Vielfalt und Homogenität – Aspekte und Inkonsistenzen des Ethnopluralismusdiskurses

Mit der euro­pa­wei­ten Akti­on Defend Euro­pe woll­te die Iden­ti­tä­re Bewe­gung 2017 die NGOs, wel­che im Mit­tel­meer­raum Men­schen­le­ben ret­ten, dif­fa­mie­ren und deren Arbeit als „Schlep­per­ak­ti­vi­tä­ten“[1] dar­stel­len. Sie­ben Jah­re spä­ter mie­tet sie im Rah­men der aktu­el­len Kam­pa­gne No Way – Do Not Come To Euro­pe Wer­be­flä­chen in afri­ka­ni­schen Län­dern. Die Iden­ti­tä­re Bewe­gung meint, dadurch die loka­le Bevöl­ke­rung auf­klä­ren (oder auch ermah­nen) zu kön­nen, dass sich die gefähr­li­che Rei­se nach Euro­pa nicht lohnt.[2] Den Vor­wurf des Ras­sis­mus weist die Iden­ti­tä­re Bewe­gung zurück: „Wir ste­hen ande­ren Kul­tu­ren und Völ­kern nicht ableh­nend gegen­über. Wir ver­ste­hen die Welt als plu­ra­les Gebil­de viel­fäl­ti­ger kul­tu­rel­ler Ent­wür­fe und Lebens­aus­drü­cke mit einer kon­kre­ten ört­li­chen Bestimmt­heit und geschicht­li­chen Ent­wick­lung“[3].

Die­ser und ähn­li­chen Erklä­run­gen der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung liegt eine bestimm­te Welt­an­schau­ung zu Grun­de. Expli­zit bezieht sie sich an ande­rer Stel­le posi­tiv auf den Eth­no­plu­ra­lis­mus im Sin­ne Alain de Benoists, den Intel­lek­tu­el­len der Nou­vel­le Droi­te in Frank­reich.[4] Im All­ge­mei­nen bezeich­net die Idee des Eth­no­plu­ra­lis­mus Vor­stel­lun­gen, die davon aus­ge­hen, dass Men­schen hin­sicht­lich ihrer ‚eth­nisch-kul­tu­rel­len‘ Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit ungleich sind. Im Sin­ne Benoists ist damit zunächst kei­ne Ungleich­wer­tig­keit im Sin­ne eines euge­ni­schen Ras­sen­be­griffs gemeint, son­dern eine Aner­ken­nung ver­schie­de­ner Kul­tu­ren.[5] Es ent­steht sogar der Ein­druck, dass die Viel­falt der Kul­tu­ren im eth­no­plu­ra­lis­ti­schen Den­ken geschätzt werde.

Im Fol­gen­den wer­den Aspek­te und Inkon­sis­ten­zen der posi­ti­ven Bezug­nah­me auf den Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus auf­ge­zeigt, um schließ­lich die Fra­ge zu beant­wor­ten, wel­che poli­ti­schen und prak­ti­schen Impli­ka­tio­nen aus dem Begriff abge­lei­tet wer­den können.

Die sub­stan­zia­li­sier­te Kultur

Die Eth­nie trägt nach Benoist sowohl die „Idee der Ras­se als auch […] der Kul­tur“[6] in sich. Die Bezie­hung zwi­schen der ver­meint­li­chen ‚Ras­se‘ und der Kul­tur bezeich­net Benoist als eine der Poten­tia­li­tät.[7] Die­sem Gedan­ken nach bil­det eine ‚Ras­se‘ den Boden für die (Schicksals-)Geschichte und Kul­tur.[8] So führt der fran­zö­si­sche Rechts­in­tel­lek­tu­el­le die ver­schie­de­nen Kul­tu­ren auf ein jeweils unter­schied­li­ches bio­lo­gis­ti­sches Fun­da­ment  zurück. Die Kul­tur bil­det somit in gewis­ser Wei­se den Über­bau der Biologie.

Hen­ning Eich­berg gilt als der­je­ni­ge, der den Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus popu­la­ri­siert und im deut­schen Dis­kurs maß­geb­lich geprägt hat. In den 70er Jah­ren ver­öf­fent­lich­te der Sozio­lo­gie und His­to­ri­ker in der neu­rech­ten Zeit­schrift Jun­ges Forum einen Auf­satz, in dem er wie Benoist die Über­zeu­gung ver­tritt, dass sub­stan­zi­el­le Unter­schie­de zwi­schen den Kul­tu­ren hin­sicht­lich ihres „Ver­hal­tens, Wahr­neh­mens und Den­kens“[9] bestehen. Eich­berg unter­nimmt eine Kri­tik an den west­li­chen Ent­wick­lungs­hil­fen, die einen „[naiv-eth­no­zen­trisch linea­ren] Maß­stab von hoch- bzw. unter­ent­wi­ckelt“[10] vor­aus­set­zen und rät dazu „auf alle Inter­ven­tio­nen in ande­re Kul­tu­ren hin­ein zu ver­zich­ten“[11]. Jede Kul­tur sol­le sei­ner Ansicht nach selbst­be­stimmt ent­schei­den, wie und ob die­se sich ent­wi­ckeln möch­te. Einem uni­ver­sel­len Begriff der Ent­wick­lung setzt der Eth­no­plu­ra­lis­mus dem eige­nen Anspruch nach die Aner­ken­nung jener unter­schied­li­chen Vor­stel­lun­gen ent­ge­gen, wie die Gesell­schaft orga­ni­siert wer­den soll.

Eben­so ent­steht der Ein­druck, dass es sich bei den ‚Kul­tu­ren‘ um ein abge­schlos­se­nes Gan­zes han­delt. Der Mensch wird nach Benoist in einen Kul­tur­kreis hin­ein­ge­bo­ren und fin­det eine bereits exis­tie­ren­de Kul­tur vor. Er habe die­se anzu­neh­men, „weil es sei­ne Kul­tur ist und weil er ihr Erbe ist“[12]. Von Außen­ste­hen­den kön­ne die­se Kul­tur nie ver­stan­den wer­den, weil die­se nicht über den Zugang ver­fü­gen, wie Kul­tur­ange­hö­ri­ge dies tun.[13] Die Kul­tur ist folg­lich ein rigi­des Gebil­de, das den kla­ren Blick nach außen nicht ermög­licht. Von Hajo Fun­ke wird die­ses Ver­ständ­nis als eine „Sub­stan­zia­li­sie­rung von Kul­tur“[14] bezeich­net. Anders als Benoist meint, exis­tie­ren Kul­tu­ren aber nicht als Mono­li­then im luft­lee­ren Raum. Kul­tu­ren sind im ste­ti­gen Wan­del begrif­fen. Ihnen liegt eine Dyna­mik zugrun­de, weil die­se im Ver­lau­fe der Zeit von unter­schied­li­chen Men­schen, sowohl von inner­halb, als auch von außer­halb, geprägt wor­den sind und geprägt wer­den. Eben­so erle­ben Men­schen in mul­ti­kul­tu­rel­len Kon­tex­ten, wie etwa im bilin­gua­len Auf­wach­sen unter­schied­li­che Kul­tu­ren, die sich ver­mi­schen kön­nen. Inso­fern las­sen sich die­se auch nicht fein säu­ber­lich von­ein­an­der tren­nen, kate­go­ri­sie­ren und den ein­zel­nen Men­schen zuord­nen. Benoist jedoch behaup­tet eine natür­lich Ver­bin­dung des ein­zel­nen Men­schen zu sei­ner Kul­tur. Men­schen sol­len sich für die Kul­tur ent­schei­den und für die­se ein­ste­hen, die ihrer ‚eth­ni­schen‘ Her­kunft, ihrem Aus­se­hen nach entspricht.

