Erinnern heißt kämpfen“: Die Zukunft des Strafjustizzentrums in München

Das früh­mor­gend­lich erleuch­te­te Straf­jus­tiz­zen­trum am 9. Dezem­ber 2015, dem Tag, als die NSU-Ter­ro­ris­tin erst­mals aus­sa­gen woll­te — der „Gla­mour“ der Haupt­an­ge­klag­ten trieb viel Publi­kum in den Saal A101 (Foto: Burschel)

Das Mün­che­ner Straf­jus­tiz­zen­trum ist weit mehr als ein funk­tio­na­ler Ort für juris­ti­sche Abläu­fe. Der­zeit steht es im Mit­tel­punkt einer Debat­te über sei­ne Zukunft: Soll­te es abge­ris­sen oder einer neu­en Nut­zung zuge­führt wer­den? Noch ist das Gebäu­de in Betrieb, aber sei­ne sym­bo­li­sche und his­to­ri­sche Bedeu­tung wirft die Fra­ge auf, ob und wie man die­sen Ort bewah­ren soll­te, wenn die Gerich­te wie geplant umziehen.

Es ist ein Ort, der in der Geschich­te der deut­schen Jus­tiz und ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit rech­tem Ter­ror und neo­na­zis­ti­schen Netz­wer­ken eine sym­bo­li­sche und tief­grei­fen­de Bedeu­tung erlangt hat. Über Jahr­zehn­te hin­weg war es Schau­platz bedeu­ten­der Ver­fah­ren, die nicht nur juris­tisch, son­dern auch poli­tisch und gesell­schaft­lich von größ­ter Rele­vanz waren. Dazu zäh­len unter ande­rem der Pro­zess, der die ras­sis­tisch moti­vier­te Mord­se­rie des „Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds“ (NSU) ver­han­del­te, sowie der gegen den Waf­fen­lie­fe­ran­ten des Atten­tä­ters vom Olym­pia-Ein­kaufs­zen­trum (OEZ), der im Juli 2016 neun Men­schen eben­falls aus ras­sis­ti­schen Moti­ven dort ermor­det hat.

In einer Zeit, in der rech­te Gewalt und rech­ter Ter­ror immer wie­der und immer mehr auf erschre­cken­de Wei­se in Deutsch­land zuta­ge tre­ten, rückt die Dis­kus­si­on um das Straf­jus­tiz­zen­trum in ein neu­es Licht. Im Rah­men einer Podi­ums­dis­kus­si­on, orga­ni­siert von der Initia­ti­ve „Jus­tiz­zen­trum­Er­hal­ten / Abbre­chen­Ab­bre­chen“, gin­gen die Podi­ums­gäs­te der Fra­ge nach, ob das Jus­tiz­zen­trum als Ort des Geden­kens an die hier ver­han­del­ten Gewalt­ver­bre­chen erhal­ten blei­ben soll­te, um Raum zu bie­ten für eine gesell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser Geschich­te, die­sen Geschichten.

Auf dem Panel saßen Gise­la Koll­mann, die ihren Enkel Giu­lia­no Koll­mann bei dem rech­ten Anschlag im OEZ ver­lor, Patryc­ja Kowals­ka, eine Unter­stüt­ze­rin der Initia­ti­ve „Mün­chen OEZ Erin­nern“, Fried­rich Bur­schel von der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung & NSU Watch sowie der Jour­na­list Robert Andre­asch, der für die Anti­fa­schis­ti­sche Informations‑, Doku­men­ta­ti­ons- und Archiv­stel­le Mün­chen arbei­tet. Sie alle ver­bin­det das Anlie­gen, dass die Opfer rech­ter Gewalt nicht ver­ges­sen wer­den und dass der Staat end­lich Ver­ant­wor­tung über­nimmt – sowohl für die lücken­lo­se Auf­klä­rung sol­cher Taten als auch für die Aner­ken­nung des rech­ten Ter­rors als sys­te­mi­sches Problem.

