„In Gedenken an Mehmet Turgut, der hier am 25. Februar 2004 dem menschenverachtenden, rechtsextremistischen Terror einer bundesweiten Mordserie zum Opfer fiel.“ Gedenkplatte der Stadt Rostock, eröffnet am 25.2.2014
Vor zwanzig Jahren
Am 25. Februar 2004 wurde Mehmet Turgut in Rostock-Toitenwinkel in einem Dönerimbiss erschossen. Der oder die Täter*innen hatten den Stand kurz nach der Öffnung zwischen 10.10 Uhr und 10.20 Uhr durch die Seitentüre betreten, Turgut wahrscheinlich gezwungen sich auf den Boden zu legen und ihn hingerichtet. Der eigentliche Betreiber des Standes, Haydar A., hatte sich an diesem Morgen verspätet und fand seinen Mitarbeiter gegen 10.20 Uhr — noch lebend — im Imbissstand. Wiederbelebungsversuche scheiterten und die Kriminalpolizei in Rostock richtete eine erweiterte Mordkommission ein, die die Ermittlungen aufnahm. In den Tagen nach dem Mord informierten die Norddeutschen Neuesten Nachrichten (NNN) sowie die Rostocker-Zeitung die Öffentlichkeit: Die Rostocker-Zeitung veröffentlichte die Vermutung einer Bewohnerin, dass „soziale Konflikte im Stadtteil“ für die Gewalttat verantwortlich seien. (26.2.2004) Die NNN berichteten am Tag nach dem Mord, dass keine Einzelheiten zum Tathergang oder Motiv bekannt seien. (26.2.2004) Als Todesursache wurden jedoch Messerstiche oder Schläge vermutet. (Bild-Zeitung v. 26.2.2004 / Ostseezeitung v. 26.2.2004) Die Ausgabe der Bild-Zeitung Rostock schrieb drei Tage nach dem Mord davon, dass in Rostock-Toitenwinkel der „sympathische Typ (…) unweit der Post erstochen“ worden sei. (28.2.2004)
Wahrscheinlich war den Ermittler*innen selbst nicht sofort klar, dass das Opfer erschossen worden war, da die Täter ihn zuerst gezwungen hatten sich hinzulegen, bevor sie ihn hinrichteten, so Rechtsanwalt Hardy Langer in seinem Plädoyer im NSU-Prozess vor dem OLG München im Dezember 2017, in dem er die Familie Turgut als Nebenkläger*innen vertrat. Drei Tage nach dem Mord veröffentlichte die lokale Presse ein Foto von Mehmet Turgut. (NNN v. 28.2.2004) Die Kripo Rostock suchte nach Hinweisen zur Identität des Opfers. Anscheinend war diese noch nicht geklärt. Eine Woche nach dem Mord wurde bestätigt, dass eine Obduktion durchgeführt worden war und tatsächlich ein Verbrechen vorlag. Der Zeitungstext erwähnte, dass „Einzelheiten dazu“ nicht mitgeteilt würden, aber nicht warum. (NNN v. 4.3.2004) Denkbar hier, dass die Formulierung darauf hindeutete, dass die Beamt*innen die Information zurückhielten, dass drei Projektile des Kalibers 7,65 mm und eine Patronenhülse gefunden worden waren. Ob sie bereits zu diesem Zeitpunkt ahnten, dass es sich um eine Fortsetzung der Česká-Serie handelte, ist nicht belegt.