In sei­nem 2023 erschie­ne­nen Werk Wir und die Ande­ren ope­riert Benoist eher mit dem Begriff der Iden­ti­tät als dem der Eth­nie. Die deut­sche Iden­ti­tä­re Bewe­gung beruft sich expli­zit auf die­ses Werk und bezeich­net Iden­ti­tät als Resul­tat von unter­schied­li­chen kol­lek­ti­ven und indi­vi­du­el­len Fak­to­ren, wobei letz­te­res auch die „Mar­ker der eth­no­kul­tu­rel­len Iden­ti­tät ent­hal­ten“[15]. Ziel der Bewe­gung sei es, die Iden­ti­tät des deut­schen Vol­kes zu bewah­ren, ohne die Exis­tenz ande­rer Völ­ker zu negie­ren. Benoist meint eben­falls, dass die eige­ne Kul­tur geför­dert und ver­tei­digt wer­den kön­ne, ohne dass ande­re Men­schen ver­ach­tet wer­den müs­sen.[16] Wie­so muss aber die eige­ne Kul­tur ver­tei­digt wer­den und was ist damit gemeint?

Der Uni­ver­sa­lis­mus als Bedrohung

Der ethi­sche Uni­ver­sa­lis­mus ver­eint alles Mensch­li­che unter all­ge­mein­gül­ti­gen Prin­zi­pi­en. Eine sol­che Vor­stel­lung liegt der All­ge­mei­nen Erklä­rung der Men­schen­rech­te der Ver­ein­ten Natio­nen zugrun­de. Arti­kel 2 besagt, dass allen Men­schen die in der Erklä­rung ent­hal­te­nen Rech­te und Frei­hei­ten unab­hän­gig von den ihnen zuge­schrie­be­nen oder ange­bo­re­nen Merk­ma­len zuste­hen.[17] Benoist erkennt den ein­zel­nen Men­schen als Indi­vi­du­um jedoch nicht an, son­dern sub­su­miert die­sen unter sei­ne ‚Kul­tur‘. Es gebe „nur Kul­tu­ren [gibt], die alle ihre eige­nen Merk­ma­le und ihre eige­nen Geset­ze haben“[18]. An die Stel­le eines Uni­ver­sa­lis­mus setzt Benoist einen all­ge­mei­nen Rela­ti­vis­mus. Die­se Beson­der­hei­ten der unter­schied­li­chen Kul­tu­ren sei­en durch den uni­ver­sel­len Anspruch all­ge­mein­gül­ti­ger Prin­zi­pi­en bedroht. Dage­gen for­mu­liert Benoist die The­se, dass „das Pfle­gen des kol­lek­ti­ven Ichs viel­leicht das bes­te Mit­tel ist, einen Bei­trag zum Uni­ver­sel­len zu leis­ten“[19]. Hier ver­wi­ckelt sich Benoist in einen Selbst­wi­der­spruch: ent­ge­gen sei­ner Ableh­nung eines jeden Uni­ver­sa­lis­mus ver­tritt er einen neu­en, wenn er die Unter­wer­fung unter die Kul­tur als ein all­ge­mein­gül­ti­ges Prin­zip for­dert. Doch es bleibt nicht bei einer nüch­ter­nen Ableh­nung: der Uni­ver­sa­lis­mus kommt dem Ras­sis­mus gleich, da bei­de tota­li­sie­rend sind und so jeg­li­che Unter­schie­de zwi­schen Völ­kern bestrei­ten.[20] Dass der Ras­sis­mus Anders­ar­tig­kei­ten erst pro­du­ziert und poten­ziert, negiert er.

Die deut­sche Iden­ti­tä­re Bewe­gung schließt sich eben­falls der Kri­tik Benoists an, dass der Uni­ver­sa­lis­mus eine Unter­drü­ckungs­ideo­lo­gie ist.[21] Sie sieht den „Glo­ba­lis­mus“[22] als den Haupt­grund dafür an, dass die Ver­schie­den­hei­ten zwi­schen den Völ­kern und Kul­tu­ren auf­ge­ho­ben wer­den.[23] Die­ser ver­drän­ge die Bedeu­tung der regio­na­len Iden­ti­tät zuguns­ten der Vor­stel­lung einer uni­ver­sel­len Mensch­heit. Benoist betont eben­falls, dass der Uni­ver­sa­lis­mus „häu­fig ledig­lich die Mas­ke für unein­ge­stan­de­ne Beherr­schungs­prak­ti­ken war“[24].

Hen­ning Eich­berg hin­ge­gen for­mu­liert eine merk­wür­di­ge Kapi­ta­lis­mus­kri­tik. Sei­ner Ansicht nach ist die Xeno­pho­bie Resul­tat des Kapi­ta­lis­mus, wel­cher durch sei­ne leis­tungs­zen­trier­ten Anfor­de­run­gen die Arbei­ten­den in exis­ten­zi­el­ler Angst zurück­lässt. Die­se Angst wird zur Pro­jek­ti­ons­flä­che für den Hass gegen ihnen frem­de Men­schen. Gleich­zei­tig behaup­tet er, dass die Deut­schen sich selbst nicht als ‚Volk‘ aner­ken­nen wür­den.[25] Eich­berg scheint es nicht in den Sinn zu kom­men, dass der Frem­den­hass die eige­ne Aner­ken­nung als ‚Volk‘ vor­aus­setzt. Der Hass auf frem­de Men­schen kann gera­de als die Fol­ge der Auf­fas­sung eines ‚deut­schen Vol­kes‘ ver­stan­den wer­den. In die­sem Fal­le exis­tiert ein deut­sches Volks­ver­ständ­nis – es ist jedoch ein rassistisches.

Viel­falt und Homogenität

Die Viel­falt [der Kul­tu­ren] ist etwas Gutes, denn jeder wah­re Reich­tum beruht auf ihr“[26]. Mit die­sen Wor­ten möch­te Benoist beto­nen, dass die Ver­schie­den­hei­ten zwi­schen den Kul­tu­ren zu wert­schät­zen sind und sug­ge­riert Tole­ranz. Gleich­zei­tig schreibt er in Kul­tur­re­vo­lu­ti­on von rechts, dass bei zuneh­men­der Ein­wan­de­rung Grup­pen mit unter­schied­li­chen eth­nisch-kul­tu­rel­len Iden­ti­tä­ten „Kul­tur­ver­lust“[27], Aus­gren­zung sowie einen Anstieg an Kri­mi­na­li­tät erfah­ren. Eben­falls kön­ne „Ras­sen­ver­mi­schung“[28] zu einem Ver­lust der Kul­tur füh­ren, kri­ti­siert Benoist. Der fran­zö­si­sche Rechts­in­tel­lek­tu­el­le kon­sta­tier, dass die Viel­falt der Kul­tu­ren anzu­er­ken­nen und wert­zu­schät­zen ist, die­se soll­ten mög­lichst getrennt von­ein­an­der exis­tie­ren. Er spricht gar von einer „wech­sel­sei­ti­gen Ent­ko­lo­ni­sa­ti­on“[29]. Benoist rela­ti­viert damit das his­to­ri­sche Ver­bre­chen des Kolo­nia­lis­mus durch das vemeint­lich ver­gleich­ba­re Übel einer mulit­kul­tu­rel­len Gesell­schaft. Die­se Rela­ti­vie­rung liegt eine ras­sis­ti­sche Vor­stel­lung von gesell­schaft­li­cher Homo­ge­ni­tät zu Grun­de. Kul­tu­ren gehö­ren von­ein­an­der ent­zerrt und seg­re­giert, da sich die­se andern­falls gegen­sei­tig scha­den und jeweils von der eige­nen Iden­ti­tät ent­frem­den kön­nen. Die Viel­falt wird von Benoist nur aus der Fer­ne gewür­digt – im bes­ten Fal­le inter­agiert man gar nicht mit die­ser und ver­bleibt in der eige­nen Homogenität.