Der OEZ-Anschlag und die Kämp­fe der Angehörigen

Im Jahr 2016 ereig­ne­te sich der rechts­ter­ro­ris­ti­scher Anschlag im Mün­che­ner Olym­pia-Ein­kaufs­zen­trum. Neun Men­schen, über­wie­gend mit fami­liä­rer Migra­ti­ons­ge­schich­te, fie­len dem Anschlag zum Opfer, dar­un­ter auch Giu­lia­no Koll­mann, der damals 19-jäh­ri­ge Enkel von Gise­la Koll­mann. Der Täter, mit tief ver­wur­zel­ten ras­sis­ti­schen und völ­kisch-natio­na­len Über­zeu­gun­gen, plan­te die Tat sys­te­ma­tisch und fand dabei Unter­stüt­zung von einem Waf­fen­händ­ler, der ihn mit der Mord­waf­fe sowie „aus­rei­chend“ Muni­ti­on ver­sorg­te. Trotz offen­sicht­li­cher Hin­wei­se auf die rech­te Moti­va­ti­on, ver­har­mos­te man die Hin­ter­grün­de des Anschlags lan­ge. Die Behör­den spra­chen von einem „Amok­lauf“, nicht von rech­tem Terror.

Gise­la Koll­mann berich­tet in der Dis­kus­si­on von den Erfah­run­gen, die sie wäh­rend des Pro­zes­ses gegen den Waf­fen­händ­ler im Straf­jus­tiz­zen­trum in der Nym­phen­bur­ger­stra­ße mach­te. „Ich woll­te nur, dass er mir ein­mal in die Augen sieht, aber er konn­te es nicht“, erzählt sie. Koll­manns Erleb­nis­se im Gerichts­saal sind sym­pto­ma­tisch für die Art und Wei­se, wie staat­li­che Insti­tu­tio­nen mit den Betrof­fe­nen umge­hen: Ohne Empa­thie, ohne wirk­li­ches Ver­ständ­nis für den Schmerz und das Trau­ma, das sol­che Taten hin­ter­las­sen.  Flos­keln wie „Sie müs­sen kei­ne Angst haben, dass er ihre ande­ren Kin­der tötet“ hät­ten die­se Miß­ach­tung sehr deut­lich gemacht, sagt Gise­la Koll­mann. Die Hin­ter­blie­ben wer­den durch den Pro­zess wei­ter trau­ma­ti­siert – dies­mal durch den Staat, der sie hät­te schüt­zen und unter­stüt­zen sollen.

Die­se Erfah­run­gen sind kei­ne Ein­zel­fäl­le. Die Initia­ti­ve „Mün­chen OEZ Erin­nern“, der auch ande­re Ange­hö­ri­ge und Über­le­ben­de des Anschlags ange­hö­ren, kämpft seit Jah­ren dafür, dass der Anschlag als das aner­kannt wird, was er war: ein rechts­ter­ro­ris­ti­scher Angriff. Patryc­ja Kowals­ka, die die Initia­ti­ve unter­stützt, betont, dass die­ser Kampf nicht nur ein per­sön­li­cher ist. Es geht um das poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Bewusst­sein, dass rech­ter Ter­ror ein sys­te­ma­ti­scher Angriff auf das Leben und die Wür­de von Men­schen ist – moti­viert  durch grup­pen­be­zo­ge­nen Hass und getra­gen von rech­ter Ideologie.