Kein „ausländerfeindlicher Hintergrund“
Am 4. März 2004 schlug der Ermittlungsleiter in Rostock, Bernd Scharen, bei einer Besprechung, bei der es um die Weitergabe von Informationen an die türkische Presse ging, folgende Formulierung vor: „Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden.“ (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern zum NSU (PUA MV), S. 569)1 Eben diese wurde dann vom Pressesprecher der Kriminalpolizeidirektion Rostock, Volker Werner, aufgegriffen, als dieser nach einem Gespräch eine Pressemitteilung (PM) in Form einer E‑Mail an Asgar Adeh, einen Korrespondenten der türkischen Zeitung Hürriyet, übersandte, mit der Bitte folgenden Text zu veröffentlichen: „Die Rostocker Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe bei der Aufklärung einer Straftat. In den Vormittagsstunden des 25. 02.2004 töteten unbekannte Täter in Rostock (…) in einem Döner-Imbiss den abgebildeten türkischen Staatsbürger TURGUT. Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden. Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen reiste TURGUT seit 1994 mehrfach illegal nach Deutschland ein und war hier mit Unterbrechungen in verschiedenen Orten aufhältig.“ (PM KPI Rostock v. 9.3.2004) Die Feststellung, dass „ein ausländerfeindlicher Hintergrund (…) derzeit ausgeschlossen werden“ könne, musste zu einem noch so frühen Zeitpunkt der Ermittlungen mehr als verblüffen. Als der Einsatzleiter Scharen Ende Oktober 2013 in seiner Vernehmung vor dem OLG München darauf angesprochen wurde, berief er sich auf mündliche Besprechungen mit der Staatsanwaltschaft, dem LKA, dem Staatsschutz und – interessanterweise — dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV).2 Aus dieser Aussage geht hervor, dass diese Stellen unmittelbar in die Mordermittlungen miteinbezogen waren. Doch auch sie hatten nach zwei Wochen keine Erkenntnisse, die erlaubten, einen rassistischen Hintergrund in der Weise auszuschließen, wie es in der zitierten Pressemitteilung der Polizei Rostock geschehen war.
Anschlagserie auf Asia- und Dönerbuden
Das spielte sich alles vor dem Hintergrund einer sich zeitgleich ereignenden nazistischen Anschlagsserie gegen die Asia- und Döner-Imbisse im Nachbarbundesland Brandenburg. Für die Zeit zwischen 2000 bis zum Februar 2004 wurden hier um die 50 Anschläge registriert.3 In fast allen Fällen, in denen Täter ermittelt werden konnten, handelte es sich um Angehörige der einschlägigen Naziszene. Exemplarisch hier die Gruppierung „Freikorps Havelland“, die in der Zeit zwischen August 2003 bis Mai 2004 wenigstens 10 Brandanschläge verübte, bevor die Polizei diese Gruppe fassen konnte. Im August 2004 – mitten in der Ermittlungen im Mordfall Turgut — wurde gegen die Gruppe durch den Brandenburger Generalstaatsanwalt, Erardo Rautenberg, unter dem Verdacht der Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt.4 Ende November 2004 wurde dann unter diesem Vorwurf Anklage erhoben.5 Kurz vor Weihnachten berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift: „Anschläge auf Imbissbuden / Zwölf Neonazis in Brandenburg vor Gericht.“ (SZ v. 21.12.2004) Hier drängte sich der Zusammenhang zu Rostock förmlich auf, denn auch Mehmet Turgut war ja in einer Imbissbude ermordet worden. Doch für das Jahr 2004 ist für die in der Mordsache Turgut ermittelnden Sicherheitsbehörden nicht ein einziger Beleg auffindbar, in der die rassistische Anschlagwelle auf Imbissbuden im benachbarten Brandenburg in irgendeiner Weise rezipiert wurden. Überhaupt gab es bis zur Selbstenttarnung des NSU Anfang November 2011 in Bezug auf die Ermittlungen im Mordfall Turgut für die Polizei in Rostock nicht ein