Zuguns­ten der Homo­ge­ni­tät sprach sich auch Carl Schmitt aus. Das Frem­de wird als Bedro­hung beschrie­ben, wel­che durch die Demo­kra­tie als homo­ge­ne Enti­tät aus­ge­löscht wer­den soll.[30] Schmitt meint, dass sich auch dann noch von einer Demo­kra­tie spre­chen lässt, wenn eine Grup­pe aus­ge­schlos­sen ist.[31] Die­se Homo­ge­ni­tät wird inner­halb des natio­nal­staat­li­chen Rah­mens ange­strebt. In Rück­be­sin­nung auf die Kern­idee des Eth­no­plu­ra­lis­mus gibt es dann nach Schmitt auch kei­ne uni­ver­sa­lis­ti­sche Staa­ten­welt, son­dern ein „Plu­ri­ver­sum“[32]. Im Gegen­satz zu Schmitts Bezug­nah­me auf den neu­zeit­li­chen Natio­nal­staat bezeich­net Benoist die Idee von inner­staat­li­cher Homo­ge­ni­tät hin­sicht­lich ‚eth­no-kul­tu­rel­ler‘ Aspek­te als eine illu­so­ri­sche Vor­stel­lung. Ihm zufol­ge sol­le sich die kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät regio­nal beschrän­ken, da sich auf die­ser Ebe­ne Men­schen fin­den, die tat­säch­lich mit den glei­chen Pro­ble­men zu kämp­fen haben.[33]

Die Vor­stel­lung, Homo­ge­ni­tät auf natio­nal­staat­li­cher Ebe­ne her­zu­stel­len, lehnt Eich­berg eben­falls ab und plä­diert für die Akzep­tanz von unter­schied­li­chen ‚Stäm­men‘ inner­halb eines Staa­ten­ge­bil­des.[34] Benoist und Eich­berg stel­len sich gegen die Idee eines völ­ki­schen Natio­na­lis­mus, betrach­ten aber Kul­tu­ren als von­ein­an­der getrennt exis­tie­ren­de Enti­tä­ten – wenn auch inner­halb glei­cher Staatsgrenzen.

Pierre Krebs ist der Lei­ter des soge­nann­ten Thu­le-Semi­nars, wel­ches nach eige­ner Aus­sa­ge eine „For­schungs- und Lehr­ge­mein­schaft für die indo-euro­päi­sche Kul­tur“[35]ist. Er ver­knüpft die Iden­ti­tät eben­falls nicht mit dem Natio­nal­staat, son­dern wei­tet die­se auf ganz Euro­pa aus. Sich die­ser Iden­ti­tät anzu­neh­men, bedeu­tet für ihn auch „die Bewah­rung der Unter­schie­de und die kul­tu­rel­le Auto­no­mie der euro­päi­schen Min­der­hei­ten“[36] ernst zu neh­men. Krebs bezieht sich aller­dings dezi­diert nicht auf den Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus, den er als ver­al­tet betrach­tet. Eher ver­wen­det er den Begriff des „euro­päi­schen Eth­nobe­wusst­seins“[37]. Nach Krebs‘ Vor­stel­lung bedeu­tet dies die Über­win­dung der „[zer­stö­ren­den] Assi­mi­la­ti­on frem­der Eth­ni­en […] und die ganz natür­li­che und über­all ver­ständ­li­che Rück­kehr der Immi­gran­ten in das Land ihrer Vor­fah­ren“[38]. Was Krebs als eine Natür­lich­keit dar­stellt, bedeu­tet in prak­ti­scher Kon­se­quenz die Zwangs­um­sied­lung von Mil­lio­nen von Men­schen, die nicht dem pseu­do­wis­sen­schaft­li­chen Bild eines Euro­pä­ers entsprechen.

Remi­gra­ti­on als eine Kon­se­quenz des Ethnopluralismus

Wäh­rend rechts­in­tel­lek­tu­el­le Vor­den­ker wie Benoist und Eich­berg die Idee einer Mas­sen­aus­wei­sung ableh­nen, wird die­se etwa von Pierre Krebs oder Mar­tin Sell­ner, dem bekann­tes­ten Gesicht der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung Deutsch­lands und Öster­reichs, gefor­dert. Sell­ner bezieht sich in einem Inter­view posi­tiv auf den Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus und betont dabei das Selbst­be­stim­mungs­recht der ‚Völ­ker‘ und Kul­tu­ren. Sell­ner tritt für „Mas­sen­rück­füh­run­gen“[39] als Teil einer durch Selbst­be­stim­mung gerecht­fer­tig­ten Migra­ti­ons­po­li­tik ein. So kön­nen sei­ner Ansicht nach Men­schen ande­rer Her­kunft außer Lan­des ver­wie­sen wer­den, wenn das ‚ein­hei­mi­sche‘ Volk befin­det, dass „die wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Kapa­zi­täts­gren­zen unse­rer Auf­nah­me- und Assi­mi­la­ti­ons­fä­hig­keit“[40] aus­ge­schöpft sei­en. Dies bedeu­tet, dass Migrant_innen und Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund der rei­nen Will­kür einer bestimm­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pe aus­ge­lie­fert sind.

Der Staat sol­le Sell­ner zufol­ge die ‚eth­nisch-kul­tu­rel­le‘ Iden­ti­tät schüt­zen, da die­se für eine Demo­kra­tie unab­ding­bar sei. Er spricht selbst von einem „mono­kul­tu­rel­len [Staat]“[41]. Damit knüpft Sell­ner an Carl Schmitts Demo­kra­tie­ver­ständ­nis an, wel­cher, wie zuvor erwähnt, eben­falls auf inner­staat­li­che Homo­ge­ni­tät abzielt – auch unter Anwen­dung von Gewalt. In einem Bei­trag für Sezes­si­on im Netz, des­sen ver­ant­wort­li­cher Redak­teur Götz Kubit­schek ist, führt Sell­ner meh­re­re his­to­ri­sche Bei­spie­le für „Remi­gra­ti­on“[42] an, offen­bar mit der Absicht, die­ses Vor­ha­ben zu nor­ma­li­sie­ren. Er bestrei­tet, dass die Depor­ta­ti­on von zahl­rei­chen Men­schen mit den Men­schen­rech­ten oder der Ver­fas­sung kon­f­li­gie­ren wür­den.[43] Zur Grup­pe der aus­zu­wei­sen­den Men­schen zählt Sell­ner ‚Asyl­be­trü­ger‘ und Men­schen ohne deut­scher Staats­bür­ger­schaft, „die eine kul­tu­rel­le, wirt­schaft­li­che und kri­mi­no­lo­gi­sche Belas­tung dar­stel­len“[44]. Eben­falls aus­ge­wie­sen wer­den sol­len jene Men­schen, die sich auf Dau­er nicht einer ‚Leit­kul­tur‘ im Land anpas­sen. Die­se Leit­kul­tur sei Aus­druck der ‚eth­nisch-kul­tu­rel­len‘ Iden­ti­tät inner­halb natio­nal­staat­li­cher Gren­zen. Wer gut assi­mi­liert ist, das ent­schei­det der­je­ni­ge, der ein ‚Erbe‘ der ‚Eth­nie‘ sei. Die deut­sche Iden­ti­tä­re Bewe­gung for­dert, dass das Staats­bür­ger­schafts­recht an die Her­kunft geknüpft wer­den soll­te.[45]

Im Janu­ar 2024 berich­te­te das Inves­ti­ga­tiv­por­tal Cor­rec­tiv von einem gehei­men Tref­fen zwi­schen Rechts­extre­men — unter den Anwe­sen­den waren unter ande­rem Politiker_innen der Wer­te­uni­on sowie der AfD und Mar­tin Sell­ner. Zen­tra­ler Inhalt die­ses Tref­fen waren Plä­ne zur „Remi­gra­ti­on“. Die­se Repor­ta­ge lös­te einen öffent­li­chen Auf­schrei aus, gefolgt von zahl­rei­chen Demons­tra­tio­nen in ganz Deutsch­land. Mar­tin Sell­ner zieht dar­aus ande­re Schlüs­se: „Mit die­ser sym­bo­li­schen und theo­re­ti­schen Schwung­mas­se kann die Visi­on der Remi­gra­ti­on den Gra­ben über­sprin­gen und in der Mit­te der Gesell­schaft lan­den“[46].

