch die Seitentüre betreten, Turgut wahrscheinlich gezwungen sich auf den Boden zu legen und ihn hingerichtet. Der eigentliche Betreiber des Standes, Haydar A., hatte sich an diesem Morgen verspätet und fand seinen Mitarbeiter gegen 10.20 Uhr — noch lebend — im Imbissstand. Wiederbelebungsversuche scheiterten und die Kriminalpolizei in Rostock richtete eine erweiterte Mordkommission ein, die die Ermittlungen aufnahm. In den Tagen nach dem Mord informierten die Norddeutschen Neuesten Nachrichten (NNN) sowie die Rostocker-Zeitung die Öffentlichkeit: Die Rostocker-Zeitung veröffentlichte die Vermutung einer Bewohnerin, dass „soziale Konflikte im Stadtteil“ für die Gewalttat verantwortlich seien. (26.2.2004) Die NNN berichteten am Tag nach dem Mord, dass keine Einzelheiten zum Tathergang oder Motiv bekannt seien. (26.2.2004) Als Todesursache wurden jedoch Messerstiche oder Schläge vermutet. (Bild-Zeitung v. 26.2.2004 / Ostseezeitung v. 26.2.2004) Die Ausgabe der Bild-Zeitung Rostock schrieb drei Tage nach dem Mord davon, dass in Rostock-Toitenwinkel der „sympathische Typ (…) unweit der Post erstochen“ worden sei. (28.2.2004)
Wahrscheinlich war den Ermittler*innen selbst nicht sofort klar, dass das Opfer erschossen worden war, da die Täter ihn zuerst gezwungen hatten sich hinzulegen, bevor sie ihn hinrichteten, so Rechtsanwalt Hardy Langer in seinem Plädoyer im NSU-Prozess vor dem OLG München im Dezember 2017, in dem er die Familie Turgut als Nebenkläger*innen vertrat. Drei Tage nach dem Mord veröffentlichte die lokale Presse ein Foto von Mehmet Turgut. (NNN v. 28.2.2004) Die Kripo Rostock suchte nach Hinweisen zur Identität des Opfers. Anscheinend war diese noch nicht geklärt. Eine Woche nach dem Mord wurde bestätigt, dass eine Obduktion durchgeführt worden war und tatsächlich ein Verbrechen vorlag. Der Zeitungstext erwähnte, dass „Einzelheiten dazu“ nicht mitgeteilt würden, aber nicht warum. (NNN v. 4.3.2004) Denkbar hier, dass die Formulierung darauf hindeutete, dass die Beamt*innen die Information zurückhielten, dass drei Projektile des Kalibers 7,65 mm und eine Patronenhülse gefunden worden waren. Ob sie bereits zu diesem Zeitpunkt ahnten, dass es sich um eine Fortsetzung der Česká-Serie handelte, ist nicht belegt.
Kein „ausländerfeindlicher Hintergrund“
Am 4. März 2004 schlug der Ermittlungsleiter in Rostock, Bernd Scharen, bei einer Besprechung, bei der es um die Weitergabe von Informationen an die türkische Presse ging, folgende Formulierung vor: „Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden.“ (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern zum NSU (PUAMV), S. 569)1 Eben diese wurde dann vom Pressesprecher der Kriminalpolizeidirektion Rostock, Volker Werner, aufgegriffen, als dieser nach einem Gespräch eine Pressemitteilung (PM) in Form einer E‑Mail an Asgar Adeh, einen Korrespondenten der türkischen Zeitung Hürriyet, übersandte, mit der Bitte folgenden Text zu veröffentlichen: „Die Rostocker Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe bei der Aufklärung einer Straftat. In den Vormittagsstunden des 25. 02.2004 töteten unbekannte Täter in Rostock (…) in einem Döner-Imbiss den abgebildeten türkischen Staatsbürger TURGUT. Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden. Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen reiste TURGUT seit 1994 mehrfach illegal nach Deutschland ein und war hier mit Unterbrechungen in verschiedenen Orten aufhältig.“ (PMKPI Rostock v. 9.3.2004) Die Feststellung, dass „ein ausländerfeindlicher Hintergrund (…) derzeit ausgeschlossen werden“ könne, musste zu einem noch so frühen Zeitpunkt der Ermittlungen mehr als verblüffen. Als der Einsatzleiter Scharen Ende Oktober 2013 in seiner Vernehmung vor dem OLG München darauf angesprochen wurde, berief er sich auf mündliche Besprechungen mit der Staatsanwaltschaft, dem LKA, dem Staatsschutz und – interessanterweise — dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV).2 Aus dieser Aussage geht hervor, dass diese Stellen unmittelbar in die Mordermittlungen miteinbezogen waren. Doch auch sie hatten nach zwei Wochen keine Erkenntnisse, die erlaubten, einen rassistischen Hintergrund in der Weise auszuschließen, wie es in der zitierten Pressemitteilung der Polizei Rostock geschehen war.
