25.2.2004: Warum wurde der Mord an Mehmet Turgut als Teil der NSU-Mordserie lange unterschlagen?

Gedenk­ort für den am 25. Febru­ar ermor­de­ten Döner-Buden-Mit­ar­bei­ter Meh­met Tur­gut am Neu­dier­kower Weg in Rostock

In Geden­ken an Meh­met Tur­gut, der hier am 25. Febru­ar 2004 dem men­schen­ver­ach­ten­den, rechts­extre­mis­ti­schen Ter­ror einer bun­des­wei­ten Mord­se­rie zum Opfer fiel.“ Gedenk­plat­te der Stadt Ros­tock, eröff­net am 25.2.2014

Vor zwanzig Jahren

Am 25. Febru­ar 2004 wur­de Meh­met Tur­gut in Ros­tock-Toi­ten­win­kel in einem Döne­r­im­biss erschos­sen. Der oder die Täter*innen hat­ten den Stand kurz nach der Öff­nung zwi­schen 10.10 Uhr und 10.20 Uhr durch die Sei­ten­tü­re betre­ten, Tur­gut wahr­schein­lich gezwun­gen sich auf den Boden zu legen und ihn hin­ge­rich­tet. Der eigent­li­che Betrei­ber des Stan­des, Hay­dar A., hat­te sich an die­sem Mor­gen ver­spä­tet und fand sei­nen Mit­ar­bei­ter gegen 10.20 Uhr — noch lebend — im Imbiss­stand. Wie­der­be­le­bungs­ver­su­che schei­ter­ten und die Kri­mi­nal­po­li­zei in Ros­tock rich­te­te eine erwei­ter­te Mord­kom­mis­si­on ein, die die Ermitt­lun­gen auf­nahm. In den Tagen nach dem Mord infor­mier­ten die Nord­deut­schen Neu­es­ten Nach­rich­ten (NNN) sowie die Ros­to­cker-Zei­tung die Öffent­lich­keit: Die Ros­to­cker-Zei­tung ver­öf­fent­lich­te die Ver­mu­tung einer Bewoh­ne­rin, dass „sozia­le Kon­flik­te im Stadt­teil“ für die Gewalt­tat ver­ant­wort­lich sei­en. (26.2.2004) Die NNN berich­te­ten am Tag nach dem Mord, dass kei­ne Ein­zel­hei­ten zum Tat­her­gang oder Motiv bekannt sei­en. (26.2.2004) Als Todes­ur­sa­che wur­den jedoch Mes­ser­sti­che oder Schlä­ge ver­mu­tet. (Bild-Zei­tung v. 26.2.2004 / Ost­see­zei­tung v. 26.2.2004) Die Aus­ga­be der Bild-Zei­tung Ros­tock schrieb drei Tage nach dem Mord davon, dass in Ros­tock-Toi­ten­win­kel der „sym­pa­thi­sche Typ (…) unweit der Post ersto­chen“ wor­den sei. (28.2.2004)
Wahr­schein­lich war den Ermittler*innen selbst nicht sofort klar, dass das Opfer erschos­sen wor­den war, da die Täter ihn zuerst gezwun­gen hat­ten sich hin­zu­le­gen, bevor sie ihn hin­rich­te­ten, so Rechts­an­walt Har­dy Lan­ger in sei­nem Plä­doy­er im NSU-Pro­zess vor dem OLG Mün­chen im Dezem­ber 2017, in dem er die Fami­lie Tur­gut als Nebenkläger*innen ver­trat. Drei Tage nach dem Mord ver­öf­fent­lich­te die loka­le Pres­se ein Foto von Meh­met Tur­gut. (NNN v. 28.2.2004) Die Kri­po Ros­tock such­te nach Hin­wei­sen zur Iden­ti­tät des Opfers. Anschei­nend war die­se noch nicht geklärt. Eine Woche nach dem Mord wur­de bestä­tigt, dass eine Obduk­ti­on durch­ge­führt wor­den war und tat­säch­lich ein Ver­bre­chen vor­lag. Der Zei­tungs­text erwähn­te, dass „Ein­zel­hei­ten dazu“ nicht mit­ge­teilt wür­den, aber nicht war­um. (NNN v. 4.3.2004) Denk­bar hier, dass die For­mu­lie­rung dar­auf hin­deu­te­te, dass die Beamt*innen die Infor­ma­ti­on zurück­hiel­ten, dass drei Pro­jek­ti­le des Kali­bers 7,65 mm und eine Patro­nen­hül­se gefun­den wor­den waren. Ob sie bereits zu die­sem Zeit­punkt ahn­ten, dass es sich um eine Fort­set­zung der Čes­ká-Serie han­del­te, ist nicht belegt.

