Für Süleyman Taşköprü
Im Mai 1999 veröffentlichte die Nazizeitung Hamburger Sturm ein Aufsehen erregendes Interview. Hier erhielten erstmals die sogenannten „National Revolutionären Zellen“ (NRZ) das Wort und sie sprachen sich für die Praxis des bewaffneten Untergrundkampfes aus. Das dazu gehörige Foto zeigt einen Mann mit Sturmhaube und ein Interviewter gibt unmissverständlich kund: „Unser Weg ist der aus dem Untergrund handelnde Aktivist.“ Weiter heißt es: „Man darf nicht vergessen, dass wir im Krieg sind mit diesem System und da gehen nun mal einige Bullen oder sonstige Feinde drauf.“ Ergänzt wurden diese markanten Aussagen durch Hinweise und Tipps für klandestines Verhalten. Diese durch den Hamburger Sturm öffentlich kund getane Konzeption des bewaffneten Kampfes, wurde zeitgenössisch nicht nur von Antifaschist*innen, sondern auch von den Skinheads in Zwickau und Chemnitz aufmerksam registriert. In ihrem Statement legten die NRZ dar: „Wir sind eine Gruppe von mehreren Personen, die in der NPD tätig sind, aber mit dem NPD-Führungsstil unzufrieden geworden sind“, weshalb „wir den neuen Weg als handelnde Aktivisten aus dem Untergrund eingeschlagen haben“. Mitmachen bei dem „Untergrundkampf für die Freiheit der Weißen Völker“ können ausschließlich Männer, die Kampfsport betreiben und mit Waffen umgehen können sowie Computerkenntnisse haben. Der Hamburger Sturm, eine Mischung aus rechtem Skinzine und NS-Propagandablatt, erschien ab 1994 regelmäßig und entwickelte sich zunehmend zu einer Zeitung für sogenannte Freie Nationalisten aus ganz Norddeutschland. In seinem Inhalt finden sich neben Berichten zu Konzerten und Aktionen des »Nationalen Widerstands« auch Hinweise zu militanten Aktionen. Auf einer Anti-Antifa-Seite werden Daten von linken Zentren und Personen wie Jugendeinrichtungen oder dem Leiter des St.-Pauli-Fanladens bekannt gemacht, die „besucht werden können“. Auf den Sportseiten hetzen die Autor*innen über „Multi-Kulti-Fußhaller“ und empfehlen Gotcha als „Wehrertüchtigung“. In einer Serie zur Rechtshilfe werden Tipps zum Verhalten gegenüber Polizei und Justiz gegeben. Auf den „Seiten für die politischen Gefangenen« berichten Christian Worch und Gerhard „Garry“ Lauck über ihre Haftzeit in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel und der Polizistenmörder Kay Diesner bedankt sich in einem Leserbrief für die Unterstützung durch die Zeitung. Sie unterhielt auch durch einen ihrer Redakteure, Torben Klebe, der im Herbst 1998 wegen Verbreitung einer indizierten CD der Berliner Neonazi-Band Landser verurteilt worden war, zu dem Zeitpunkt des Interviews mit den NRZ gute Beziehungen zum Blood & Honour-Netzwerk (B&H) in Berlin und Skandinavien. Das Antifaschistische Infoblatt (AIB) aus Berlin bewertete schon zeitgenössisch das besagte Interview mit den NRZ als einen „qualitativen Sprung in Richtung offener Propagierung von Neonaziterrorismus“. Der Hamburger Verfassungsschutzpräsident Reinhard Wagner sah genau das damals ganz anders. Zwar beunruhigten ihn „die ganzen Waffenfunde und die vielen Einzeltaten“ der Naziszene, gleichwohl: „Von einer terroristischen Gruppe kann nicht die Rede sein“, und weiter führte er aus: „Ein terroristisches Netzwerk besteht nicht“.