Par­al­le­len zum NSU-Prozess

Auch im gigan­ti­schen, 438 Tage dau­ern­den NSU-Ver­fah­ren dort wur­den die Ange­hö­ri­gen der Opfer oft igno­riert und ihre Inter­es­sen aktiv miss­ach­tet. Der NSU, eine neo­na­zis­ti­sche Ter­ror­zel­le, war für die Mor­de an zehn Men­schen, über­wie­gend Migran­ten, ver­ant­wort­lich. Doch ähn­lich wie im OEZ-Fall wur­de auch hier lan­ge an einem Nar­ra­tiv fest­ge­hal­ten, das die Ver­ant­wor­tung des Staa­tes und die Rol­le eines hin­ter dem Kern-Trio ste­hen­den, umfang­rei­chen rech­ten Netz­werks klein­re­de­te. Die jah­re­lan­gen Ermitt­lun­gen und der anschlie­ßen­de Gerichts­pro­zess zeig­ten, wie tief struk­tu­rel­le Igno­ranz und insti­tu­tio­nel­les Ras­sis­mus ver­an­kert sind, wenn es um die Auf­klä­rung und Ver­fol­gung rech­ten Ter­rors geht.

Der NSU-Pro­zess offen­bar­te zudem, dass der NSU kei­nes­wegs iso­liert agier­te. Ein brei­tes Netz­werk von Unter­stüt­zern half der Ter­ror­grup­pe, sich jah­re­lang dem Zugriff der Behör­den zu ent­zie­hen. Beob­ach­ter des Pro­zes­ses beto­nen, dass weit über 100 Per­so­nen in die­ses Netz­werk invol­viert waren, vie­le von ihnen als akti­ve Mit­tä­ter oder Unter­stüt­zer. Trotz die­ser kla­ren Bewei­se wur­de im Pro­zess ver­sucht, die Ver­ant­wor­tung des Staa­tes und der Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den her­un­ter­zu­spie­len, die den NSU über zahl­rei­che Informant*innen in unmit­tel­ba­rer Nähe der Täter*innen und über das Geld für deren Diens­te erst über­haupt mit auf­ge­baut und unter Beob­ach­tung gehabt hät­ten, aber dann eben nicht gestoppt hätten.

Auch im NSU-Pro­zess war der Gerichts­saal geprägt von einer bedrü­cken­den Hier­ar­chie. Die 93 Nebenkläger*innen, die Fami­li­en der Opfer, die im Ver­fah­ren von mehr als 60 Rechtsanwält*innen ver­tre­ten wur­den, saßen im Saal A101 unter der Tri­bü­ne, auf der die Pres­se und die Öffent­lich­keit über ihnen thron­ten. Die­se räum­li­che Anord­nung spie­gel­te die rea­le Mar­gi­na­li­sie­rung der Opfer und ihrer Ange­hö­ri­gen wider, die um Gehör und Aner­ken­nung kämpf­ten, wäh­rend die staat­li­chen Insti­tu­tio­nen ver­such­ten die eige­nen Ver­säum­nis­se zu verdecken.

Die Bedeu­tung der Räu­me des Justizzentrums

Ange­sichts die­ser Geschich­te wird die his­to­ri­sche Bedeu­tung der Räu­me des Jus­tiz­zen­trums beson­ders deut­lich. Die­se Wän­de haben Zeu­gen­be­rich­te von Men­schen gehört, deren Fami­li­en durch rech­ten Ter­ror zer­stört wur­den. Sie haben die Bemü­hun­gen gese­hen, den Staat zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen, und zugleich das Schei­tern staat­li­cher Insti­tu­tio­nen, sich der vol­len Wahr­heit über die­se Ver­bre­chen zu stel­len. Die Pro­zes­se, die hier statt­fan­den, sind Zeug­nis­se eines fort­wäh­ren­den Kamp­fes – nicht nur gegen die Täter, son­dern auch gegen eine Gesell­schaft, die all­zu oft wegschaut.

Das Jus­tiz­zen­trum könn­te, wenn es mit einem Ort des Geden­kens — etwa im A101 — erhal­ten blie­be, all die­se Geschich­ten bewah­ren. Es wäre ein Mahn­mal, das nicht nur an die Opfer erin­ner­te, son­dern auch dar­an, wie insti­tu­tio­nel­les Ver­sa­gen rech­ten Ter­ror ermög­licht und begüns­tigt hat.