einziges Mal einen Grund, ein rassistisches Tatmotiv auch nur in Betracht zu ziehen. Exemplarisch dafür steht die Botschaft des Direktors des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpommern (LKA), Ingmar Weitemeier, in einem Presseartikel in der Schweriner Volkszeitung Mitte März 2007. Basierend auch auf seinen Aussagen hieß es hier unmissverständlich, zwar bereite den Ermittler*innen „vor allem das Motiv des Serienkillers“ immer noch Kopfzerbrechen. Allein: „Einen rechtsextremen und ausländerfeindlichen Hintergrund schließt die Polizei längst aus. Aus den Taten könne kein politisches Kapital geschlagen werden.“ (PUA MV S. 577) Diese Polizeiarbeit wurde in der Abschlussdiskussion zum Bericht des PUA Mitte Juni 2021 von dem Abgeordneten Peter Ritter dahingehend bilanziert, dass man „durch intensives Aktenstudium“ habe feststellen müssen, dass „den Betroffenen, dem Umfeld Mehmet Turguts, (…) nicht zugehört“ worden sei. Ritter weiter: „Ihnen wurde nicht geglaubt. In mindestens zehn Vernehmungen wurden die Beamten auf einen rassistischen Tathintergrund hingewiesen, das können wir aus den Akten nachvollziehen. Doch es passierte nichts. An keiner Stelle wurde nachgehakt. Stattdessen schloss ein leitender Ermittler eine Woche nach der Tat ein ausländerfeindliches Motiv öffentlich aus. Zudem wurden rassistische Vorfälle im Umfeld des Imbissstandes aus dem Jahr 1998 in den Ermittlungsarbeiten ignoriert.“6 (Siehe auch die Darstellung in: PUA MV S. 581⁄82)
Der Mord von Rostock als Teil der Česká-Morde
Zwei Wochen nach dem Mord an Mehmet Turgut in Rostock, am 11. März, bestätigte das Bundeskriminalamt (BKA), dass die gleiche Česká verwendet worden war, wie bei den anderen vier Morden. Die Polizei wusste nun, dass die Mordserie fortgesetzt worden war. Der jüngste Mord davor war der an Habil Kılıç am 29. August 2001 in München. Etwas über ein Jahr später, Anfang Oktober 2002, hatte das Polizeipräsidium Mittelfranken (Nürnberg) die mit einer Česká-Pistole verübten „Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg, Hamburg und München“ erstmals als Serie publik gemacht. Hier stand die Mitteilung zu lesen, dass „aufgrund des zentralen Schusswaffenvergleichs beim Bundeskriminalamt Wiesbaden mit den am Tatort aufgefundenen Projektilen (…) zweifelsfrei fest[stehe], dass sowohl bei den Morden in Nürnberg sowie auch in München und Hamburg die gleiche Tatwaffe, eine Pistole vom Kal[iber] 7.65, verwendet worden ist.“ Kurz: Das war damals von den Ermittlern an die Presse weitergegeben worden. Genau das aber wurde in Rostock unterlassen. Evident hier: Von Seiten der Polizei, hier die beim Polizeipräsidium Mittelfranken angesiedelte „Soko Halbmond“, liefen die Ermittlungen zu dieser Serie seit jener letzten Presseerklärung von Anfang Oktober 2002 nur noch auf Sparflamme.7 Diese Situation wird an einer erhellenden Aussage des seit dem ersten Tötungsdelikt an Enver Şimşek ermittelnden Polizeibeamten Albert Vögeler aus Nürnberg vor dem Landtag in Mecklenburg-Vorpommern deutlich: „Zu diesem Zeitpunkt war ich alleine mit der ganzen Serie beschäftigt beziehungsweise habe das mehr verwaltet. Große Ermittlungen kann man mit einem Mann nicht machen. Und deswegen war der Wunsch ans BKA, dass sie jetzt übernehmen sollten.“ (PUA MV, S. 229)
Klarer als Vögeler das zum Ausdruck brachte – ich war „alleine mit der ganzen Serie beschäftigt“– kann man die am Boden liegende Polizeiarbeit zu der im Februar 2004 fortgesetzten Mordserie nicht bilanzieren.
Nun waren die Mörder 30 Monate später zurückgekehrt und schlugen 670 Kilometer Luftlinie von München entfernt erneut zu, und setzten so die Mordserie fort.
Was passierte nun?