Kein „ausländerfeindlicher Hintergrund“

Gedenk­ort für Meh­met Tur­gut in Ros­tock-Toi­ten­win­kel: Text auf der Dop­pel­bank am Neu­dier­kower Weg

Am 4. März 2004 schlug der Ermitt­lungs­lei­ter in Ros­tock, Bernd Scha­ren, bei einer Bespre­chung, bei der es um die Wei­ter­ga­be von Infor­ma­tio­nen an die tür­ki­sche Pres­se ging, fol­gen­de For­mu­lie­rung vor: „Ein aus­län­der­feind­li­cher Hin­ter­grund kann der­zeit aus­ge­schlos­sen wer­den.“ (Par­la­men­ta­ri­scher Unter­su­chungs­aus­schuss Meck­len­burg-Vor­pom­mern zum NSU (PUA MV), S. 569)1 Eben die­se wur­de dann vom Pres­se­spre­cher der Kri­mi­nal­po­li­zei­di­rek­ti­on Ros­tock, Vol­ker Wer­ner, auf­ge­grif­fen, als die­ser nach einem Gespräch eine Pres­se­mit­tei­lung (PM) in Form einer E‑Mail an Asgar Adeh, einen Kor­re­spon­den­ten der tür­ki­schen Zei­tung Hür­ri­y­et, über­sand­te, mit der Bit­te fol­gen­den Text zu ver­öf­fent­li­chen: „Die Ros­to­cker Poli­zei bit­tet die Bevöl­ke­rung um Mit­hil­fe bei der Auf­klä­rung einer Straf­tat. In den Vor­mit­tags­stun­den des 25. 02.2004 töte­ten unbe­kann­te Täter in Ros­tock (…) in einem Döner-Imbiss den abge­bil­de­ten tür­ki­schen Staats­bür­ger TURGUT. Ein aus­län­der­feind­li­cher Hin­ter­grund kann der­zeit aus­ge­schlos­sen wer­den. Nach bis­her vor­lie­gen­den Erkennt­nis­sen reis­te TURGUT seit 1994 mehr­fach ille­gal nach Deutsch­land ein und war hier mit Unter­bre­chun­gen in ver­schie­de­nen Orten auf­häl­tig.“ (PM KPI Ros­tock v. 9.3.2004) Die Fest­stel­lung, dass „ein aus­län­der­feind­li­cher Hin­ter­grund (…) der­zeit aus­ge­schlos­sen wer­den“ kön­ne, muss­te zu einem noch so frü­hen Zeit­punkt der Ermitt­lun­gen mehr als ver­blüf­fen. Als der Ein­satz­lei­ter Scha­ren Ende Okto­ber 2013 in sei­ner Ver­neh­mung vor dem OLG Mün­chen dar­auf ange­spro­chen wur­de, berief er sich auf münd­li­che Bespre­chun­gen mit der Staats­an­walt­schaft, dem LKA, dem Staats­schutz und – inter­es­san­ter­wei­se — dem Lan­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz (LfV).2 Aus die­ser Aus­sa­ge geht her­vor, dass die­se Stel­len unmit­tel­bar in die Mord­er­mitt­lun­gen mit­ein­be­zo­gen waren. Doch auch sie hat­ten nach zwei Wochen kei­ne Erkennt­nis­se, die erlaub­ten, einen ras­sis­ti­schen Hin­ter­grund in der Wei­se aus­zu­schlie­ßen, wie es in der zitier­ten Pres­se­mit­tei­lung der Poli­zei Ros­tock gesche­hen war. 