Reichsbürger“-Prozesse und die Kon­ti­nui­tät rech­ten Terrors

Nicht nur ver­gan­ge­ne Pro­zes­se sind hier von Bedeu­tung: In den glei­chen Hal­len fin­den heu­te die „Reichsbürger“-Prozesse statt.

Die „Reichs­bür­ger“, eine Bewe­gung, die die Legi­ti­mi­tät der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ablehnt und sich oft durch rech­te, anti­se­mi­ti­sche und ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sche Über­zeu­gun­gen aus­zeich­net, ste­hen der­zeit im Zen­trum zahl­rei­cher Gerichts­ver­fah­ren. Die­se Pro­zes­se, die eben­falls im Jus­tiz­zen­trum geführt wer­den, knüp­fen direkt an die Tra­di­ti­on der Aus­ein­an­der­set­zung mit rech­tem Ter­ror an. Wie schon bei den NSU-Mor­den und dem OEZ-Anschlag zeigt sich auch hier, dass rech­te Ideo­lo­gien nicht iso­liert, son­dern in Netz­wer­ken agie­ren – unter­stützt wer­den die Akteur*innen von Gleich­ge­sinn­ten, teils mit weit­rei­chen­den Ver­bin­dun­gen in gesell­schaft­li­che und staat­li­che Strukturen.

Die­se Kon­ti­nui­tät rech­ter Gewalt und ihre bedroh­li­che Prä­senz in der Gegen­wart ver­deut­li­chen, wie not­wen­dig eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der Geschich­te des Jus­tiz­zen­trums ist. Der Abriss die­ses sym­bol­träch­ti­gen Ortes wäre ein Ver­lust, der weit über das rein Archi­tek­to­ni­sche hinausgeht.

OEZ-Anschlag: An ihre Namen und ihre Leben erinnern

Der Ber­li­ner Rap­per Apsi­lon gab einen Soli-Gig im Rah­men des „Mün­chen erinnern!“-Gedenkens auf der klei­nen Büh­ne im Mün­che­ner „Import-Export“

We will shi­ne for the­se nine“ — So lau­tet das Mot­to des Bünd­nis­ses „Mün­chen erin­nern!“ zum dies­jäh­ri­gen Geden­ken an das rechts­ter­ro­ris­ti­sche Atten­tat im Olym­pia Ein­kaufs­zen­trum (OEZ) vor genau acht Jah­ren, am 22. Juli 2016. Acht Jugend­li­che und eine Erwach­se­ne, ihre Namen ste­hen im Zen­trum des Erin­nerns: Arme­la, Can, Dija­mant, Gui­lia­no, Hüsey­in, Rober­to, Sabi­ne, Sel­çuk und Sev­da, ver­lo­ren ihr Leben bei dem Anschlag im Juli 2016 im OEZ. Erst vie­le Jah­re und etli­che Gut­ach­ten spä­ter war es offi­zi­ell: Es war kein „Amok­lauf“, wie die Medi­en die Tat all die Jah­re fram­ten, son­dern ein rechts­ter­ro­ris­ti­scher Anschlag. Seit­dem kämp­fen Ange­hö­ri­ge dar­um gehört zu werden.

Apsilon zollt Respekt

Am Wochen­en­de gedach­ten etli­che Hun­dert Men­schen der Ermor­de­ten bereits bei einem Kon­zert, einem Podi­um und einer Lesung. Vie­le Bei­trä­ge auf den Büh­nen beton­ten, dass Ras­sis­mus ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Pro­blem sei. Der Ber­li­ner Rap­per Apsi­lon zeig­te sich berührt davon, zum Geden­ken ein­ge­la­den wor­den zu sein, und erzähl­te auf der klei­nen Musik­büh­ne und in sei­nen Song­tex­ten von Ras­sis­mus-Erfah­run­gen seit sei­ner Kindheit.