Der Erste Polizeihauptkommissar (EHK), Ermittlungsleiter Scharen, erinnerte sich 15 Jahre später in seiner Aussage vor dem NSU-PUA MV daran, dass die Tatsache, dass es sich bei der Ermordung von Mehmet Turgut um eine Tat im Rahmen einer Mordserie gehandelt habe, seitens der Kriminalpolizei als ein „entscheidende[r] Wendepunkt“ im Ermittlungsverfahren angesehen worden sei, denn vorher habe man es als ein „normales Tötungsdelikt“ angesehen. „Bis dahin hätten sie gedacht, es sei eine Einzeltat, ab dann sei bekannt gewesen, es handle sich um eine bundesweite Tötungsserie, das LKA habe angerufen. Kurze Zeit später habe er einen Anruf des ehemaligen Leiters der Soko Halbmond, (Albert) Vögeler, bekommen. Die Soko Halbmond sei ja zu dem Zeitpunkt schon eingestellt gewesen, Vögeler habe die Möglichkeit gesehen, die Ermittlungen weiterzuführen.“8 Die in der Sache ermittelnde Staatsanwältin Kerstin Grimm wurde einen Tag später, am 12. März 2004 durch einen Anruf von EHK Scharen darüber informiert, dass die Tatwaffe identifiziert worden sei, und „diese Česká 83 bereits in vier weiteren Mordfällen in den Jahren von 2000 bis 2001 im gesamten Bundesgebiet verwandt worden“ sei. (PUA MV, S. 108) Als sie davon erfahren habe, dass der Mord an Turgut Teil einer bundesweiten Mordserie sei, „sei sie aus allen Wolken gefallen. Sie habe sich sofort mit Herrn Sch(aren) getroffen und das weitere Vorgehen abgestimmt. Dann sollte die ‚Soko Halbmond‘ ihre Arbeit wieder aufnehmen. (…) Am 17.03.2004 seien die Ermittler K. und Vögeler aus Bayern nach Rostock gekommen.“
Doch eben das, was sich für die Ermittler*innen in Rostock in ihrer Erinnerung als ein „entscheidender Wendepunkt“ darstellte, ein Hinweis bei dem die Staatsanwältin „aus allen Wolken“ gefallen sein will, wurde in der Folge nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben. Staatsanwältin Grimm erinnerte sich in ihrer Aussage dann noch daran, dass man besprochen habe, „dass es sinnvoll sei, wenn die Mordserie in die Hand einer einzigen Staatsanwaltschaft gelegt würde. Es sei an Bayern gedacht worden, es habe viele Indikationen für Organisierte Kriminalität gegeben, das ginge nicht dezentral. Das sei aber abgelehnt worden.“ Als Begründung habe man ausgeführt, „dass es keinen Sachzusammenhang gäbe, das könne man sehr wohl regional machen“, habe es geheißen, wobei sie „die Ablehnung der Übernahme durch die Staatsanwaltschaft Fürth (die zu diesem Zeitpunkt in den vorangegangen vier Mordfällen Şimşek, Özüdoğru, Taşköprü und Kılıç ermittelte) sehr verwundert“ habe.10
Langer Rede kurzer Sinn: Es sollte bis zum sechsten Mord an İsmail Yaşar am 9. Juni 2005 in Nürnberg dauern, bis die bundesweite Öffentlichkeit vom Mord an Mehmet Turgut als Teil der Mordserie erfuhr. Nachdem die Nürnberger Nachrichten über den Mord an Yaşar zunächst als fünftem der Serie berichtet hatten, informierte die Polizei die Öffentlichkeit in einer Pressemitteilung über den, wie es hieß, „Tatzusammenhang mit weiteren Tötungsdelikten.“ Darin stand zu lesen: „Seit kurzem muss auch der Mord an Yunus TURGUT (25) am Vormittag des 25.02.2004 in Rostock zu dieser Serie gezählt werden. T. war Verkäufer in einem Dönerstand. Auch hier besteht Übereinstimmung hinsichtlich der verwendeten Waffe.“11
Richtig gelesen: Durch die Mitte Juni 2005 wahrheitswidrig in Anschlag gebrachte Formulierung „seit kurzem muss auch der Mord an Yunus TURGUT“ hat sich der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelfranken einfach eines rhetorischen Tricks bedient: Es ist absurd einen zeitlichen Abstand von 16. Monaten in die Formulierung „… vor kurzem“ zusammen zu kürzen. Hier geht es darum, zu kaschieren, dass eben dieser Mord als Teil einer seit dem September 2000 in der Bundesrepublik anhaltenden Mordserie war, der von der Polizei gegenüber der Öffentlichkeit für 16 Monate unterschlagen worden war.
