Gilead Rising: Verstörende Social-Media-Clips dokumentieren den Höllensturz der USA

Scho­ckie­ren­de State­ments zur staat­li­chen Gei­sel­nah­me von Frau­en in den USA: Pul­lup­s­Pas­ta­Po­li­tics Screenshot

Irgend­wie muss ich doch was falsch machen. Wenn ich mit den dicken Boo­mer-Fin­gern die Dut­zen­den und Hun­der­ten erschüt­tern­den, ver­stö­ren­den, bru­ta­len und empö­ren­den Clips aus den USA durch­swi­pe und aus dem Stau­nen und dem Hor­ror nicht mehr rauskomme.

Natür­lich weiß ich, dass durch mein Gebannt-sein von den Doku­men­ten des ent­fes­sel­ten Faschis­mus‘ im Land der unbe­grenz­ten Mög­lich­kei­ten, Algo­rith­men ansprin­gen, die mir immer mehr von die­sen Doku­men­ten des Grau­ens in die Time­line spülen.

Herstellung weißer Menschen

Nichts davon kann ich über­prü­fen, nicht die kur­zen Alarm- und Hil­fe­ru­fe aus Utah, Texas, Mis­sou­ri und Mon­ta­na, wo eine neue christ­lich-fun­da­men­ta­lis­ti­sche Legis­la­tur im Sin­ne der neu­en Macht­ha­ber schwan­ge­re Frau­en als Gei­seln nimmt, ihrer Grund- und Frei­heits­rech­te ent­klei­det oder gar Schwan­ge­re, die eine Fehl­ge­burt erlei­den, des Mor­des an einem Fötus anklagt und mit Gefäng­nis­stra­fen bis hin zur Todes­stra­fe bedroht. Ich weiß auch nicht viel dar­über, wer hin­ter Pul­lups Pas­ta Poli­tics steckt. Ich kann aber nur sagen, dass mei­ne Hän­de zit­tern und mir kal­te Schau­er des Ent­set­zens den Rücken her­un­ter­lau­fen, wenn die Front­per­son die­ses Accounts mir von den Aus­wir­kun­gen der neu­en Zeit in den USA erzählt und dass in Mis­sou­ri Geset­ze wie in Mar­gret Atwoods fik­ti­vem Staat „Gilead“ erlas­sen und recht­lo­se „Hand­maids“ unter mas­si­ver Straf­an­dro­hung zur Her­stel­lung wei­ßer Kin­der gefan­gen gehal­ten werden.

Lost in Bukeles Horrorknast

Oder die zahl­lo­sen Sze­nen ras­sis­ti­scher staat­li­cher Gewalt, bei denen wohl über­wie­gend ohne jede recht­li­che Grund­la­ge Men­schen durch Roll­kom­man­dos von Trumps Immi­gra­ti­on Con­trol Enforce­ment (ICE) oder gar dem FBI aus ihren Häu­sern, ihrem All­tag, in aller Öffent­lich­keit, vor den Augen ihrer Kin­der und eben auch zahl­lo­ser mit­fil­men­der Zeug*innen bru­tal fest­ge­nom­men und in – ja, wie soll ich sagen – Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger auf US-Boden oder gar in das regel­rech­te Hor­ror­ge­fäng­nis des gewis­sen­lo­sen sal­va­do­ria­ni­schen Dik­ta­tors Nay­ib Buke­le depor­tiert wer­den – auf Nim­mer­wie­der­se­hen, wie der Fall von Kil­mer Gar­cia zeigt, der trotz Ein­ge­ständ­nis eines Behör­den­feh­lers, nicht zurück aus El Sal­va­dor nach Hau­se kann. Es soll sich — laut New York Post — in weni­gen Wochen der zwei­ten Trump Admi­nis­tra­ti­on um 113.000 Fest­nah­men han­deln und 100.000 Abschie­bun­gen. Dar­un­ter nicht nur Fami­li­en mit Kin­dern, son­dern auch — und das wird hier­zu­lan­de beson­ders die AfD inters­sie­ren — auch US-Bürger*innen.

Rechtsweg abgeschnitten

Wäh­rend sich Trump und sei­ne Scher­gen die Taschen voll­pa­cken, den Staat als Beu­te unter sich auf­tei­len und dabei im Vor­bei­ge­hen über das Schick­sal von Mil­lio­nen Men­schen – und da geht es, was z.B. Ver­sor­gung mit Medi­ka­men­ten, Ver­hü­tungs­mit­teln angeht, für sehr vie­le Men­schen glo­bal um Leben und Tod – ent­schei­den (davon kün­den auch tau­sen­de Social-Media-Clips), gehen mas­si­ve, poli­tisch gesteu­er­te gesell­schaft­li­che Angrif­fe auf die LGBTQIA+-Community, auf Wissenschaftler*innen, Stu­die­ren­de, Journalist*innen, Staatsbeamt*innen und Gegner*innen und Kritiker*innen des „groß­ar­tigs­ten Prä­si­den­ten der US-Geschich­te“ und sei­ner nie­der­träch­ti­gen Spieß­ge­sel­len wie J.D. Van­ce und Elon Musk wei­ter. Ein Rechts­staat scheint auf­ge­ho­ben, Min­der­hei­ten, Frau­en, Nicht-Wei­ße sehen sich geball­tem Unrecht und ille­gi­ti­mer staat­li­cher Gewalt gegen­über. Der Rechts­weg ist abgeschnitten.