Anschlagserie auf Asia- und Dönerbuden

Das spiel­te sich alles vor dem Hin­ter­grund einer sich zeit­gleich ereig­nen­den nazis­ti­schen Anschlags­se­rie gegen die Asia- und Döner-Imbis­se im Nach­bar­bun­des­land Bran­den­burg. Für die Zeit zwi­schen 2000 bis zum Febru­ar 2004 wur­den hier um die 50 Anschlä­ge regis­triert.3 In fast allen Fäl­len, in denen Täter ermit­telt wer­den konn­ten, han­del­te es sich um Ange­hö­ri­ge der ein­schlä­gi­gen Nazi­sze­ne. Exem­pla­risch hier die Grup­pie­rung „Frei­korps Havel­land“, die in der Zeit zwi­schen August 2003 bis Mai 2004 wenigs­tens 10 Brand­an­schlä­ge ver­üb­te, bevor die Poli­zei die­se Grup­pe fas­sen konn­te. Im August 2004 – mit­ten in der Ermitt­lun­gen im Mord­fall Tur­gut — wur­de gegen die Grup­pe durch den Bran­den­bur­ger Gene­ral­staats­an­walt, Erar­do Rau­ten­berg, unter dem Ver­dacht der Bil­dung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung ermit­telt.4 Ende Novem­ber 2004 wur­de dann unter die­sem Vor­wurf Ankla­ge erho­ben.5 Kurz vor Weih­nach­ten berich­te­te die Süd­deut­sche Zei­tung unter der Über­schrift: „Anschlä­ge auf Imbiss­bu­den / Zwölf Neo­na­zis in Bran­den­burg vor Gericht.“ (SZ v. 21.12.2004) Hier dräng­te sich der Zusam­men­hang zu Ros­tock förm­lich auf, denn auch Meh­met Tur­gut war ja in einer Imbiss­bu­de ermor­det wor­den. Doch für das Jahr 2004 ist für die in der Mord­sa­che Tur­gut ermit­teln­den Sicher­heits­be­hör­den nicht ein ein­zi­ger Beleg auf­find­bar, in der die ras­sis­ti­sche Anschlag­wel­le auf Imbiss­bu­den im benach­bar­ten Bran­den­burg in irgend­ei­ner Wei­se rezi­piert wur­den. Über­haupt gab es bis zur Selbst­ent­tar­nung des NSU Anfang Novem­ber 2011 in Bezug auf die Ermitt­lun­gen im Mord­fall Tur­gut für die Poli­zei in Ros­tock nicht ein ein­zi­ges Mal einen Grund, ein ras­sis­ti­sches Tat­mo­tiv auch nur in Betracht zu zie­hen. Exem­pla­risch dafür steht die Bot­schaft des Direk­tors des Lan­des­kri­mi­nal­am­tes Meck­len­burg-Vor­pom­mern (LKA), Ing­mar Wei­tem­ei­er, in einem Pres­se­ar­ti­kel in der Schwe­ri­ner Volks­zei­tung Mit­te März 2007. Basie­rend auch auf sei­nen Aus­sa­gen hieß es hier unmiss­ver­ständ­lich, zwar berei­te den Ermittler*innen „vor allem das Motiv des Seri­en­kil­lers“ immer noch Kopf­zer­bre­chen. Allein: „Einen rechts­extre­men und aus­län­der­feind­li­chen Hin­ter­grund schließt die Poli­zei längst aus. Aus den Taten kön­ne kein poli­ti­sches Kapi­tal geschla­gen wer­den.“ (PUA MV S. 577) Die­se Poli­zei­ar­beit wur­de in der Abschluss­dis­kus­si­on zum Bericht des PUA Mit­te Juni 2021 von dem Abge­ord­ne­ten Peter Rit­ter dahin­ge­hend bilan­ziert, dass man „durch inten­si­ves Akten­stu­di­um“ habe fest­stel­len müs­sen, dass „den Betrof­fe­nen, dem Umfeld Meh­met Tur­guts, (…) nicht zuge­hört“ wor­den sei. Rit­ter wei­ter: „Ihnen wur­de nicht geglaubt. In min­des­tens zehn Ver­neh­mun­gen wur­den die Beam­ten auf einen ras­sis­ti­schen Tat­hin­ter­grund hin­ge­wie­sen, das kön­nen wir aus den Akten nach­voll­zie­hen. Doch es pas­sier­te nichts. An kei­ner Stel­le wur­de nach­ge­hakt. Statt­des­sen schloss ein lei­ten­der Ermitt­ler eine Woche nach der Tat ein aus­län­der­feind­li­ches Motiv öffent­lich aus. Zudem wur­den ras­sis­ti­sche Vor­fäl­le im Umfeld des Imbiss­stan­des aus dem Jahr 1998 in den Ermitt­lungs­ar­bei­ten igno­riert.“6 (Sie­he auch die Dar­stel­lung in: PUA MV S. 58182)