Dring­li­cher Tenor der Ver­an­stal­tung war es, dass sich eben auch und vor allem Nicht-Betrof­fe­ne von Ras­sis­mus soli­da­risch ver­hal­ten soll­ten. Es sei auch ihre Auf­ga­be, auf die Gefahr ras­sis­ti­scher Ideo­lo­gie und Gewalt hin­zu­wei­sen und die Opfer nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten zu lassen.

Geden­ken nach 8 Jah­ren am Tat­ort selbst, dem Olym­pia Ein­kaufs­zen­trum (OEZ) in Mün­chen, am 22.7.24

Am eigent­li­chen Gedenk­tag, dem Mon­tag, 22. Juli, ver­sam­mel­ten sich abends Ange­hö­ri­ge der Opfer, vie­le Unterstützer*innen und Trau­ern­de am Ort des Anschlags vor dem OEZ. Es waren Lie­der zu hören, die die Getö­te­ten ger­ne gehört haben oder sol­che, mit denen Freund*innen und die Fami­li­en an sie erinnerten.
Geden­ken nach 8 Jah­ren am Tat­ort selbst, dem Olym­pia Ein­kaufs­zen­trum (OEZ) in Mün­chen, am 22.7.24/caption]

Schmerz des Vermissens

Ober­bür­ger­meis­ter Die­ter Rei­ter ver­wies dar­auf, dass Mün­chen die Stadt mit den meis­ten rechts­ter­ro­ris­ti­schen Anschlä­gen in Nach­kriegs­deutsch­land sei. Auch er beton­te die Wich­tig­keit, auf die Wün­sche der Ange­hö­ri­gen ein­zu­ge­hen und sprach von Mün­chen als „bun­ter und demo­kra­ti­scher Stadt“.

Nach dem Stadt­ober­haupt spra­chen die Ange­hö­ri­ge der Getö­te­ten: Dabei erzähl­ten sie nicht nur von dem Leben ihrer ver­lo­re­nen Kin­der und Geschwis­ter und der ermor­de­ten Mut­ter und Ehe­frau, son­dern vom Gefühl des Ver­mis­sens. Eine der Ange­hö­ri­gen for­der­te zudem mehr Auf­klä­rung über das Vor­ge­hen der Poli­zei und Behör­den zum Tat­zeit­punkt. Sie äußer­te deut­li­che Kri­tik am Umgang mit dem Anschlag und sei­ner Ein­stu­fung als Amok­lauf durch den baye­ri­schen Innen­mi­nis­ter Joa­chim Herr­mann. Eine wei­te­re Ange­hö­ri­ge äußer­te ihre tie­fe Sor­ge über die zuneh­men­de Macht der völ­kisch-natio­na­lis­ti­schen Par­tei AfD.

Zum Zeit­punkt des Atten­tats ver­sam­mel­ten sich Freund*innen und Fami­li­en an dem für die Ver­stor­be­nen errich­te­ten Denk­mal und lie­ßen Luft­bal­lons auf­stei­gen. In einer Schwei­ge­mi­nu­te gedach­ten alle Anwe­sen­den der getö­te­ten Menschen.

Der Täter mag allei­ne geschos­sen haben – den­noch steht der Anschlag in Mün­chen nicht ver­ein­zelt im Raum, son­dern ist nur ein Bei­spiel für ras­sis­ti­sche Mor­de in Deutsch­land. Das Atten­tat in Hanau, der anti­se­mi­ti­sche Anschlag auf die Syn­ago­ge in Hal­le, die Ermor­dung des Kas­se­ler Regie­rungs­prä­si­den­ten Walt­her Lüb­cke, aber auch der jüngs­te Brand­an­schlag auf eine Fami­lie in Solin­gen, zahl­rei­che bren­nen­de Unter­künf­te für Geflüch­te­te oder der von der Poli­zei getö­te­te Mou­ha­med Lami­ne Dra­mé sind nur eini­ge Bei­spie­le, bei denen Men­schen auf­grund einer ras­sis­tisch-natio­na­lis­ti­schen Ideo­lo­gie der Täter ihr Leben verloren.