Die Bürgerlichen sticht der Hafer

Und die Welt? Sie schweigt und sieht zu, schließ­lich mischt man sich nicht in die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten eines ande­ren Staa­tes ein. Machen wir ja in Chi­na und der Tür­kei, in Russ­land und Argen­ti­ni­en auch nicht, und las­sen auch inner­halb der EU illi­be­ra­le Poten­ta­ten á la Orban, Melo­ni, Wil­ders usw. gewäh­ren. Im Gegen­teil, die bis vor kur­zem noch bür­ger­lich-kon­ser­va­ti­ven Par­tei­en und selbst Sozi­al­de­mo­kra­tien sticht der Hafer, wenn sie sehen, wie schnell und gründ­lich man eine grund­sätz­li­che huma­ne Ori­en­tie­rung und die sozia­len Errun­gen­schaf­ten (vor allem im Bereich sexu­el­ler und repro­duk­ti­ver Rech­te) der zurück­lie­gen­den 80 Jah­re abräu­men und der Bar­ba­rei preis­ge­ben kann.

Niemöller revisited

Irre ich mich, oder sind ernst­haf­te Bericht­erstat­tung und inter­na­tio­na­ler Pro­test zu die­sem Höl­len­sturz in den USA über­schau­bar? Beschränkt sich die (inter­na­tio­na­le) Kri­tik auf die völ­lig frei dre­hen­de Außen­po­li­tik und die oft wirk­lich gefähr­lich dum­men Ver­laut­ba­run­gen aus der Trump-Admi­nis­tra­ti­on nicht auf halb belus­tig­te, halb ungläu­bi­ge Reak­tio­nen. Nur wenn es um die eige­nen wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen geht – etwa durch die wild wuchern­de Zöl­le­po­li­tik Trumps – oder um unge­stör­te Urlaubs­rei­sen, die neu­er­dings ger­ne mal im US-Knast enden, fängt das übli­che lar­moy­an­te Geze­ter an. Wie Men­schen- und Min­der­hei­ten­rech­te, Grund- und Frei­heits­rech­te mit Füs­sen getre­ten wer­den, lockt in Niemöller’scher Manier offen­bar nie­man­den hin­ter dem Ofen her­vor. Oder nur die paar Mil­lio­nen, die sich dem Hor­ror die­ser Social-media-Clips aus­set­zen wie ich.

Kein Plan

Und dann? Ich hab‘ kei­nen Plan? Hilfs­pro­gram­me und Flucht­hil­fe für ver­folg­te Schwan­ge­re aus den US? Für von Abschie­bung und ille­ga­ler Inhaf­tie­rung Bedroh­te? Für die LGBTQIA+-Community? Für ver­folg­te Wissenschaftler*innen und Journalist*innen? Schmug­gel von Schrift­gut auf­klä­re­ri­schen Inhalts und zen­sier­ten Wer­ken über die grü­ne Gren­ze mit Canada?

Der Faschis­mus ist wie­der da. Und wir wis­sen wie­der nicht, was zu tun ist.

CSD: Dürum und Ayran in Sonneberg

Eine bun­te Pri­de mit 650 Men­schen zog durch das fast men­schen­lee­re Son­ne­berg und hauch­te ihm für ein paar Stun­den Leben ein…

Das Herz schlägt links“, sagt San­dro Kes­sel, sei­nes Zei­chens Stadt­rat von Son­ne­berg für das „Bünd­nis Sahra Wagen­knecht“ (BSW). Vor dem Rat­haus sam­melt sich lang­sam eine immer bun­ter und lau­ter wer­den­de Men­schen­men­ge, auf­ge­kratzt und erwar­tungs­voll, Regen­bo­gen- und Que­er-Fah­nen, dazwi­schen auch Par­tei­fah­nen, die Grü­nen, Jusos, Links­ju­gend Solid, domi­nie­rend die „Par­tei der Huma­nis­ten“ (PdH). Sie sind alle zur ers­ten „Chris­to­pher Street Day“-Parade (CSD) in die ver­schla­fe­ne süd­thü­rin­gi­sche Klein­stadt gekom­men, um dort – im wahrs­ten Sin­ne es Wor­tes – Far­be, oder viel­mehr vie­le bun­te und schil­lern­de Far­ben zu beken­nen. Gegen einen braun und brau­ner wer­den­den All­tag, in dem die AfD den Ton angibt und mit Robert Ses­sel­mann den ers­ten faschis­ti­schen Land­rat in Deutsch­land nach 1945 stellt. Jeden­falls hat sich in Son­ne­berg und in Süd­thü­rin­gen die Lage von Men­schen, die nicht ins rech­te Welt­bild pas­sen, erheb­lich ver­schlech­tert, laut der Opfer­be­ra­tungs­stel­le Ezra ist der Land­kreis neben der Lan­des­haupt­stadt Erfurt und der Mit­tel­stadt Wei­mar unter­des­sen zum drit­ten Hot­spot rech­ter Gewalt geworden.