Eine Blaupause für den „Rassenkrieg“
Ein paar Monate später, Ende September 1999 veröffentlichte Redakteur Guido Geist eine längere Hintergrundreportage im Hamburger Abendblatt. Unter der programmatischen Überschrift „Eine verschlossene Stadt in Hamburg“ berichtete er prominent auf der ganzen Seite 3, dass „sich viele Türken“ mutmaßlich „von den Deutschen ausgeschlossen fühlen“ und sich „immer mehr auf ihre türkische Kultur und Tradition“ besinnen, kurz: „Sie ziehen sich in ihre eigene Welt zurück“. Aus der Sicht von Geist habe eben diese „verschlossene Stadt“ keinen Namen und sei „auf keiner Karte eingezeichnet“ – und doch könne sie jeder sehen. „Einige Straßenzüge liegen in St. Pauli, andere in Harburg, Altona oder Wilhelmsburg. Die parallele Stadt hat eigene Restaurants und Cafés, Lebensmittelgeschäfte, Schneider, Ärzte, Anwälte, Banken, Werbeagenturen, Tankstellen, Bestattungsinstitute und Gotteshäuser.“ Zu einem der in diesem Beitrag vorstellten jungen Deutsch-Türken erscheint es für Geist angezeigt zu notieren, dass er im Kleingewerbe arbeitet, und zwar „mit zwei Cousins im Obst- und Gemüseladen seines Onkels auf dem Steindamm.“
Am Ende seines Beitrages markiert Geist, der später als Redenschreiber für den Ersten Bürgermeister Hamburgs, Ole von Beust, und dann als Pressereferent in der Senatskanzlei der Freien und Hansestadt Hamburg tätig sein sollte, wie er formuliert, „Keine gute Aussicht“ um daran eine beziehungsreiche Frage zu knüpfen: „Sammeln sich im Schatten der verschlossenen Stadt die enttäuschten Hoffnungen für den offenen ethnischen Konflikt von morgen?“ Diese interessierten Formulierungen erscheinen zunächst soft entworfen. Transformiert man sie aber in eine nazistische Diktion kann man sie auch als einen Hinweis auf einem kommenden „Rassenkrieg“ verstehen. So sicher nicht von Geist intendiert, waren doch in diesem Beitrag über die „parallele Stadt“ eine Reihe von Zielen markiert worden, die dann für die kommende Mordserie des NSU zentrale Bedeutung erlangen sollten: Von Migranten geführte Restaurants und Cafés, Lebensmittelgeschäfte, Obst- und Gemüseläden.
Anfang August 2000 warnten das AIB und das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum e.V. (apabiz) aus Berlin in einer Pressemitteilung auch unter Hinweis auf Torben Klebe davor, dass das neonazistische Netzwerk Blood & Honour (B&H) öffentlich zum bewaffneten Kampf aufrufe. Auf der Webseite verbreitete B&H Scandinavia ein mehrseitiges Strategiepapier zum bewaffneten Kampf, dass mit der Aufforderung endet: „Die Zeit des Geredes ist wirklich vorbei. Wir haben ein Stadium erreicht, in dem jegliche Form der Aktion der Inaktivität vorzuziehen ist. (…) Laßt uns das multikulti, multikriminelle Inferno (…) zerstören.”
Wie die Ceska-Mordserie nach Hamburg kam …
Wiederum einen Monat später, am 8. September 2000, erschießen zwei Baseballmützen und Fahrradklamotten tragende „hellhäutige“ Personen den türkischen Blumenhändler Enver Şimşek an einer Ausfallstraße in Nürnberg. Und zwar mit einer Ceska 83. Das war der erste Mord in einer Serie, dem dann in den nächsten sechs Jahren noch 8 weitere Morde mit der gleichen Waffe folgen sollten. Nachdem am Abdurrahim Özüdoğru am 13. Juni 2001 wiederum in Nürnberg erschossen wurde, traf es dann gerade einmal zwei Wochen später den Gemüsehändler Süleyman Taşköprü in der Schützenstraße im Bezirk Altona – mit derselben Waffe.. Spätestens mit diesem Mord musste die Polizei erkennen, dass es sich um eine Serie handelte.
Das Hamburger Abendblatt berichtete über einen „mysteriösen Mord am helllichten Tag“ sowie eine „Hinrichtung im Gemüseladen“. Während damals aus der Sicht der polizeilichen Ermittler*innen das Motiv „noch völlig im Dunkeln“ lag, insinuierte der Artikel als Motiv für die Tat „Schutzgelderpressung“, bei der „in vielen Fällen (…) die verbotene kurdische PKK dahinter“ stehe.
Wie es der Zufall will, entschied sich die Polizei dafür, den Mord an Süleyman Taşköprü in Hamburg zunächst einmal nicht als Teil einer Mordserie zu veröffentlichen. Noch am 5. September 2001 – inzwischen war in München der Ladenbesitzer Habil Kılıç ermordet worden – veröffentlichte das Polizeipräsidium Mittelfranken eine Meldung, derzufolge beim Mord in München und den Taten in Nürnberg dieselbe Waffe benutzt worden sei, der Hamburger Fall wurde nicht erwähnt.