Der Mord von Rostock als Teil der Česká-Morde

Zwei Wochen nach dem Mord an Meh­met Tur­gut in Ros­tock, am 11. März, bestä­tig­te das Bun­des­kri­mi­nal­amt (BKA), dass die glei­che Čes­ká ver­wen­det wor­den war, wie bei den ande­ren vier Mor­den. Die Poli­zei wuss­te nun, dass die Mord­se­rie fort­ge­setzt wor­den war. Der jüngs­te Mord davor war der an Habil Kılıç am 29. August 2001 in Mün­chen. Etwas über ein Jahr spä­ter, Anfang Okto­ber 2002, hat­te das Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken (Nürn­berg) die mit einer Čes­ká-Pis­to­le ver­üb­ten „Mor­de an tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in Nürn­berg, Ham­burg und Mün­chen“ erst­mals als Serie publik gemacht. Hier stand die Mit­tei­lung zu lesen, dass „auf­grund des zen­tra­len Schuss­waf­fen­ver­gleichs beim Bun­des­kri­mi­nal­amt Wies­ba­den mit den am Tat­ort auf­ge­fun­de­nen Pro­jek­ti­len (…) zwei­fels­frei fest[stehe], dass sowohl bei den Mor­den in Nürn­berg sowie auch in Mün­chen und Ham­burg die glei­che Tat­waf­fe, eine Pis­to­le vom Kal[iber] 7.65, ver­wen­det wor­den ist.“ Kurz: Das war damals von den Ermitt­lern an die Pres­se wei­ter­ge­ge­ben wor­den. Genau das aber wur­de in Ros­tock unter­las­sen. Evi­dent hier: Von Sei­ten der Poli­zei, hier die beim Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken ange­sie­del­te „Soko Halb­mond“, lie­fen die Ermitt­lun­gen zu die­ser Serie seit jener letz­ten Pres­se­er­klä­rung von Anfang Okto­ber 2002 nur noch auf Spar­flam­me.7 Die­se Situa­ti­on wird an einer erhel­len­den Aus­sa­ge des seit dem ers­ten Tötungs­de­likt an Enver Şimşek ermit­teln­den Poli­zei­be­am­ten Albert Vöge­ler aus Nürn­berg vor dem Land­tag in Meck­len­burg-Vor­pom­mern deut­lich: „Zu die­sem Zeit­punkt war ich allei­ne mit der gan­zen Serie beschäf­tigt bezie­hungs­wei­se habe das mehr ver­wal­tet. Gro­ße Ermitt­lun­gen kann man mit einem Mann nicht machen. Und des­we­gen war der Wunsch ans BKA, dass sie jetzt über­neh­men soll­ten.“ (PUA MV, S. 229)

Kla­rer als Vöge­ler das zum Aus­druck brach­te – ich war „allei­ne mit der gan­zen Serie beschäf­tigt“– kann man die am Boden lie­gen­de Poli­zei­ar­beit zu der im Febru­ar 2004 fort­ge­setz­ten Mord­se­rie nicht bilanzieren.

Nun waren die Mör­der 30 Mona­te spä­ter zurück­ge­kehrt und schlu­gen 670 Kilo­me­ter Luft­li­nie von Mün­chen ent­fernt erneut zu, und setz­ten so die Mord­se­rie fort.

Was passierte nun?