BSW drängt sich ins Bild

Trotz­dem bleibt es an die­sem Sams­tag, wäh­rend die 650 Teil­neh­men­de zäh­len­de Pri­de laut und fröh­lich durch die fast aus­ge­stor­be­nen Stra­ßen der idyl­lisch gele­ge­nen Stadt zieht, ruhig. Es zei­gen sich kaum Einwohner*innen, Passant*innen geben sich freund­lich tole­rant. „Solan­ge hin­ter­her die Stra­ßen nicht dre­ckig sind“, sagt eine jun­ge Frau, sei das okay. Die erwar­te­ten Gegendemonstrant*innen und Stö­run­gen blei­ben völ­lig aus. Auch die Poli­zei gibt sich freund­lich und ent­spannt, war ja auch nichts.

Also bleibt nur das BSW. Vie­le der Teil­neh­men­den ste­cken schon wäh­rend des Zuges die Köp­fe zusam­men und fra­gen sich, wes­halb die­se erklär­ter­ma­ßen trans- und que­er­feind­li­che Par­tei sich hier so in die stol­ze Pri­de drängt. San­dro Kes­sel bleibt dabei, sei­ne neue Par­tei BSW — er kommt ursprüng­lich von „Die Par­tei“ – gehö­re hier mit dazu. Sei­nen T‑Shirt-Ärmel hat er extra hoch­ge­rollt, damit man sein umfang­rei­ches Till-Lin­de­mann-Tatoo nur ja gut sehen kann. Auch das bei einem CSD ein eher ver­stö­ren­des State­ment, wenn man sich die Debat­te um den Ramm­stein-Front­mann ins Gedächt­nis ruft. Auf die que­er­feind­li­chen State­ments sei­ner neu­en Par­tei­füh­re­rin ange­spro­chen, lässt Kes­sel sei­nen schrä­gen Vor­stel­lun­gen von Geschlechts­um­wand­lung frei­en Lauf und meint, die gesetz­li­che Mög­lich­keit, „jedes Jahr ein­mal sein Geschlecht zu wech­seln“, das gehe ein­fach zu weit.

Tolles Bühnenprogramm am PIKO-Platz

Natür­lich ticken die Uhren in einem win­zi­gen Pro­vinz­nest im ehe­ma­li­gen Zonen­rand anders. Im Rat­haus haben sich – in ihrer Not, möch­te man sagen – SPD, Lin­ke und eben BSW zusam­men­ge­tan, um Frak­ti­ons­stär­ke gegen die über­mäch­ti­ge AfD zu erlan­gen. Da nimmt man es dann mit der „rot-roten“ Abgren­zung viel­leicht nicht mehr so genau. Es bleibt dann der Grü­nen-Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten Made­lei­ne Henf­ling über­las­sen, auf der Büh­ne der Abschluss­kund­ge­bung noch ein­mal das gan­ze ent­lar­ven­de Wagen­knecht-Zitat von den „skur­ri­len Min­der­hei­ten“ zu zitie­ren und ihr Unver­ständ­nis dar­über aus­zu­drü­cken, dass die Organisator*innen von #CSDin­Son­ne­berg sich nicht klar abgrenz­ten, son­dern auch noch dem stell­ver­tre­ten­den BSW-Kreis­vor­sit­zen­den Stef­fen Schütz die Büh­ne für einen Rede­bei­trag über­las­sen. Ihre Kri­tik wird von laut­star­ken, zustim­men­den Buh-Rufen der auf dem PIKO-Platz (benannt nach der welt­be­rühm­ten DDR-Modell­ei­sen­bahn-Fabrik) ver­sam­mel­ten Men­ge begleitet.

Die Organisator*innen blei­ben dabei: Fre­de­ric For­kel (PdH Coburg) sagt, man wol­le dem BSW dies­mal die Chan­ce geben „sich zu bewäh­ren“. Tue es das nicht, sei es das nächs­te mal raus.

Lei­der ver­blas­sen hin­ter der Irri­ta­ti­on über die BSW-Betei­li­gung die gute Stim­mung, die enga­gier­ten anti­fa­schis­ti­schen Rede­bei­trä­ge und die star­ke klas­sen­kämp­fe­ri­sche Soli­da­ri­täts­er­klä­rung des DGB-Jugend­se­kre­tärs Gre­gor Gall­ner mit dem Anlie­gen des CSD und den Teil­neh­men­den. Und das mit­rei­ßen­de Büh­nen­pro­gramm mit dem pro­gram­ma­ti­schen Song „Dürüm und Ayran in der Thü­rin­ger Klein­stadt“ von Mau­rice Con­rad und Bru­neau, mit dem von Fans umla­ger­ten You­tube-Star „Yu“ und der beein­dru­cken­den Rap­pe­rin „Lati­fa Igu­ma“ aus dem ost­thü­rin­gi­schen Gera.

Die­ser Bei­trag erschien zuerst in bear­bei­te­ter Ver­si­on im ND.