Anschlagserie auf Asia- und Dönerbuden
Das spielte sich alles vor dem Hintergrund einer sich zeitgleich ereignenden nazistischen Anschlagsserie gegen die Asia- und Döner-Imbisse im Nachbarbundesland Brandenburg. Für die Zeit zwischen 2000 bis zum Februar 2004 wurden hier um die 50 Anschläge registriert.3 In fast allen Fällen, in denen Täter ermittelt werden konnten, handelte es sich um Angehörige der einschlägigen Naziszene. Exemplarisch hier die Gruppierung „Freikorps Havelland“, die in der Zeit zwischen August 2003 bis Mai 2004 wenigstens 10 Brandanschläge verübte, bevor die Polizei diese Gruppe fassen konnte. Im August 2004 – mitten in der Ermittlungen im Mordfall Turgut — wurde gegen die Gruppe durch den Brandenburger Generalstaatsanwalt, Erardo Rautenberg, unter dem Verdacht der Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt.4 Ende November 2004 wurde dann unter diesem Vorwurf Anklage erhoben.5 Kurz vor Weihnachten berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift: „Anschläge auf Imbissbuden / Zwölf Neonazis in Brandenburg vor Gericht.“ (SZ v. 21.12.2004) Hier drängte sich der Zusammenhang zu Rostock förmlich auf, denn auch Mehmet Turgut war ja in einer Imbissbude ermordet worden. Doch für das Jahr 2004 ist für die in der Mordsache Turgut ermittelnden Sicherheitsbehörden nicht ein einziger Beleg auffindbar, in der die rassistische Anschlagwelle auf Imbissbuden im benachbarten Brandenburg in irgendeiner Weise rezipiert wurden. Überhaupt gab es bis zur Selbstenttarnung des NSU Anfang November 2011 in Bezug auf die Ermittlungen im Mordfall Turgut für die Polizei in Rostock nicht ein einziges Mal einen Grund, ein rassistisches Tatmotiv auch nur in Betracht zu ziehen. Exemplarisch dafür steht die Botschaft des Direktors des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpommern (LKA), Ingmar Weitemeier, in einem Presseartikel in der Schweriner Volkszeitung Mitte März 2007. Basierend auch auf seinen Aussagen hieß es hier unmissverständlich, zwar bereite den Ermittler*innen „vor allem das Motiv des Serienkillers“ immer noch Kopfzerbrechen. Allein: „Einen rechtsextremen und ausländerfeindlichen Hintergrund schließt die Polizei längst aus. Aus den Taten könne kein politisches Kapital geschlagen werden.