Schluss

Der Begriff des Eth­no­plu­ra­lis­mus beruft sich in einem basa­len Sin­ne auf die Aner­ken­nung der Ungleich­heit der Kul­tu­ren, ohne die­se abzu­wer­ten. Die Kul­tur wird essen­tia­li­siert und bio­lo­gi­siert, indem sie an den Begriff der ‚Eth­nie‘ oder gar der ‚Ras­se‘ geknüpft wird. Die Vor­stel­lung, dass jede Kul­tur ihrer eige­nen Logik folgt und dem­nach kei­ne Ver­gleich­bar­keit mög­lich ist, ver­un­mög­licht jedes uni­ver­sa­lis­ti­sche Prin­zip. Der Uni­ver­sa­lis­mus erken­ne die Unter­schie­de der Kul­tu­ren nicht an und sei durch die­se Nega­ti­on der Viel­falt unter­drü­cke­risch. Eben­so bestehe die Gefahr, dass sich die Kul­tu­ren gegen­sei­tig über­frem­den, wes­halb die­se mög­lichst getrennt von­ein­an­der exis­tie­ren müs­sen. Obwohl Alain de Benoist und Hen­ning Eich­berg die Mas­sen­aus­wei­sung von Men­schen ande­rer Her­kunft ableh­nen, stre­ben Pierre Krebs und Mar­tin Sell­ner mit der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung die Zwangs­de­por­ta­ti­on zahl­rei­cher Men­schen zuguns­ten einer „mono­kul­tu­rel­len“[47] Gesell­schaft an. Der Eth­no­plu­ra­lis­mus ist anschluss­fä­hi­ge für völ­kisch-natio­na­lis­ti­sches Gedan­ken­gut und wird als rela­tiv loses theo­re­ti­sches Kon­zept von rechts­ra­di­ka­len Akteu­ren als Grund­la­ge her­an­ge­zo­gen, um die Deu­tungs­ho­heit dar­über aus­zu­üben, wie und wel­che Men­schen zusam­men­le­ben sol­len. In die­sem Sin­ne ist die Kul­tur als Bezugs­punkt anstel­le der ‚Ras­se‘ „ein blo­ßes Deck­bild für den bru­ta­len Herr­schafts­an­spruch“[48].

Vie­len Dank an das anti­fa­schis­ti­sche pres­se­ar­chiv und bil­dungs­zen­trum ber­lin e.V. (apa­biz) für die Bereit­stel­lung der Materialien.

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Iden­ti­tä­re Bewe­gung: The­men, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, o.D., https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​t​h​e​m​e​n​/​#​g​l​o​b​a​l​i​s​mus (abge­ru­fen am 30.11.2024).

Krau­se, Peter: Ein­wan­de­rung bedroht unse­re kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät nicht. Alain de Benoist, Vor­den­ker der Neu­en Rech­ten in Frank­reich, über Ras­sis­mus und Anti­ras­sis­mus, Ideo­lo­gien und Frem­den­feind­lich­keit, Ber­lin: Jun­ge Frei­heit, 1998.

Krebs, Pierre: Wofür wir kämp­fen, In: ahnen​rad​.org – Die Geis­tes­ge­gen­wart der Zukunft, 2020, https://​ahnen​rad​.org/​2​0​2​0​/​0​5​/​1​6​/​w​o​f​u​e​r​-​w​i​r​-​k​a​e​m​p​f​en/ (abge­ru­fen am 30.11.2024).

Schmitt, Carl: Der Begriff des Poli­ti­schen, 9. kor­ri­gier­te Auf­la­ge, Ber­lin: Dun­cker & Hum­blot, 2015.

Schmitt, Carl: Die geis­tes­ge­schicht­li­che Lage des heu­ti­gen Par­la­men­ta­ris­mus, 10. Auf­la­ge, Ber­lin: Dun­cker & Hum­blot, 2017.

Sell­ner, Mar­tin: Wie­der­vor­la­ge: Remi­gra­ti­on ist kei­ne Erfin­dung unse­rer Zeit, in: Sezes­si­on, 2024, https://​sezes​si​on​.de/​6​8​6​0​2​/​r​e​m​i​g​r​a​t​i​o​n​-​i​s​t​-​k​e​i​n​e​-​e​r​f​i​n​d​u​n​g​-​u​n​s​e​r​e​r​-​z​eit (abge­ru­fen am 30.11.2024).

Ver­ein­te Natio­nen: All­ge­mei­ne Erklä­rung der Men­schen­rech­te, in: Ver­ein­te Natio­nen, 1948, https://​unric​.org/​d​e​/​a​l​l​g​e​m​e​i​n​e​-​e​r​k​l​a​e​r​u​n​g​-​m​e​n​s​c​h​e​n​r​e​c​h​te/ (abge­ru­fen am 30.11.2024).

Wage­ner, Mar­tin: Über die Iden­ti­tä­re Bewe­gung – Ein Gespräch mit Mar­tin Sell­ner, Ber­lin: Kind­le Direct Publi­shing, 2021, S. 15.


[1] Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Unse­re Mis­si­on. Die patrio­ti­sche Wen­de, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, o.D., https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​m​i​s​s​i​on/ (abge­ru­fen am 29.11.2024).

[2] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: „No Way – Do not come to Euro­pe“ – Iden­ti­tä­re Auf­klä­rungs­kam­pa­gne in Afri­ka gestar­tet, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, o.D., https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​n​e​u​i​g​k​e​i​t​e​n​/​n​o​-​w​a​y​-​d​o​-​n​o​t​-​c​o​m​e​-​t​o​-​e​u​r​o​p​e​-​i​d​e​n​t​i​t​a​e​r​e​-​a​u​f​k​l​a​e​r​u​n​g​s​k​a​m​p​a​g​n​e​-​i​n​-​a​f​r​i​k​a​-​g​e​s​t​a​r​t​et/ (abge­ru­fen am 29.11.2024).

[3] Iden­ti­tä­re Bewegung.

[4] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Skan­da­li­sie­rung ohne Skan­dal, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, 2016, https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​n​e​u​i​g​k​e​i​t​e​n​/​s​k​a​n​d​a​l​i​s​i​e​r​u​n​g​-​o​h​n​e​-​s​k​a​n​d​al/ (abge­ru­fen am 29.11.2024).

[5] Vgl. Benoist, Alain d.: Wir und die ande­ren, Ber­lin: Jun­ge Frei­heit, 2008, S.60.

[6] Benoist, Alain d.: Kul­tur­re­vo­lu­ti­on von rechts, Kre­feld: Sinus, 1985, S. 57.

[7] Vgl. Ebd.