Von dem „Netzwerk von Kameraden“, als der sich der NSU selbst bezeichnete, wurde das nicht vergessen. Als das Mitglied des Kerntrios des NSU, Beate Zschäpe, nach der Selbstenttarnung und Selbstmord der beiden anderen Mörder Anfang November 2011 das sogenannte „Paulchen-Panther“-Bekennervideo verbreitete, wurden bis auf Mehmet Turgut zu allen Mordopfern Fotos und auf den jeweiligen Mordanschlag bezogene faksimilierte Presseartikel dokumentiert. Doch eben dieser Mord tauchte in der Presse für 16 Monate gar nicht und auch danach niemals prominent als Teil der Serie auf. Nebenklageanwalt Hardy Langer führte hier aus, wie sich die Mörder dann behalfen: „Auffällig anders – im Vergleich zu den übrigen Česká-Mordtaten – ist das Fehlen jeglicher Ausschnitte aus Zeitungen zu diesem Ereignis. Weder wurden solche in der Frühlingsstraße 26 (in Zwickau) gefunden, noch sind solche im sog. Bekennervideo verarbeitet. (…). Die dort im Video in der Schlußfassung (….) unter der sog. ‚Deutschlandtour‘ zum fünften Mord neben dem Foto von Mehmet Turgut eingestellte Zeitungsüberschrift ‚Rätsel um Morde‘ entstammt – offenbar in Ermangelung einer ‚passenden‘ Berichterstattung zum Rostocker Mord – einem Artikel der ‚Nürnberger Nachrichten‘ vom 10.11.2001 zu den ersten vier Mordopfern (… Der Untertitel: ‚Bereits vier Bluttaten bekannt‘ ist im sog. Bekennervideo derart abgedeckt, daß nur das Wort ‚Bluttaten‘ sichtbar ist.).“
Kein Thema im Bundeskanzleramt?
Mit dem Ende Februar 2004 in Rostock verübten fünften Mord der Česká-Serie forderte eine Bande die Institutionen des Sicherheitsapparats heraus. Schwer vorstellbar, dass hier bei den Verantwortlichen nicht alle Warnlampen angegangen sein sollen: „Das musste auffallen“, mutmaßte der in den Jahren 1973 bis 1982 als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt tätige Sozialdemokrat Albrecht Müller kurz nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011. Basierend auf seinen Arbeitserfahrungen in der werktäglichen Lagebesprechung zur inneren Sicherheit im Land, wies Müller drauf hin, dass es „nicht vorstellbar“ sei, dass der Kreis der zehn bis 15 Teilnehmer*innen der Lagebesprechung, zu denen u.a. der Chef des Bundeskanzleramts und der Regierungssprecher gehören, „nicht spätestens nach der Ermordung des fünften Türken mit der gleichen Pistole hätte wissen wollen, was da vorgeht. Das musste auffallen.“12
Was aber nun wirklich die Gründe dafür sind, dass die Sicherheitsbehörden nicht spätestens ab Mitte März 2004 angefangen haben, zu der anhaltenden Mordserie in aller Öffentlichkeit Alarm zu schlagen – sprich: die Öffentlichkeit mit umfassenden Informationen über den Stand der Dinge, etwa die Übernahme der Ermittlungen durch das BKA und den Generalbundesanwalt, zu versorgen – ist bis heute unbekannt. Weder in den PUAs im Bundestag ( NSU-PUA I 2014) noch in Schwerin (PUA MV 2021), auch nicht in dem zwischen 2013 – 2018 vor dem OLG in München durchgeführten Strafverfahren wurden die betreffenden Zeug*innen aus dem Sicherheitsapparat danach gefragt.
Erinnern an den Tod von Mehmet Turgut
Die Stadt Rostock hat am 25. Februar 2014 unter anderem im Beisein der Brüder des Ermordeten, Mustafa und Yunus Turgut, des Oberbürgermeisters Roland Methling, des Botschafters der Republik Türkei in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu, sowie der Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Prof. Barbara John, am Neudierkower Weg eine Gedenkplatte für Mehmet Turgut eingeweiht, der, so die Inschrift, „einer bundesweiten Mordserie zum Opfer fiel“13 Der explizite Hinweis auf die Mordserie steht bislang einzig in den Mahnmalen für die Opfer des NSU quer durch die ganze Bundesrepublik. Doch ausgerechnet hier ist das aus der oben dargelegten Beschreibung unpräzise vermerkt: Denn gegenüber der Öffentlichkeit existierte für die Polizei in der Zeit zwischen dem 11. März 2004 bis zum 10. Juni 2005 die Ermordung von Mehmet Tugut gar nicht als Teil einer Mordserie. Und das obwohl sie es besser wusste. Auch an diese verdeckte Polizeipraxis soll bei dem nunmehr anstehenden 20. Jahrestag der Ermordung von Mehmet Turgut erinnert werden.