“ (PUAMV S. 577) Diese Polizeiarbeit wurde in der Abschlussdiskussion zum Bericht des PUA Mitte Juni 2021 von dem Abgeordneten Peter Ritter dahingehend bilanziert, dass man „durch intensives Aktenstudium“ habe feststellen müssen, dass „den Betroffenen, dem Umfeld Mehmet Turguts, (…) nicht zugehört“ worden sei. Ritter weiter: „Ihnen wurde nicht geglaubt. In mindestens zehn Vernehmungen wurden die Beamten auf einen rassistischen Tathintergrund hingewiesen, das können wir aus den Akten nachvollziehen. Doch es passierte nichts. An keiner Stelle wurde nachgehakt. Stattdessen schloss ein leitender Ermittler eine Woche nach der Tat ein ausländerfeindliches Motiv öffentlich aus. Zudem wurden rassistische Vorfälle im Umfeld des Imbissstandes aus dem Jahr 1998 in den Ermittlungsarbeiten ignoriert.“6 (Siehe auch die Darstellung in: PUAMV S. 581⁄82)
Der Mord von Rostock als Teil der Česká-Morde
Zwei Wochen nach dem Mord an Mehmet Turgut in Rostock, am 11. März, bestätigte das Bundeskriminalamt (BKA), dass die gleiche Česká verwendet worden war, wie bei den anderen vier Morden. Die Polizei wusste nun, dass die Mordserie fortgesetzt worden war. Der jüngste Mord davor war der an Habil Kılıç am 29. August 2001 in München. Etwas über ein Jahr später, Anfang Oktober 2002, hatte das Polizeipräsidium Mittelfranken (Nürnberg) die mit einer Česká-Pistole verübten „Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg, Hamburg und München“ erstmals als Serie publik gemacht. Hier stand die Mitteilung zu lesen, dass „aufgrund des zentralen Schusswaffenvergleichs beim Bundeskriminalamt Wiesbaden mit den am Tatort aufgefundenen Projektilen (…) zweifelsfrei fest[stehe], dass sowohl bei den Morden in Nürnberg sowie auch in München und Hamburg die gleiche Tatwaffe, eine Pistole vom Kal[iber] 7.65, verwendet worden ist.“ Kurz: Das war damals von den Ermittlern an die Presse weitergegeben worden. Genau das aber wurde in Rostock unterlassen. Evident hier: Von Seiten der Polizei, hier die beim Polizeipräsidium Mittelfranken angesiedelte „Soko Halbmond“, liefen die Ermittlungen zu dieser Serie seit jener letzten Presseerklärung von Anfang Oktober 2002 nur noch auf Sparflamme.7 Diese Situation wird an einer erhellenden Aussage des seit dem ersten Tötungsdelikt an Enver Şimşek ermittelnden Polizeibeamten Albert Vögeler aus Nürnberg vor dem Landtag in Mecklenburg-Vorpommern deutlich: „Zu diesem Zeitpunkt war ich alleine mit der ganzen Serie beschäftigt beziehungsweise habe das mehr verwaltet. Große Ermittlungen kann man mit einem Mann nicht machen. Und deswegen war der Wunsch ans BKA, dass sie jetzt übernehmen sollten.“ (PUAMV, S. 229)
Klarer als Vögeler das zum Ausdruck brachte – ich war „alleine mit der ganzen Serie beschäftigt“– kann man die am Boden liegende Polizeiarbeit zu der im Februar 2004 fortgesetzten Mordserie nicht bilanzieren.
Nun waren die Mörder 30 Monate später zurückgekehrt und schlugen 670 Kilometer Luftlinie von München entfernt erneut zu, und setzten so die Mordserie fort.
Was passierte nun?