[8] Vgl. Ebd. S. 55.

[9] Eich­berg, Hen­ning:  Eth­no­plu­ra­lis­mus. Eine Kri­tik des nai­ven Eth­no­zen­tris­mus und der Ent­wick­lungs­hil­fe, in: Jun­ges Forum, Nr. 5, 1973, S. 6.

[10] Ebd. S. 4.

[11] Ebd. S. 10.

[12] Benoist, 1985, S. 61.

[13] Vgl. Ebd. S. 55.

[14] Fun­ke, Hajo: Rechts­extre­me Ideo­lo­gien, stra­te­gi­sche Ori­en­tie­run­gen und Gewalt, in: Mar­tin Gers­ter (Hrsg.), Stra­te­gien der extre­men Rech­ten, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2009, S. 25.

[15] Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Mission.

[16] Vgl. Benoist, 1985, S. 61.

[17] Vgl. Ver­ein­te Natio­nen: All­ge­mei­ne Erklä­rung der Men­schen­rech­te, in: Ver­ein­te Natio­nen, 1948, https://​unric​.org/​d​e​/​a​l​l​g​e​m​e​i​n​e​-​e​r​k​l​a​e​r​u​n​g​-​m​e​n​s​c​h​e​n​r​e​c​h​te/ (abge­ru­fen am 30.11.2024).

[18] Benoist, Alain d.: Gleich­heits­leh­re, Welt­an­schau­ung und Moral; die Aus­ein­an­der­set­zung von Nomi­na­lis­mus und Uni­ver­sa­lis­mus, in: Pierre Krebs (Hrsg.), Das unver­gäng­li­che Erbe. Alter­na­ti­ven zum Prin­zip der Gleich­eit, Tübin­gen: Gra­bert, 1981, S. 87.

[19] Benoist, 1985, S. 61.

[20] Krau­se, Peter: Ein­wan­de­rung bedroht unse­re kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät nicht. Alain de Benoist, Vor­den­ker der Neu­en Rech­ten in Frank­reich, über Ras­sis­mus und Anti­ras­sis­mus, Ideo­lo­gien und Frem­den­feind­lich­keit, Ber­lin: Jun­ge Frei­heit, 1998, S. 3.

[21] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: The­men, in: Iden­ti­tä­re Bewe­gung, o.D., https://​www​.iden​ti​tae​re​-bewe​gung​.de/​t​h​e​m​e​n​/​#​g​l​o​b​a​l​i​s​mus (abge­ru­fen am 30.11.2024).

[22] Ebd.

[23] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Mission.

[24] Benoist, 2008, S. 63.

[25] Vgl. Eich­berg, Hen­ning: Das gute Volk: Über mul­ti­kul­tu­rel­les Mit­ein­an­der, in: Ästhe­tik & Kom­mu­ni­ka­ti­on, Jg. 23, Nr. 84, 1994,S. 79–82.

[26] Benoist, 1981, S.87.

[27] Benoist, 1985, S. 65.

[28] Ebd., S.64.

[29] Ebd., S. 67.

[30] Vgl. Schmitt, Carl: Die geis­tes­ge­schicht­li­che Lage des heu­ti­gen Par­la­men­ta­ris­mus, 10. Auf­la­ge, Ber­lin: Dun­cker & Hum­blot, 2017, S. 14.

[31] Ebd., S. 15.

[32] Schmitt, Carl: Der Begriff des Poli­ti­schen, 9. kor­ri­gier­te Auf­la­ge, Ber­lin: Dun­cker & Hum­blot, 2015, S.50.

[33] Vgl. Krau­se, 1998, S. 4.

[34] Vgl. Eich­berg, 1994, S. 81.

[35] Krebs, Pierre: Wofür wir kämp­fen, In: ahnen​rad​.org – Die Geis­tes­ge­gen­wart der Zukunft, 2020, https://​ahnen​rad​.org/​2​0​2​0​/​0​5​/​1​6​/​w​o​f​u​e​r​-​w​i​r​-​k​a​e​m​p​f​en/ (abge­ru­fen am 30.11.2024).

[36] Ebd.

[37] Ebd.

[38] Ebd.

[39] Sell­ner, Mar­tin: Wie­der­vor­la­ge: Remi­gra­ti­on ist kei­ne Erfin­dung unse­rer Zeit, in: Sezes­si­on, 2024, https://​sezes​si​on​.de/​6​8​6​0​2​/​r​e​m​i​g​r​a​t​i​o​n​-​i​s​t​-​k​e​i​n​e​-​e​r​f​i​n​d​u​n​g​-​u​n​s​e​r​e​r​-​z​eit (abge­ru­fen am 30.11.2024).

[40] Wage­ner, Mar­tin: Über die Iden­ti­tä­re Bewe­gung – Ein Gespräch mit Mar­tin Sell­ner, Ber­lin: Kind­le Direct Publi­shing, 2021, S. 15.

[41] Ebd., S. 14.

[42] Sell­ner, 2024.

[43] Vgl. Ebd.

[44] Ebd.

[45] Vgl. Iden­ti­tä­re Bewe­gung: Themen.

[46] Sell­ner, 2024.

[47] Wage­ner, 2021, S. 14.

[48] Ador­no, Theo­dor W.: Schuld und Abwehr,  in: Gesam­mel­te Schrif­ten (Bd. 9.2). Sozio­lo­gi­sche Schrif­ten II.2, Frank­furt am Main: Suhr­kamp, S. 276.

Erinnern heißt kämpfen“: Die Zukunft des Strafjustizzentrums in München

Das früh­mor­gend­lich erleuch­te­te Straf­jus­tiz­zen­trum am 9. Dezem­ber 2015, dem Tag, als die NSU-Ter­ro­ris­tin erst­mals aus­sa­gen woll­te — der „Gla­mour“ der Haupt­an­ge­klag­ten trieb viel Publi­kum in den Saal A101 (Foto: Burschel)

Das Mün­che­ner Straf­jus­tiz­zen­trum ist weit mehr als ein funk­tio­na­ler Ort für juris­ti­sche Abläu­fe. Der­zeit steht es im Mit­tel­punkt einer Debat­te über sei­ne Zukunft: Soll­te es abge­ris­sen oder einer neu­en Nut­zung zuge­führt wer­den? Noch ist das Gebäu­de in Betrieb, aber sei­ne sym­bo­li­sche und his­to­ri­sche Bedeu­tung wirft die Fra­ge auf, ob und wie man die­sen Ort bewah­ren soll­te, wenn die Gerich­te wie geplant umziehen.

Es ist ein Ort, der in der Geschich­te der deut­schen Jus­tiz und ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit rech­tem Ter­ror und neo­na­zis­ti­schen Netz­wer­ken eine sym­bo­li­sche und tief­grei­fen­de Bedeu­tung erlangt hat. Über Jahr­zehn­te hin­weg war es Schau­platz bedeu­ten­der Ver­fah­ren, die nicht nur juris­tisch, son­dern auch poli­tisch und gesell­schaft­lich von größ­ter Rele­vanz waren. Dazu zäh­len unter ande­rem der Pro­zess, der die ras­sis­tisch moti­vier­te Mord­se­rie des „Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds“ (NSU) ver­han­del­te, sowie der gegen den Waf­fen­lie­fe­ran­ten des Atten­tä­ters vom Olym­pia-Ein­kaufs­zen­trum (OEZ), der im Juli 2016 neun Men­schen eben­falls aus ras­sis­ti­schen Moti­ven dort ermor­det hat.