1 LT Mecklenburg-Vorpommern, Beschlussempfehlung und Zwischenbericht des 2. PUA zur Aufklärung der NSU-Aktivitäten in Mecklenburg-Vorpommern, Drs 7⁄6211 vom 2.6.2021URL: https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Parlamentsdokumente/Drucksachen/7_Wahlperiode/D07-6000/Drs07-6211.pdf
2 NSU Watch, Zeuge Bernd Scharen, OLG München 49. VHT vom 23.10.2013. URL: https://www.nsu-watch.info/2013/10/protokoll-49-verhandlungstag-23-oktober-2013/
3Opferperspektive Brandenburg, Rassistische Anschläge gegen Imbisse 2000 – 2004 (Dokumentation Februar 2005). URL: https://www.opferperspektive.de/aktuelles/rassistische-anschlaege-gegen-imbisse-2000–2004
4AM, Neonazis unter Terrorverdacht / Der Brandenburger Generalstaatsanwalt ermittelt gegen eine Jugendgruppe, die von Ausländern betriebene Imbisse angezündet hat. Der Verdacht: Bildung einer terroristischen Vereinigung, in: taz vom 20.8.2004, S. 1 URL: https://taz.de/Neonazis-unter-Terrorverdacht/!710032/
5 Daniel Schulz, Rechter Terror mit Schriftführer und Kassierer / Westlich von Berlin wollte eine Gruppe Jugendlicher durch regelmäßige Brandanschläge sämtliche Ausländer aus ihrer Stadt vertreiben. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung erhoben, in: taz vom 25.11.2004, URL: https://taz.de/Rechter-Terror-mit-Schriftfuehrer-und-Kassierer/!669766/
6 Plenarprotokoll Landtag MV 7⁄124 v. 9.6.2021, S. 106, URL: https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Parlamentsdokumente/Plenarprotokolle/7_Wahlperiode/PlPr07-0124.pdf
7POL-MFR: (1872) Morde an türkischen Staatsangehörigen in Nürnberg, Hamburg und München hier: Aktueller Ermittlungsstand 08.10.2002 mit Bildveröffentlichungen, URL: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6013/387608
8 nsu-watch, Zeuge Bernd Scharen, Erster Polizeihauptkommissar a.D. ‚(…) NSU-UA Mecklenburg-Vorpommern am 29.11.2019, URL: https://www.nsu-watch.info/2019/12/also-ich-brauche-mich-fuer-gar-nichts-entschuldigen-die-sitzung-des-nsu-untersuchungsausschusses-mecklenburg-vorpommern-am-29–11-2019/
9 https://www.nsu-watch.info/2019/12/keinerlei-rechtsradikales-schmierentum-keine-bekennerbriefe-die-sitzung-des-nsu-untersuchungsausschusses-mecklenburg-vorpommern-am-06–12-2019/
10 https://www.nsu-watch.info/2019/12/keinerlei-rechtsradikales-schmierentum-keine-bekennerbriefe-die-sitzung-des-nsu-untersuchungsausschusses-mecklenburg-vorpommern-am-06–12-2019/
11 POL-MFR (847), Dönerstandbesitzer am 09.06.2005 in Nürnberg erschossen hier: Tatzusammenhang mit weiteren Tötungsdelikten und Fahndungsaufruf. Pressestelle vom 10.6.2005. URL: https://www.presseportal.de/ blaulicht/pm/6013/689016; zu dieser Zeit galt als Vorname es Ermordeten noch der Vorname seines Bruders Yunus
12 Albrecht Müller, Ich glaube nichts von dem, was uns die politisch Verantwortlichen über die Bekämpfung des Rechtsterrorismus erzählen, auf: nachdenkseiten.de vom 22.11.2011, URL: http://www.nachdenkseiten.de/?p=11383
13 Stadt Rostock, Tafeln am Gedenkort für Mehmet Turgut mit Inschriften in deutscher und türkischer Sprache, PM vom 21.2.2014, URL: https://rathaus.rostock.de/de/tafeln_am_gedenkort_f_uuml_r_mehmet_turgut_mit_inschriften_in_deutscher_und_t_uuml_rkischer_sprache/283156