Der Erste Polizeihauptkommissar (EHK), Ermittlungsleiter Scharen, erinnerte sich 15 Jahre später in seiner Aussage vor dem NSU-PUAMV daran, dass die Tatsache, dass es sich bei der Ermordung von Mehmet Turgut um eine Tat im Rahmen einer Mordserie gehandelt habe, seitens der Kriminalpolizei als ein „entscheidende[r] Wendepunkt“ im Ermittlungsverfahren angesehen worden sei, denn vorher habe man es als ein „normales Tötungsdelikt“ angesehen. „Bis dahin hätten sie gedacht, es sei eine Einzeltat, ab dann sei bekannt gewesen, es handle sich um eine bundesweite Tötungsserie, das LKA habe angerufen. Kurze Zeit später habe er einen Anruf des ehemaligen Leiters der Soko Halbmond, (Albert) Vögeler, bekommen. Die Soko Halbmond sei ja zu dem Zeitpunkt schon eingestellt gewesen, Vögeler habe die Möglichkeit gesehen, die Ermittlungen weiterzuführen.“8Die in der Sache ermittelnde Staatsanwältin Kerstin Grimm wurde einen Tag später, am 12. März 2004 durch einen Anruf von EHK Scharen darüber informiert, dass die Tatwaffe identifiziert worden sei, und „diese Česká 83 bereits in vier weiteren Mordfällen in den Jahren von 2000 bis 2001 im gesamten Bundesgebiet verwandt worden“ sei. (PUAMV, S. 108) Als sie davon erfahren habe, dass der Mord an Turgut Teil einer bundesweiten Mordserie sei, „sei sie aus allen Wolken gefallen. Sie habe sich sofort mit Herrn Sch(aren) getroffen und das weitere Vorgehen abgestimmt. Dann sollte die ‚Soko Halbmond‘ ihre Arbeit wieder aufnehmen. (…) Am 17.03.2004 seien die Ermittler K. und Vögeler aus Bayern nach Rostock gekommen.“
Doch eben das, was sich für die Ermittler*innen in Rostock in ihrer Erinnerung als ein „entscheidender Wendepunkt“ darstellte, ein Hinweis bei dem die Staatsanwältin „aus allen Wolken“ gefallen sein will, wurde in der Folge nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben. Staatsanwältin Grimm erinnerte sich in ihrer Aussage dann noch daran, dass man besprochen habe, „dass es sinnvoll sei, wenn die Mordserie in die Hand einer einzigen Staatsanwaltschaft gelegt würde. Es sei an Bayern gedacht worden, es habe viele Indikationen für Organisierte Kriminalität gegeben, das ginge nicht dezentral. Das sei aber abgelehnt worden.“ Als Begründung habe man ausgeführt, „dass es keinen Sachzusammenhang gäbe, das könne man sehr wohl regional machen“, habe es geheißen, wobei sie „die Ablehnung der Übernahme durch die Staatsanwaltschaft Fürth (die zu diesem Zeitpunkt in den vorangegangen vier Mordfällen Şimşek, Özüdoğru, Taşköprü und Kılıç ermittelte) sehr verwundert“ habe.10
Langer Rede kurzer Sinn: Es sollte bis zum sechsten Mord an İsmail Yaşar am 9. Juni 2005 in Nürnberg dauern, bis die bundesweite Öffentlichkeit vom Mord an Mehmet Turgut als Teil der Mordserie erfuhr. Nachdem die Nürnberger Nachrichten über den Mord an Yaşar zunächst als fünftem der Serie berichtet hatten, informierte die Polizei die Öffentlichkeit in einer Pressemitteilung über den, wie es hieß, „Tatzusammenhang mit weiteren Tötungsdelikten.“ Darin stand zu lesen: „Seit kurzem muss auch der Mord an Yunus TURGUT (25) am Vormittag des 25.02.2004 in Rostock zu dieser Serie gezählt werden. T. war Verkäufer in einem Dönerstand. Auch hier besteht Übereinstimmung hinsichtlich der verwendeten Waffe.“11
Richtig gelesen: Durch die Mitte Juni 2005 wahrheitswidrig in Anschlag gebrachte Formulierung „seit kurzem muss auch der Mord an Yunus TURGUT“ hat sich der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelfranken einfach eines rhetorischen Tricks bedient: Es ist absurd einen zeitlichen Abstand von 16. Monaten in die Formulierung „… vor kurzem“ zusammen zu kürzen. Hier geht es darum, zu kaschieren, dass eben dieser Mord als Teil einer seit dem September 2000 in der Bundesrepublik anhaltenden Mordserie war, der von der Polizei gegenüber der Öffentlichkeit für 16 Monate unterschlagen worden war.