In einer Zeit, in der rech­te Gewalt und rech­ter Ter­ror immer wie­der und immer mehr auf erschre­cken­de Wei­se in Deutsch­land zuta­ge tre­ten, rückt die Dis­kus­si­on um das Straf­jus­tiz­zen­trum in ein neu­es Licht. Im Rah­men einer Podi­ums­dis­kus­si­on, orga­ni­siert von der Initia­ti­ve „Jus­tiz­zen­trum­Er­hal­ten / Abbre­chen­Ab­bre­chen“, gin­gen die Podi­ums­gäs­te der Fra­ge nach, ob das Jus­tiz­zen­trum als Ort des Geden­kens an die hier ver­han­del­ten Gewalt­ver­bre­chen erhal­ten blei­ben soll­te, um Raum zu bie­ten für eine gesell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser Geschich­te, die­sen Geschichten.

Auf dem Panel saßen Gise­la Koll­mann, die ihren Enkel Giu­lia­no Koll­mann bei dem rech­ten Anschlag im OEZ ver­lor, Patryc­ja Kowals­ka, eine Unter­stüt­ze­rin der Initia­ti­ve „Mün­chen OEZ Erin­nern“, Fried­rich Bur­schel von der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung & NSU Watch sowie der Jour­na­list Robert Andre­asch, der für die Anti­fa­schis­ti­sche Informations‑, Doku­men­ta­ti­ons- und Archiv­stel­le Mün­chen arbei­tet. Sie alle ver­bin­det das Anlie­gen, dass die Opfer rech­ter Gewalt nicht ver­ges­sen wer­den und dass der Staat end­lich Ver­ant­wor­tung über­nimmt – sowohl für die lücken­lo­se Auf­klä­rung sol­cher Taten als auch für die Aner­ken­nung des rech­ten Ter­rors als sys­te­mi­sches Problem.

Der OEZ-Anschlag und die Kämp­fe der Angehörigen

Im Jahr 2016 ereig­ne­te sich der rechts­ter­ro­ris­ti­scher Anschlag im Mün­che­ner Olym­pia-Ein­kaufs­zen­trum. Neun Men­schen, über­wie­gend mit fami­liä­rer Migra­ti­ons­ge­schich­te, fie­len dem Anschlag zum Opfer, dar­un­ter auch Giu­lia­no Koll­mann, der damals 19-jäh­ri­ge Enkel von Gise­la Koll­mann. Der Täter, mit tief ver­wur­zel­ten ras­sis­ti­schen und völ­kisch-natio­na­len Über­zeu­gun­gen, plan­te die Tat sys­te­ma­tisch und fand dabei Unter­stüt­zung von einem Waf­fen­händ­ler, der ihn mit der Mord­waf­fe sowie „aus­rei­chend“ Muni­ti­on ver­sorg­te. Trotz offen­sicht­li­cher Hin­wei­se auf die rech­te Moti­va­ti­on, ver­har­mos­te man die Hin­ter­grün­de des Anschlags lan­ge. Die Behör­den spra­chen von einem „Amok­lauf“, nicht von rech­tem Terror.

Gise­la Koll­mann berich­tet in der Dis­kus­si­on von den Erfah­run­gen, die sie wäh­rend des Pro­zes­ses gegen den Waf­fen­händ­ler im Straf­jus­tiz­zen­trum in der Nym­phen­bur­ger­stra­ße mach­te. „Ich woll­te nur, dass er mir ein­mal in die Augen sieht, aber er konn­te es nicht“, erzählt sie. Koll­manns Erleb­nis­se im Gerichts­saal sind sym­pto­ma­tisch für die Art und Wei­se, wie staat­li­che Insti­tu­tio­nen mit den Betrof­fe­nen umge­hen: Ohne Empa­thie, ohne wirk­li­ches Ver­ständ­nis für den Schmerz und das Trau­ma, das sol­che Taten hin­ter­las­sen.  Flos­keln wie „Sie müs­sen kei­ne Angst haben, dass er ihre ande­ren Kin­der tötet“ hät­ten die­se Miß­ach­tung sehr deut­lich gemacht, sagt Gise­la Koll­mann. Die Hin­ter­blie­ben wer­den durch den Pro­zess wei­ter trau­ma­ti­siert – dies­mal durch den Staat, der sie hät­te schüt­zen und unter­stüt­zen sollen.

Die­se Erfah­run­gen sind kei­ne Ein­zel­fäl­le. Die Initia­ti­ve „Mün­chen OEZ Erin­nern“, der auch ande­re Ange­hö­ri­ge und Über­le­ben­de des Anschlags ange­hö­ren, kämpft seit Jah­ren dafür, dass der Anschlag als das aner­kannt wird, was er war: ein rechts­ter­ro­ris­ti­scher Angriff. Patryc­ja Kowals­ka, die die Initia­ti­ve unter­stützt, betont, dass die­ser Kampf nicht nur ein per­sön­li­cher ist. Es geht um das poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Bewusst­sein, dass rech­ter Ter­ror ein sys­te­ma­ti­scher Angriff auf das Leben und die Wür­de von Men­schen ist – moti­viert  durch grup­pen­be­zo­ge­nen Hass und getra­gen von rech­ter Ideologie.

Par­al­le­len zum NSU-Prozess

Auch im gigan­ti­schen, 438 Tage dau­ern­den NSU-Ver­fah­ren dort wur­den die Ange­hö­ri­gen der Opfer oft igno­riert und ihre Inter­es­sen aktiv miss­ach­tet. Der NSU, eine neo­na­zis­ti­sche Ter­ror­zel­le, war für die Mor­de an zehn Men­schen, über­wie­gend Migran­ten, ver­ant­wort­lich. Doch ähn­lich wie im OEZ-Fall wur­de auch hier lan­ge an einem Nar­ra­tiv fest­ge­hal­ten, das die Ver­ant­wor­tung des Staa­tes und die Rol­le eines hin­ter dem Kern-Trio ste­hen­den, umfang­rei­chen rech­ten Netz­werks klein­re­de­te. Die jah­re­lan­gen Ermitt­lun­gen und der anschlie­ßen­de Gerichts­pro­zess zeig­ten, wie tief struk­tu­rel­le Igno­ranz und insti­tu­tio­nel­les Ras­sis­mus ver­an­kert sind, wenn es um die Auf­klä­rung und Ver­fol­gung rech­ten Ter­rors geht.

Der NSU-Pro­zess offen­bar­te zudem, dass der NSU kei­nes­wegs iso­liert agier­te. Ein brei­tes Netz­werk von Unter­stüt­zern half der Ter­ror­grup­pe, sich jah­re­lang dem Zugriff der Behör­den zu ent­zie­hen. Beob­ach­ter des Pro­zes­ses beto­nen, dass weit über 100 Per­so­nen in die­ses Netz­werk invol­viert waren, vie­le von ihnen als akti­ve Mit­tä­ter oder Unter­stüt­zer. Trotz die­ser kla­ren Bewei­se wur­de im Pro­zess ver­sucht, die Ver­ant­wor­tung des Staa­tes und der Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den her­un­ter­zu­spie­len, die den NSU über zahl­rei­che Informant*innen in unmit­tel­ba­rer Nähe der Täter*innen und über das Geld für deren Diens­te erst über­haupt mit auf­ge­baut und unter Beob­ach­tung gehabt hät­ten, aber dann eben nicht gestoppt hätten.

Auch im NSU-Pro­zess war der Gerichts­saal geprägt von einer bedrü­cken­den Hier­ar­chie. Die 93 Nebenkläger*innen, die Fami­li­en der Opfer, die im Ver­fah­ren von mehr als 60 Rechtsanwält*innen ver­tre­ten wur­den, saßen im Saal A101 unter der Tri­bü­ne, auf der die Pres­se und die Öffent­lich­keit über ihnen thron­ten. Die­se räum­li­che Anord­nung spie­gel­te die rea­le Mar­gi­na­li­sie­rung der Opfer und ihrer Ange­hö­ri­gen wider, die um Gehör und Aner­ken­nung kämpf­ten, wäh­rend die staat­li­chen Insti­tu­tio­nen ver­such­ten die eige­nen Ver­säum­nis­se zu verdecken.