Der Ers­te Poli­zei­haupt­kom­mis­sar (EHK), Ermitt­lungs­lei­ter Scha­ren, erin­ner­te sich 15 Jah­re spä­ter in sei­ner Aus­sa­ge vor dem NSU-PUA MV dar­an, dass die Tat­sa­che, dass es sich bei der Ermor­dung von Meh­met Tur­gut um eine Tat im Rah­men einer Mord­se­rie gehan­delt habe, sei­tens der Kri­mi­nal­po­li­zei als ein „entscheidende[r] Wen­de­punkt“ im Ermitt­lungs­ver­fah­ren ange­se­hen wor­den sei, denn vor­her habe man es als ein „nor­ma­les Tötungs­de­likt“ ange­se­hen. „Bis dahin hät­ten sie gedacht, es sei eine Ein­zel­tat, ab dann sei bekannt gewe­sen, es hand­le sich um eine bun­des­wei­te Tötungs­se­rie, das LKA habe ange­ru­fen. Kur­ze Zeit spä­ter habe er einen Anruf des ehe­ma­li­gen Lei­ters der Soko Halb­mond, (Albert) Vöge­ler, bekom­men. Die Soko Halb­mond sei ja zu dem Zeit­punkt schon ein­ge­stellt gewe­sen, Vöge­ler habe die Mög­lich­keit gese­hen, die Ermitt­lun­gen wei­ter­zu­füh­ren.“8 Die in der Sache ermit­teln­de Staats­an­wäl­tin Kers­tin Grimm wur­de einen Tag spä­ter, am 12. März 2004 durch einen Anruf von EHK Scha­ren dar­über infor­miert, dass die Tat­waf­fe iden­ti­fi­ziert wor­den sei, und „die­se Čes­ká 83 bereits in vier wei­te­ren Mord­fäl­len in den Jah­ren von 2000 bis 2001 im gesam­ten Bun­des­ge­biet ver­wandt wor­den“ sei. (PUA MV, S. 108) Als sie davon erfah­ren habe, dass der Mord an Tur­gut Teil einer bun­des­wei­ten Mord­se­rie sei, „sei sie aus allen Wol­ken gefal­len. Sie habe sich sofort mit Herrn Sch(aren) getrof­fen und das wei­te­re Vor­ge­hen abge­stimmt. Dann soll­te die ‚Soko Halb­mond‘ ihre Arbeit wie­der auf­neh­men. (…) Am 17.03.2004 sei­en die Ermitt­ler K. und Vöge­ler aus Bay­ern nach Ros­tock gekommen.“
Doch eben das, was sich für die Ermittler*innen in Ros­tock in ihrer Erin­ne­rung als ein „ent­schei­den­der Wen­de­punkt“ dar­stell­te, ein Hin­weis bei dem die Staats­an­wäl­tin „aus allen Wol­ken“ gefal­len sein will, wur­de in der Fol­ge nicht an die Öffent­lich­keit wei­ter­ge­ge­ben. Staats­an­wäl­tin Grimm erin­ner­te sich in ihrer Aus­sa­ge dann noch dar­an, dass man bespro­chen habe, „dass es sinn­voll sei, wenn die Mord­se­rie in die Hand einer ein­zi­gen Staats­an­walt­schaft gelegt wür­de. Es sei an Bay­ern gedacht wor­den, es habe vie­le Indi­ka­tio­nen für Orga­ni­sier­te Kri­mi­na­li­tät gege­ben, das gin­ge nicht dezen­tral. Das sei aber abge­lehnt wor­den.“ Als Begrün­dung habe man aus­ge­führt, „dass es kei­nen Sach­zu­sam­men­hang gäbe, das kön­ne man sehr wohl regio­nal machen“, habe es gehei­ßen, wobei sie „die Ableh­nung der Über­nah­me durch die Staats­an­walt­schaft Fürth (die zu die­sem Zeit­punkt in den vor­an­ge­gan­gen vier Mord­fäl­len Şimşek, Özüd­oğru, Taş­köprü und Kılıç ermit­tel­te) sehr ver­wun­dert“ habe.10

Lan­ger Rede kur­zer Sinn: Es soll­te bis zum sechs­ten Mord an İsm­ail Yaşar am 9. Juni 2005 in Nürn­berg dau­ern, bis die bun­des­wei­te Öffent­lich­keit vom Mord an Meh­met Tur­gut als Teil der Mord­se­rie erfuhr. Nach­dem die Nürn­ber­ger Nach­rich­ten über den Mord an Yaşar zunächst als fünf­tem der Serie berich­tet hat­ten, infor­mier­te die Poli­zei die Öffent­lich­keit in einer Pres­se­mit­tei­lung über den, wie es hieß, „Tat­zu­sam­men­hang mit wei­te­ren Tötungs­de­lik­ten.“ Dar­in stand zu lesen: „Seit kur­zem muss auch der Mord an Yunus TURGUT (25) am Vor­mit­tag des 25.02.2004 in Ros­tock zu die­ser Serie gezählt wer­den. T. war Ver­käu­fer in einem Döner­stand. Auch hier besteht Über­ein­stim­mung hin­sicht­lich der ver­wen­de­ten Waf­fe.“11

Rich­tig gele­sen: Durch die Mit­te Juni 2005 wahr­heits­wid­rig in Anschlag gebrach­te For­mu­lie­rung „seit kur­zem muss auch der Mord an Yunus TURGUT“ hat sich der Pres­se­spre­cher des Poli­zei­prä­si­di­ums Mit­tel­fran­ken ein­fach eines rhe­to­ri­schen Tricks bedient: Es ist absurd einen zeit­li­chen Abstand von 16. Mona­ten in die For­mu­lie­rung „… vor kur­zem“ zusam­men zu kür­zen. Hier geht es dar­um, zu kaschie­ren, dass eben die­ser Mord als Teil einer seit dem Sep­tem­ber 2000 in der Bun­des­re­pu­blik anhal­ten­den Mord­se­rie war, der von der Poli­zei gegen­über der Öffent­lich­keit für 16 Mona­te unter­schla­gen wor­den war. 