Netzwerk der Betroffenen

Die­se schreck­li­chen Taten zu ver­knüp­fen und zusam­men zu sehen, ist für die Ange­hö­ri­gen wich­tig. Die Ver­wand­ten und Freund*innen der Opfer ras­sis­ti­scher Mor­de in ver­schie­de­nen Städ­ten Deutsch­lands sind inzwi­schen gut ver­netzt und besu­chen sich gegen­sei­tig bei Gedenk­ver­an­stal­tun­gen, war wäh­rend der Gedenk­ver­an­stal­tung zu hören. Die Ange­hö­ri­gen aus Mün­chen ver­si­cher­ten, dass ihnen das Gefühl, mit ihrer Trau­er und Wut nicht allei­ne zu sein, Kraft gebe.

Tell their stories

Unter den Anwe­sen­den wur­de das Heft­chen „Tell their Sto­ries“ ver­teilt. In dem berüh­ren­den Book­let ver­öf­fent­li­chen Ange­hö­ri­ge etli­cher der Ermor­de­ten Bil­der, Gedich­te, Erin­ne­run­gen und Geschich­ten aus dem Leben der Opfer. Die Bot­schaft auch hier: Nicht nur die Namen der Getö­te­ten dür­fen nie­mals in Ver­ges­sen­heit gera­ten – auch ihre Geschich­ten müs­sen gehört werden!

Mölln, NSU, Halle, Hanau

Rechtsterror, Kontinuität und deutsche (Nicht-) Erinnerung

Rech­te Gewalt hat eine lan­ge Geschich­te in Deutsch­land. Nicht zuletzt haben die Anschlä­ge von Hanau und Hal­le und der Mord an Wal­ter Lüb­cke die Kon­ti­nui­tät rech­ter Gewalt erneut schmerz­lich sicht­bar gemacht. Eben­so besteht jedoch auch eine lan­ge Geschich­te der Nicht-Erin­ne­rung rech­ter Taten, des Nicht-Zuhö­rens, wenn es um die Geschich­ten Betrof­fe­ner geht und der Nicht-Auf­klä­rung von Anschlä­gen. Eine umfas­sen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit struk­tu­rel­lem Ras­sis­mus und sei­nen poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Impli­ka­tio­nen ist wei­ter­hin aus­ste­hend, glei­cher­ma­ßen die Rol­le von Poli­tik und Behör­den. Ras­sis­mus und rech­te Gewalt wer­den auch heu­te noch weit­ge­hend aus der all­ge­mei­nen deut­schen Geschichts­schrei­bung aus­ge­klam­mert, eben­falls die Aus­wir­kun­gen die­ser Taten auf Betrof­fe­ne rech­ter Gewalt. Doch wie kann eine Erin­ne­rungs­po­li­tik aus­se­hen, die die­se Geschich­ten erzählt, sie doku­men­tiert und dadurch sicht­bar macht?

Zahl­rei­che Ange­hö­ri­ge und Initia­ti­ven leis­ten seit Jahr­zehn­ten uner­müd­li­che Arbeit, damit die Geschich­ten Betrof­fe­ner gehört und Teil des deut­schen Erin­ne­rungs­nar­ra­tivs wer­den. Sie for­dern, wie die Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau es immer wie­der betont «Erin­ne­rung, Gerech­tig­keit, Auf­klä­rung und Kon­se­quen­zen.»[2] Der fol­gen­de Bei­trag setzt sich mit der Kon­ti­nui­tät rech­ter Gewalt und der Nicht-Erin­ne­rung im offi­zi­el­len Nar­ra­tiv aus­ein­an­der, weist aber auch auf die Arbeit der­je­ni­gen hin, die ver­su­chen die­se Geschichts­schrei­bung zu verändern.