Die Bedeu­tung der Räu­me des Justizzentrums

Ange­sichts die­ser Geschich­te wird die his­to­ri­sche Bedeu­tung der Räu­me des Jus­tiz­zen­trums beson­ders deut­lich. Die­se Wän­de haben Zeu­gen­be­rich­te von Men­schen gehört, deren Fami­li­en durch rech­ten Ter­ror zer­stört wur­den. Sie haben die Bemü­hun­gen gese­hen, den Staat zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen, und zugleich das Schei­tern staat­li­cher Insti­tu­tio­nen, sich der vol­len Wahr­heit über die­se Ver­bre­chen zu stel­len. Die Pro­zes­se, die hier statt­fan­den, sind Zeug­nis­se eines fort­wäh­ren­den Kamp­fes – nicht nur gegen die Täter, son­dern auch gegen eine Gesell­schaft, die all­zu oft wegschaut.

Das Jus­tiz­zen­trum könn­te, wenn es mit einem Ort des Geden­kens — etwa im A101 — erhal­ten blie­be, all die­se Geschich­ten bewah­ren. Es wäre ein Mahn­mal, das nicht nur an die Opfer erin­ner­te, son­dern auch dar­an, wie insti­tu­tio­nel­les Ver­sa­gen rech­ten Ter­ror ermög­licht und begüns­tigt hat.

Reichsbürger“-Prozesse und die Kon­ti­nui­tät rech­ten Terrors

Nicht nur ver­gan­ge­ne Pro­zes­se sind hier von Bedeu­tung: In den glei­chen Hal­len fin­den heu­te die „Reichsbürger“-Prozesse statt.

Die „Reichs­bür­ger“, eine Bewe­gung, die die Legi­ti­mi­tät der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ablehnt und sich oft durch rech­te, anti­se­mi­ti­sche und ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sche Über­zeu­gun­gen aus­zeich­net, ste­hen der­zeit im Zen­trum zahl­rei­cher Gerichts­ver­fah­ren. Die­se Pro­zes­se, die eben­falls im Jus­tiz­zen­trum geführt wer­den, knüp­fen direkt an die Tra­di­ti­on der Aus­ein­an­der­set­zung mit rech­tem Ter­ror an. Wie schon bei den NSU-Mor­den und dem OEZ-Anschlag zeigt sich auch hier, dass rech­te Ideo­lo­gien nicht iso­liert, son­dern in Netz­wer­ken agie­ren – unter­stützt wer­den die Akteur*innen von Gleich­ge­sinn­ten, teils mit weit­rei­chen­den Ver­bin­dun­gen in gesell­schaft­li­che und staat­li­che Strukturen.

Die­se Kon­ti­nui­tät rech­ter Gewalt und ihre bedroh­li­che Prä­senz in der Gegen­wart ver­deut­li­chen, wie not­wen­dig eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der Geschich­te des Jus­tiz­zen­trums ist. Der Abriss die­ses sym­bol­träch­ti­gen Ortes wäre ein Ver­lust, der weit über das rein Archi­tek­to­ni­sche hinausgeht.

OEZ-Anschlag: An ihre Namen und ihre Leben erinnern

Der Ber­li­ner Rap­per Apsi­lon gab einen Soli-Gig im Rah­men des „Mün­chen erinnern!“-Gedenkens auf der klei­nen Büh­ne im Mün­che­ner „Import-Export“

We will shi­ne for the­se nine“ — So lau­tet das Mot­to des Bünd­nis­ses „Mün­chen erin­nern!“ zum dies­jäh­ri­gen Geden­ken an das rechts­ter­ro­ris­ti­sche Atten­tat im Olym­pia Ein­kaufs­zen­trum (OEZ) vor genau acht Jah­ren, am 22. Juli 2016. Acht Jugend­li­che und eine Erwach­se­ne, ihre Namen ste­hen im Zen­trum des Erin­nerns: Arme­la, Can, Dija­mant, Gui­lia­no, Hüsey­in, Rober­to, Sabi­ne, Sel­çuk und Sev­da, ver­lo­ren ihr Leben bei dem Anschlag im Juli 2016 im OEZ. Erst vie­le Jah­re und etli­che Gut­ach­ten spä­ter war es offi­zi­ell: Es war kein „Amok­lauf“, wie die Medi­en die Tat all die Jah­re fram­ten, son­dern ein rechts­ter­ro­ris­ti­scher Anschlag. Seit­dem kämp­fen Ange­hö­ri­ge dar­um gehört zu werden.

Apsilon zollt Respekt

Am Wochen­en­de gedach­ten etli­che Hun­dert Men­schen der Ermor­de­ten bereits bei einem Kon­zert, einem Podi­um und einer Lesung. Vie­le Bei­trä­ge auf den Büh­nen beton­ten, dass Ras­sis­mus ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Pro­blem sei. Der Ber­li­ner Rap­per Apsi­lon zeig­te sich berührt davon, zum Geden­ken ein­ge­la­den wor­den zu sein, und erzähl­te auf der klei­nen Musik­büh­ne und in sei­nen Song­tex­ten von Ras­sis­mus-Erfah­run­gen seit sei­ner Kindheit.

Dring­li­cher Tenor der Ver­an­stal­tung war es, dass sich eben auch und vor allem Nicht-Betrof­fe­ne von Ras­sis­mus soli­da­risch ver­hal­ten soll­ten. Es sei auch ihre Auf­ga­be, auf die Gefahr ras­sis­ti­scher Ideo­lo­gie und Gewalt hin­zu­wei­sen und die Opfer nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten zu lassen.

Geden­ken nach 8 Jah­ren am Tat­ort selbst, dem Olym­pia Ein­kaufs­zen­trum (OEZ) in Mün­chen, am 22.7.24

Am eigent­li­chen Gedenk­tag, dem Mon­tag, 22. Juli, ver­sam­mel­ten sich abends Ange­hö­ri­ge der Opfer, vie­le Unterstützer*innen und Trau­ern­de am Ort des Anschlags vor dem OEZ. Es waren Lie­der zu hören, die die Getö­te­ten ger­ne gehört haben oder sol­che, mit denen Freund*innen und die Fami­li­en an sie erinnerten.
Geden­ken nach 8 Jah­ren am Tat­ort selbst, dem Olym­pia Ein­kaufs­zen­trum (OEZ) in Mün­chen, am 22.7.24/caption]

Schmerz des Vermissens

Ober­bür­ger­meis­ter Die­ter Rei­ter ver­wies dar­auf, dass Mün­chen die Stadt mit den meis­ten rechts­ter­ro­ris­ti­schen Anschlä­gen in Nach­kriegs­deutsch­land sei. Auch er beton­te die Wich­tig­keit, auf die Wün­sche der Ange­hö­ri­gen ein­zu­ge­hen und sprach von Mün­chen als „bun­ter und demo­kra­ti­scher Stadt“.