Von dem „Netz­werk von Kame­ra­den“, als der sich der NSU selbst bezeich­ne­te, wur­de das nicht ver­ges­sen. Als das Mit­glied des Kern­tri­os des NSU, Bea­te Zsch­ä­pe, nach der Selbst­ent­tar­nung und Selbst­mord der bei­den ande­ren Mör­der Anfang Novem­ber 2011 das soge­nann­te „Paulchen-Panther“-Bekennervideo ver­brei­te­te, wur­den bis auf Meh­met Tur­gut zu allen Mord­op­fern Fotos und auf den jewei­li­gen Mord­an­schlag bezo­ge­ne fak­si­mi­lier­te Pres­se­ar­ti­kel doku­men­tiert. Doch eben die­ser Mord tauch­te in der Pres­se für 16 Mona­te gar nicht und auch danach nie­mals pro­mi­nent als Teil der Serie auf. Neben­kla­ge­an­walt Har­dy Lan­ger führ­te hier aus, wie sich die Mör­der dann behal­fen: „Auf­fäl­lig anders – im Ver­gleich zu den übri­gen Čes­ká-Mord­ta­ten – ist das Feh­len jeg­li­cher Aus­schnit­te aus Zei­tun­gen zu die­sem Ereig­nis. Weder wur­den sol­che in der Früh­lings­stra­ße 26 (in Zwi­ckau) gefun­den, noch sind sol­che im sog. Beken­ner­vi­deo ver­ar­bei­tet. (…). Die dort im Video in der Schluß­fas­sung (….) unter der sog. ‚Deutsch­land­tour‘ zum fünf­ten Mord neben dem Foto von Meh­met Tur­gut ein­ge­stell­te Zei­tungs­über­schrift ‚Rät­sel um Mor­de‘ ent­stammt – offen­bar in Erman­ge­lung einer ‚pas­sen­den‘ Bericht­erstat­tung zum Ros­to­cker Mord – einem Arti­kel der ‚Nürn­ber­ger Nach­rich­ten‘ vom 10.11.2001 zu den ers­ten vier Mord­op­fern (… Der Unter­ti­tel: ‚Bereits vier Blut­ta­ten bekannt‘ ist im sog. Beken­ner­vi­deo der­art abge­deckt, daß nur das Wort ‚Blut­ta­ten‘ sicht­bar ist.).“

Kein Thema im Bundeskanzleramt?

Mit dem Ende Febru­ar 2004 in Ros­tock ver­üb­ten fünf­ten Mord der Čes­ká-Serie for­der­te eine Ban­de die Insti­tu­tio­nen des Sicher­heits­ap­pa­rats her­aus. Schwer vor­stell­bar, dass hier bei den Ver­ant­wort­li­chen nicht alle Warn­lam­pen ange­gan­gen sein sol­len: „Das muss­te auf­fal­len“, mut­maß­te der in den Jah­ren 1973 bis 1982 als Abtei­lungs­lei­ter im Bun­des­kanz­ler­amt täti­ge Sozi­al­de­mo­krat Albrecht Mül­ler kurz nach der Selbst­ent­tar­nung des NSU im Novem­ber 2011. Basie­rend auf sei­nen Arbeits­er­fah­run­gen in der werk­täg­li­chen Lage­be­spre­chung zur inne­ren Sicher­heit im Land, wies Mül­ler drauf hin, dass es „nicht vor­stell­bar“ sei, dass der Kreis der zehn bis 15 Teilnehmer*innen der Lage­be­spre­chung, zu denen u.a. der Chef des Bun­des­kanz­ler­amts und der Regie­rungs­spre­cher gehö­ren, „nicht spä­tes­tens nach der Ermor­dung des fünf­ten Tür­ken mit der glei­chen Pis­to­le hät­te wis­sen wol­len, was da vor­geht. Das muss­te auf­fal­len.“12