Von dem „Netzwerk von Kameraden“, als der sich der NSU selbst bezeichnete, wurde das nicht vergessen. Als das Mitglied des Kerntrios des NSU, Beate Zschäpe, nach der Selbstenttarnung und Selbstmord der beiden anderen Mörder Anfang November 2011 das sogenannte „Paulchen-Panther“-Bekennervideo verbreitete, wurden bis auf Mehmet Turgut zu allen Mordopfern Fotos und auf den jeweiligen Mordanschlag bezogene faksimilierte Presseartikel dokumentiert. Doch eben dieser Mord tauchte in der Presse für 16 Monate gar nicht und auch danach niemals prominent als Teil der Serie auf. Nebenklageanwalt Hardy Langer führte hier aus, wie sich die Mörder dann behalfen: „Auffällig anders – im Vergleich zu den übrigen Česká-Mordtaten – ist das Fehlen jeglicher Ausschnitte aus Zeitungen zu diesem Ereignis. Weder wurden solche in der Frühlingsstraße 26 (in Zwickau) gefunden, noch sind solche im sog. Bekennervideo verarbeitet. (…). Die dort im Video in der Schlußfassung (….) unter der sog. ‚Deutschlandtour‘ zum fünften Mord neben dem Foto von Mehmet Turgut eingestellte Zeitungsüberschrift ‚Rätsel um Morde‘ entstammt – offenbar in Ermangelung einer ‚passenden‘ Berichterstattung zum Rostocker Mord – einem Artikel der ‚Nürnberger Nachrichten‘ vom 10.11.2001 zu den ersten vier Mordopfern (… Der Untertitel: ‚Bereits vier Bluttaten bekannt‘ ist im sog. Bekennervideo derart abgedeckt, daß nur das Wort ‚Bluttaten‘ sichtbar ist.).“
Kein Thema im Bundeskanzleramt?
Mit dem Ende Februar 2004 in Rostock verübten fünften Mord der Česká-Serie forderte eine Bande die Institutionen des Sicherheitsapparats heraus. Schwer vorstellbar, dass hier bei den Verantwortlichen nicht alle Warnlampen angegangen sein sollen: „Das musste auffallen“, mutmaßte der in den Jahren 1973 bis 1982 als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt tätige Sozialdemokrat Albrecht Müller kurz nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011. Basierend auf seinen Arbeitserfahrungen in der werktäglichen Lagebesprechung zur inneren Sicherheit im Land, wies Müller drauf hin, dass es „nicht vorstellbar“ sei, dass der Kreis der zehn bis 15 Teilnehmer*innen der Lagebesprechung, zu denen u.a. der Chef des Bundeskanzleramts und der Regierungssprecher gehören, „nicht spätestens nach der Ermordung des fünften Türken mit der gleichen Pistole hätte wissen wollen, was da vorgeht. Das musste auffallen.“12
Was aber nun wirklich die Gründe dafür sind, dass die Sicherheitsbehörden nicht spätestens ab Mitte März 2004 angefangen haben, zu der anhaltenden Mordserie in aller Öffentlichkeit Alarm zu schlagen – sprich: die Öffentlichkeit mit umfassenden Informationen über den Stand der Dinge, etwa die Übernahme der Ermittlungen durch das BKA und den Generalbundesanwalt, zu versorgen – ist bis heute unbekannt. Weder in den PUAs im Bundestag ( NSU-PUA I 2014) noch in Schwerin (PUAMV 2021), auch nicht in dem zwischen 2013 – 2018 vor dem OLG in München durchgeführten Strafverfahren wurden die betreffenden Zeug*innen aus dem Sicherheitsapparat danach gefragt.