Nach dem Stadt­ober­haupt spra­chen die Ange­hö­ri­ge der Getö­te­ten: Dabei erzähl­ten sie nicht nur von dem Leben ihrer ver­lo­re­nen Kin­der und Geschwis­ter und der ermor­de­ten Mut­ter und Ehe­frau, son­dern vom Gefühl des Ver­mis­sens. Eine der Ange­hö­ri­gen for­der­te zudem mehr Auf­klä­rung über das Vor­ge­hen der Poli­zei und Behör­den zum Tat­zeit­punkt. Sie äußer­te deut­li­che Kri­tik am Umgang mit dem Anschlag und sei­ner Ein­stu­fung als Amok­lauf durch den baye­ri­schen Innen­mi­nis­ter Joa­chim Herr­mann. Eine wei­te­re Ange­hö­ri­ge äußer­te ihre tie­fe Sor­ge über die zuneh­men­de Macht der völ­kisch-natio­na­lis­ti­schen Par­tei AfD.

Zum Zeit­punkt des Atten­tats ver­sam­mel­ten sich Freund*innen und Fami­li­en an dem für die Ver­stor­be­nen errich­te­ten Denk­mal und lie­ßen Luft­bal­lons auf­stei­gen. In einer Schwei­ge­mi­nu­te gedach­ten alle Anwe­sen­den der getö­te­ten Menschen.

Der Täter mag allei­ne geschos­sen haben – den­noch steht der Anschlag in Mün­chen nicht ver­ein­zelt im Raum, son­dern ist nur ein Bei­spiel für ras­sis­ti­sche Mor­de in Deutsch­land. Das Atten­tat in Hanau, der anti­se­mi­ti­sche Anschlag auf die Syn­ago­ge in Hal­le, die Ermor­dung des Kas­se­ler Regie­rungs­prä­si­den­ten Walt­her Lüb­cke, aber auch der jüngs­te Brand­an­schlag auf eine Fami­lie in Solin­gen, zahl­rei­che bren­nen­de Unter­künf­te für Geflüch­te­te oder der von der Poli­zei getö­te­te Mou­ha­med Lami­ne Dra­mé sind nur eini­ge Bei­spie­le, bei denen Men­schen auf­grund einer ras­sis­tisch-natio­na­lis­ti­schen Ideo­lo­gie der Täter ihr Leben verloren.

Netzwerk der Betroffenen

Die­se schreck­li­chen Taten zu ver­knüp­fen und zusam­men zu sehen, ist für die Ange­hö­ri­gen wich­tig. Die Ver­wand­ten und Freund*innen der Opfer ras­sis­ti­scher Mor­de in ver­schie­de­nen Städ­ten Deutsch­lands sind inzwi­schen gut ver­netzt und besu­chen sich gegen­sei­tig bei Gedenk­ver­an­stal­tun­gen, war wäh­rend der Gedenk­ver­an­stal­tung zu hören. Die Ange­hö­ri­gen aus Mün­chen ver­si­cher­ten, dass ihnen das Gefühl, mit ihrer Trau­er und Wut nicht allei­ne zu sein, Kraft gebe.

Tell their stories

Unter den Anwe­sen­den wur­de das Heft­chen „Tell their Sto­ries“ ver­teilt. In dem berüh­ren­den Book­let ver­öf­fent­li­chen Ange­hö­ri­ge etli­cher der Ermor­de­ten Bil­der, Gedich­te, Erin­ne­run­gen und Geschich­ten aus dem Leben der Opfer. Die Bot­schaft auch hier: Nicht nur die Namen der Getö­te­ten dür­fen nie­mals in Ver­ges­sen­heit gera­ten – auch ihre Geschich­ten müs­sen gehört werden!

Mölln, NSU, Halle, Hanau

Rechtsterror, Kontinuität und deutsche (Nicht-) Erinnerung

Rech­te Gewalt hat eine lan­ge Geschich­te in Deutsch­land. Nicht zuletzt haben die Anschlä­ge von Hanau und Hal­le und der Mord an Wal­ter Lüb­cke die Kon­ti­nui­tät rech­ter Gewalt erneut schmerz­lich sicht­bar gemacht. Eben­so besteht jedoch auch eine lan­ge Geschich­te der Nicht-Erin­ne­rung rech­ter Taten, des Nicht-Zuhö­rens, wenn es um die Geschich­ten Betrof­fe­ner geht und der Nicht-Auf­klä­rung von Anschlä­gen. Eine umfas­sen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit struk­tu­rel­lem Ras­sis­mus und sei­nen poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Impli­ka­tio­nen ist wei­ter­hin aus­ste­hend, glei­cher­ma­ßen die Rol­le von Poli­tik und Behör­den. Ras­sis­mus und rech­te Gewalt wer­den auch heu­te noch weit­ge­hend aus der all­ge­mei­nen deut­schen Geschichts­schrei­bung aus­ge­klam­mert, eben­falls die Aus­wir­kun­gen die­ser Taten auf Betrof­fe­ne rech­ter Gewalt. Doch wie kann eine Erin­ne­rungs­po­li­tik aus­se­hen, die die­se Geschich­ten erzählt, sie doku­men­tiert und dadurch sicht­bar macht?

Zahl­rei­che Ange­hö­ri­ge und Initia­ti­ven leis­ten seit Jahr­zehn­ten uner­müd­li­che Arbeit, damit die Geschich­ten Betrof­fe­ner gehört und Teil des deut­schen Erin­ne­rungs­nar­ra­tivs wer­den. Sie for­dern, wie die Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau es immer wie­der betont «Erin­ne­rung, Gerech­tig­keit, Auf­klä­rung und Kon­se­quen­zen.»[2] Der fol­gen­de Bei­trag setzt sich mit der Kon­ti­nui­tät rech­ter Gewalt und der Nicht-Erin­ne­rung im offi­zi­el­len Nar­ra­tiv aus­ein­an­der, weist aber auch auf die Arbeit der­je­ni­gen hin, die ver­su­chen die­se Geschichts­schrei­bung zu verändern.

Den voll­stän­di­gen Arti­kel fin­det ihr auf der Web­site der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung.

Er erscheint außer­dem als Teil des Sam­mel­ban­des: Erin­ne­rungs­kämp­fe. Neue deut­sche Identität(en), neu­es deut­sches Geschichts­be­wusst­sein, Her­aus­ge­ge­ben von Jür­gen Zim­me­rer
Das Buch erscheint am 5. Sep­tem­ber 2023 im Reclam Verlag.

Bericht eines russischen Genossen: „Wie ich Antifa wurde“

Van­ja „Kno­chen­bre­cher“ Chu­t­or­skij und allen getö­te­ten Antifaschist*innen gewidmet

Im Jahr 2020 wur­de das Wort „Anti­fa“ zu einem hei­ßen The­ma. Im Som­mer ver­sprach US-Prä­si­dent Donald Trump, die Anti­fa zu ver­bie­ten, die er beschul­dig­te, Unru­hen im Land zu orga­ni­sie­ren. Die inter­na­tio­na­len Medi­en beeil­ten sich, den in Ver­ges­sen­heit gera­te­nen Begriff zu erklä­ren. Im Herbst erin­ner­te man sich in Russ­land an die Antifaschist*innen. Am 1. Sep­tem­ber ver­starb Alek­sej „Sokra­tes“ Sutu­ga in Mos­kau nach einem Kampf. Am 16. Novem­ber jähr­te sich die Ermor­dung von Van­ja Kno­chen­bre­cher zum elf­ten Mal. Ich habe nie über ihn geschrie­ben, obwohl wir der­sel­ben Gang angehörten.

Mit die­sem Text möch­te ich unse­ren getö­te­ten Genoss*innen Tri­but zol­len und ihr Andenken ehren. Es ist an der Zeit, die Gespens­ter der Ver­gan­gen­heit wie­der auf­er­ste­hen zu las­sen. Es ist an der Zeit, sich an die Anti­fa zu erin­nern. Con­ti­nue rea­ding „Bericht eines rus­si­schen Genos­sen: „Wie ich Anti­fa wurde““