Was aber nun wirk­lich die Grün­de dafür sind, dass die Sicher­heits­be­hör­den nicht spä­tes­tens ab Mit­te März 2004 ange­fan­gen haben, zu der anhal­ten­den Mord­se­rie in aller Öffent­lich­keit Alarm zu schla­gen – sprich: die Öffent­lich­keit mit umfas­sen­den Infor­ma­tio­nen über den Stand der Din­ge, etwa die Über­nah­me der Ermitt­lun­gen durch das BKA und den Gene­ral­bun­des­an­walt, zu ver­sor­gen – ist bis heu­te unbe­kannt. Weder in den PUAs im Bun­des­tag ( NSU-PUA I 2014) noch in Schwe­rin (PUA MV 2021), auch nicht in dem zwi­schen 2013 – 2018 vor dem OLG in Mün­chen durch­ge­führ­ten Straf­ver­fah­ren wur­den die betref­fen­den Zeug*innen aus dem Sicher­heits­ap­pa­rat danach gefragt. 

Erinnern an den Tod von Mehmet Turgut

Die Stadt Ros­tock hat am 25. Febru­ar 2014 unter ande­rem im Bei­sein der Brü­der des Ermor­de­ten, Mus­ta­fa und Yunus Tur­gut, des Ober­bür­ger­meis­ters Roland Meth­ling, des Bot­schaf­ters der Repu­blik Tür­kei in Deutsch­land, Hüsey­in Avni Kars­lio­g­lu, sowie der Ombuds­frau der Bun­des­re­gie­rung für die Hin­ter­blie­be­nen der NSU-Opfer, Prof. Bar­ba­ra John, am Neu­dier­kower Weg eine Gedenk­plat­te für Meh­met Tur­gut ein­ge­weiht, der, so die Inschrift, „einer bun­des­wei­ten Mord­se­rie zum Opfer fiel“13 Der expli­zi­te Hin­weis auf die Mord­se­rie steht bis­lang ein­zig in den Mahn­ma­len für die Opfer des NSU quer durch die gan­ze Bun­des­re­pu­blik. Doch aus­ge­rech­net hier ist das aus der oben dar­ge­leg­ten Beschrei­bung unprä­zi­se ver­merkt: Denn gegen­über der Öffent­lich­keit exis­tier­te für die Poli­zei in der Zeit zwi­schen dem 11. März 2004 bis zum 10. Juni 2005 die Ermor­dung von Meh­met Tugut gar nicht als Teil einer Mord­se­rie. Und das obwohl sie es bes­ser wuss­te. Auch an die­se ver­deck­te Poli­zei­pra­xis soll bei dem nun­mehr anste­hen­den 20. Jah­res­tag der Ermor­dung von Meh­met Tur­gut erin­nert werden. 

1 LT Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Beschluss­emp­feh­lung und Zwi­schen­be­richt des 2. PUA zur Auf­klä­rung der NSU-Akti­vi­tä­ten in Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Drs 76211 vom 2.6.2021URL: https://​www​.land​tag​-mv​.de/​f​i​l​e​a​d​m​i​n​/​m​e​d​i​a​/​D​o​k​u​m​e​n​t​e​/​P​a​r​l​a​m​e​n​t​s​d​o​k​u​m​e​n​t​e​/​D​r​u​c​k​s​a​c​h​e​n​/​7​_​W​a​h​l​p​e​r​i​o​d​e​/​D​0​7​-​6​0​0​0​/​D​r​s​0​7​-​6​2​1​1​.​pdf

3Opfer­per­spek­ti­ve Bran­den­burg, Ras­sis­ti­sche Anschlä­ge gegen Imbis­se 2000 – 2004 (Doku­men­ta­ti­on Febru­ar 2005). URL: https://www.opferperspektive.de/aktuelles/rassistische-anschlaege-gegen-imbisse-2000–2004

4AM, Neo­na­zis unter Ter­ror­ver­dacht / Der Bran­den­bur­ger Gene­ral­staats­an­walt ermit­telt gegen eine Jugend­grup­pe, die von Aus­län­dern betrie­be­ne Imbis­se ange­zün­det hat. Der Ver­dacht: Bil­dung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung, in: taz vom 20.8.2004, S. 1 URL: https://​taz​.de/​N​e​o​n​a​z​i​s​-​u​n​t​e​r​-​T​e​r​r​o​r​v​e​r​d​a​c​h​t​/​!​7​1​0​0​32/