Erinnern an den Tod von Mehmet Turgut
Die Stadt Rostock hat am 25. Februar 2014 unter anderem im Beisein der Brüder des Ermordeten, Mustafa und Yunus Turgut, des Oberbürgermeisters Roland Methling, des Botschafters der Republik Türkei in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu, sowie der Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Prof. Barbara John, am Neudierkower Weg eine Gedenkplatte für Mehmet Turgut eingeweiht, der, so die Inschrift, „einer bundesweiten Mordserie zum Opfer fiel“13 Der explizite Hinweis auf die Mordserie steht bislang einzig in den Mahnmalen für die Opfer des NSU quer durch die ganze Bundesrepublik. Doch ausgerechnet hier ist das aus der oben dargelegten Beschreibung unpräzise vermerkt: Denn gegenüber der Öffentlichkeit existierte für die Polizei in der Zeit zwischen dem 11. März 2004 bis zum 10. Juni 2005 die Ermordung von Mehmet Tugut gar nicht als Teil einer Mordserie. Und das obwohl sie es besser wusste. Auch an diese verdeckte Polizeipraxis soll bei dem nunmehr anstehenden 20. Jahrestag der Ermordung von Mehmet Turgut erinnert werden.
1LT Mecklenburg-Vorpommern, Beschlussempfehlung und Zwischenbericht des 2. PUA zur Aufklärung der NSU-Aktivitäten in Mecklenburg-Vorpommern, Drs 7⁄6211 vom 2.6.2021URL: https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Parlamentsdokumente/Drucksachen/7_Wahlperiode/D07-6000/Drs07-6211.pdf
4AM, Neonazis unter Terrorverdacht / Der Brandenburger Generalstaatsanwalt ermittelt gegen eine Jugendgruppe, die von Ausländern betriebene Imbisse angezündet hat. Der Verdacht: Bildung einer terroristischen Vereinigung, in: taz vom 20.8.2004, S. 1 URL: https://taz.de/Neonazis-unter-Terrorverdacht/!710032/
5 Daniel Schulz, Rechter Terror mit Schriftführer und Kassierer / Westlich von Berlin wollte eine Gruppe Jugendlicher durch regelmäßige Brandanschläge sämtliche Ausländer aus ihrer Stadt vertreiben. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung erhoben, in: taz vom 25.11.2004, URL: https://taz.de/Rechter-Terror-mit-Schriftfuehrer-und-Kassierer/!669766/
6 Plenarprotokoll Landtag MV7⁄124 v. 9.6.2021, S. 106, URL: https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Parlamentsdokumente/Plenarprotokolle/7_Wahlperiode/PlPr07-0124.pdf
7POL-MFR: (1872) Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg, Hamburg und München hier: Aktueller Ermittlungsstand 08.10.2002 mit Bildveröffentlichungen, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/387608
11POL-MFR (847), Dönerstandbesitzer am 09.06.2005 in Nürnberg erschossen hier: Tatzusammenhang mit weiteren Tötungsdelikten und Fahndungsaufruf. Pressestelle vom 10.6.2005. URL: https://www.presseportal.de/ blaulicht/pm/6013/689016; zu dieser Zeit galt als Vorname es Ermordeten noch der Vorname seines Bruders Yunus
12 Albrecht Müller, Ich glaube nichts von dem, was uns die politisch Verantwortlichen über die Bekämpfung des Rechtsterrorismus erzählen, auf: nachdenkseiten.de vom 22.11.2011, URL: http://www.nachdenkseiten.de/?p=11383
13 Stadt Rostock, Tafeln am Gedenkort für Mehmet Turgut mit Inschriften in deutscher und türkischer Sprache, PM vom 21.2.2014, URL: https://rathaus.rostock.de/de/tafeln_am_gedenkort_f_uuml_r_mehmet_turgut_mit_inschriften_in_deutscher_und_t_uuml_rkischer_sprache/283156