Den voll­stän­di­gen Arti­kel fin­det ihr auf der Web­site der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung.

Er erscheint außer­dem als Teil des Sam­mel­ban­des: Erin­ne­rungs­kämp­fe. Neue deut­sche Identität(en), neu­es deut­sches Geschichts­be­wusst­sein, Her­aus­ge­ge­ben von Jür­gen Zim­me­rer
Das Buch erscheint am 5. Sep­tem­ber 2023 im Reclam Verlag.

Bericht eines russischen Genossen: „Wie ich Antifa wurde“

Van­ja „Kno­chen­bre­cher“ Chu­t­or­skij und allen getö­te­ten Antifaschist*innen gewidmet

Im Jahr 2020 wur­de das Wort „Anti­fa“ zu einem hei­ßen The­ma. Im Som­mer ver­sprach US-Prä­si­dent Donald Trump, die Anti­fa zu ver­bie­ten, die er beschul­dig­te, Unru­hen im Land zu orga­ni­sie­ren. Die inter­na­tio­na­len Medi­en beeil­ten sich, den in Ver­ges­sen­heit gera­te­nen Begriff zu erklä­ren. Im Herbst erin­ner­te man sich in Russ­land an die Antifaschist*innen. Am 1. Sep­tem­ber ver­starb Alek­sej „Sokra­tes“ Sutu­ga in Mos­kau nach einem Kampf. Am 16. Novem­ber jähr­te sich die Ermor­dung von Van­ja Kno­chen­bre­cher zum elf­ten Mal. Ich habe nie über ihn geschrie­ben, obwohl wir der­sel­ben Gang angehörten.

Mit die­sem Text möch­te ich unse­ren getö­te­ten Genoss*innen Tri­but zol­len und ihr Andenken ehren. Es ist an der Zeit, die Gespens­ter der Ver­gan­gen­heit wie­der auf­er­ste­hen zu las­sen. Es ist an der Zeit, sich an die Anti­fa zu erin­nern. Con­ti­nue rea­ding „Bericht eines rus­si­schen Genos­sen: „Wie ich Anti­fa wurde““

Oury Jalloh — Das war Mord!

«Wir fordern nicht, wir klären selbst auf.»

State­ment der Initia­ti­ve in Geden­ken an Oury Jal­loh über die Not­wen­dig­keit unab­hän­gi­ger Aufklärungsarbeit

Mit die­sem Text möch­ten wir erklä­ren, war­um wir staat­li­chen Behör­den nicht ver­trau­en kön­nen und war­um kon­ti­nu­ier­li­che, selbst­or­ga­ni­sier­te Auf­klä­rungs­ar­beit nicht nur sinn­voll, son­dern abso­lut not­wen­dig ist. Unse­re Hal­tung resul­tiert aus unse­ren jah­re­lan­gen Erfah­run­gen mit der Poli­zei, diver­sen Staats­an­walt­schaf­ten und Gerich­ten aber auch mit Sach­ver­stän­di­gen und ande­ren Expert*innen, die den Mord an Oury Jal­loh mit allen Mit­teln ver­tu­schen und ver­schlei­ern woll­ten. Unse­re Auf­ga­be sehen wir unter ande­rem dar­in, durch Gedenk- und Auf­klä­rungs­ar­beit Ourys Wür­de wie­der­her­zu­stel­len, indem wir die staat­li­che Deu­tungs­ho­heit durch­bre­chen und die wah­ren Täter ent­lar­ven. Zum einen hat Ourys Fami­lie ein Recht auf die Wahr­heit. Zum ande­ren steht die­ser Fall stell­ver­tre­tend für den juris­ti­schen Umgang mit Poli­zei­ge­walt, wel­cher dar­auf aus­ge­rich­tet ist, die Täter*innen in Poli­zei­uni­form zu schüt­zen und die Opfer zu kri­mi­na­li­sie­ren. Con­ti­nue rea­ding „Oury Jal­loh — Das war Mord!“