5 Dani­el Schulz, Rech­ter Ter­ror mit Schrift­füh­rer und Kas­sie­rer / West­lich von Ber­lin woll­te eine Grup­pe Jugend­li­cher durch regel­mä­ßi­ge Brand­an­schlä­ge sämt­li­che Aus­län­der aus ihrer Stadt ver­trei­ben. Die Staats­an­walt­schaft hat Ankla­ge wegen Bil­dung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung erho­ben, in: taz vom 25.11.2004, URL: https://​taz​.de/​R​e​c​h​t​e​r​-​T​e​r​r​o​r​-​m​i​t​-​S​c​h​r​i​f​t​f​u​e​h​r​e​r​-​u​n​d​-​K​a​s​s​i​e​r​e​r​/​!​6​6​9​7​66/

6 Ple­nar­pro­to­koll Land­tag MV 7124 v. 9.6.2021, S. 106, URL: https://​www​.land​tag​-mv​.de/​f​i​l​e​a​d​m​i​n​/​m​e​d​i​a​/​D​o​k​u​m​e​n​t​e​/​P​a​r​l​a​m​e​n​t​s​d​o​k​u​m​e​n​t​e​/​P​l​e​n​a​r​p​r​o​t​o​k​o​l​l​e​/​7​_​W​a​h​l​p​e​r​i​o​d​e​/​P​l​P​r​0​7​-​0​1​2​4​.​pdf

7POL-MFR: (1872) Mor­de an tür­ki­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in Nürn­berg, Ham­burg und Mün­chen hier: Aktu­el­ler Ermitt­lungs­stand 08.10.2002 mit Bild­ver­öf­fent­li­chun­gen, URL: https://​www​.pres​se​por​tal​.de/​b​l​a​u​l​i​c​h​t​/​p​m​/​6​0​1​3​/​3​8​7​608

8 nsu-watch, Zeu­ge Bernd Scha­ren, Ers­ter Poli­zei­haupt­kom­mis­sar a.D. ‚(…) NSU-UA Meck­len­burg-Vor­pom­mern am 29.11.2019, URL: https://www.nsu-watch.info/2019/12/also-ich-brauche-mich-fuer-gar-nichts-entschuldigen-die-sitzung-des-nsu-untersuchungsausschusses-mecklenburg-vorpommern-am-29–11-2019/

9 https://www.nsu-watch.info/2019/12/keinerlei-rechtsradikales-schmierentum-keine-bekennerbriefe-die-sitzung-des-nsu-untersuchungsausschusses-mecklenburg-vorpommern-am-06–12-2019/

10 https://www.nsu-watch.info/2019/12/keinerlei-rechtsradikales-schmierentum-keine-bekennerbriefe-die-sitzung-des-nsu-untersuchungsausschusses-mecklenburg-vorpommern-am-06–12-2019/

11 POL-MFR (847), Döner­stand­be­sit­zer am 09.06.2005 in Nürn­berg erschos­sen hier: Tat­zu­sam­men­hang mit wei­te­ren Tötungs­de­lik­ten und Fahn­dungs­auf­ruf. Pres­se­stel­le vom 10.6.2005. URL: https://​www​.pres​se​por​tal​.de/ blaulicht/pm/6013/689016; zu die­ser Zeit galt als Vor­na­me es Ermor­de­ten noch der Vor­na­me sei­nes Bru­ders Yunus

12 Albrecht Mül­ler, Ich glau­be nichts von dem, was uns die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen über die Bekämp­fung des Rechts­ter­ro­ris­mus erzäh­len, auf: nach​denk​sei​ten​.de vom 22.11.2011, URL: http://​www​.nach​denk​sei​ten​.de/​?​p​=​1​1​383

13 Stadt Ros­tock, Tafeln am Gedenk­ort für Meh­met Tur­gut mit Inschrif­ten in deut­scher und tür­ki­scher Spra­che, PM vom 21.2.2014, URL: https://​rat​haus​.ros​tock​.de/​d​e​/​t​a​f​e​l​n​_​a​m​_​g​e​d​e​n​k​o​r​t​_​f​_​u​u​m​l​_​r​_​m​e​h​m​e​t​_​t​u​r​g​u​t​_​m​i​t​_​i​n​s​c​h​r​i​f​t​e​n​_​i​n​_​d​e​u​t​s​c​h​e​r​_​u​n​d​_​t​_​u​u​m​l​_​r​k​i​s​c​h​e​r​_​s​p​r​a​c​h​e​/​2​8​3​156