Hatten die Ermittler also über zwei Monate übersehen, dass der Mord in Hamburg Teil einer Serie war? Eher nicht. Den Behörden war durchaus bewusst, dass die Fälle zusammenhängen. Die Kriminalpolizei in Nürnberg hatte bereits wenige Tage nach dem Mord in Hamburg mit den dortigen Ermittler*innen Kontakt aufgenommen. Trotzdem sollte es zwei Monate dauern, bis die Bestätigung kam, dass der Mord an Taşköprü Teil der Mordserie war. Denkbar hier, dass es seitens der Polizei als nicht so wichtig erachtet wurde, einen Abgleich der Munition durchzuführen, oder dass der Fall gar nicht bearbeitet werden sollte. Ein positiver Befund hätte ja bedeutet, dass es sich um eine bundesweite Mordserie handelte, was wiederum Fragen nach der Zuständigkeit aufgeworfen hätte. Solange kein offizieller Beweis vorlag, welcher die Morde in Verbindung brachte, konnten die Fälle bei den Behörden vor Ort verbleiben. Zwei Monate wurde also in Hamburg anscheinend wie in einem Einzelfall ermittelt, auch wenn man dort von einem ähnlichen Modus Operandi ausging. Das ist relevant, denn die unmittelbar nach der Tat aufgenommenen Zeugenaussagen zum Mord in Hamburg wurden so nicht im Zusammenhang zu den anderen Fällen gesehen. Die zum Teil eigentümlichen Ermittlungen der Hamburger Polizei in der Mordsache Süleyman Taşköprü im Jahre 2001 können an anderer Stelle nachgelesen werden. Hier nur noch soviel: Nach dem 11. September 2001, dem Angriff unter anderem auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, wurden die Ermittlungen in der Hansestadt nur noch mit minimalem Personaleinsatz gefahren, da viele Ermittler*innen für die Aufklärung der Hamburger Al Qaida-Zelle zusammengezogen wurden. Im März 2003 wurden die Ermittlungen zur Aufklärung des Mordes faktisch beendet.
„Es hat Früchte getragen …“: Der Weisse Wolf und der Rassenkrieg
Fast zeitgleich zur Ermordung Taşköprüs erscheint in Rostock die 16. Ausgabe der Nazi-Zeitschrift Weisser Wolf. Das Nazi-Zirkular war 1996 in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg a. d. Havel „als „Rundbrief inhaftierter Kameraden des Justizvollzugs“ ins Leben gerufen worden. Einer der Gründer war Maik Fischer, der wiederum in engem Kontakt mit dem damals gleichfalls inhaftierten Carsten Szcepanski stand. Beide arbeiteten zusammen. Szczepanski hatte als Führer einer Meute 1992 den nigerianischen Geflüchteten Steve Erenhi 1992 in Wendisch-Rietz fast zu Tode geprügelt und war dafür 1995 zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Offiziell erst seit 1994 in Diensten des Brandenburgischen Verfassungsschutzes, wurde er im Sommer 2000 als Spitzel enttarnt. Im Verlaufe des Jahres 1998 waren von Szczepanski Kontakte in den Chemnitzer B&H‑Szene und zu den Unterstützer*innen der flüchtigen Jenaer Bombenbastler hergestellt worden. Auch so wundert es nicht, dass sich in den Ausgaben des Weissen Wolfs immer wieder explizite Bezugnahmen zu der B&H‑Struktur inklusive Spendenaufrufen finden. B&H‑Gruppen aus Chemnitz, Hamburg und Rostock liefern dem Weissen Wolf regelmäßig Artikel. Anfang der 2000er Jahre gehört die Zeitung zu den wichtigsten Zirkularen der Neonazi- und Rechts-Rock-Szene, in denen, so der Forscher Gideon Botsch, „ultra-militante und (proto-)terroristische Konzepte nach den ausländischen Vorbildern von THE ORDER, des KU-KLUX-KLAN, von COMBAT 18 oder der NATIONAL SOCIALIST ALLIANCE beworben und verherrlicht wurden.“
Und, wie es erneut der Zufall will, wird eben darin der Beitrag „Verschlossene Stadt“ aus dem Hamburger Abendblatt vom September 1999 dokumentiert, ohne dass dieser überhaupt zum Stil der sonstigen Beiträge in dieser Zeitung passt. Es kommt aber für die Redaktion noch besser: Im Frühjahr 2002 erreicht sie eine beträchtliche Geldspende einer Gruppe namens Nationalsozialistischer Untergrund ( NSU), was vom einem Spitzel des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern sogleich an seine Behörde gemeldet wird. Die Macher des Weissen Wolfes, darunter der spätere NPD-Landtagsabgeordnete in Mecklenburg-Vorpommern, David Petereit, revanchieren sich dafür Ende des Jahres 2002 in der Ausgabe Nr. 18 im Vorwort mit den Worten: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen.“ Dazu ist ein zwinkernder Smiley und eine an den Jargon der Roten Armee Fraktion angelehnte Parole: „Der Kampf geht weiter…“ gesetzt.
Zwischen dem NSU und der Redaktion des Weißen Wolfes scheint es gute Kennverhältnisse gegeben zu haben. Antonia von der Behrens, Rechtsanwältin aus der Nebenklage im NSU-Prozess vor dem OLG München, macht in ihrer Aussage vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Landtages Mecklenburg-Vorpommern auf diese personellen Verbindungen zu Personen aus dem NSU-Netzwerk aufmerksam: „Der ‚Weisse Wolf‘ [ist] von Anfang an von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gelesen worden. In der Garage in Jena – in der auch die Bomben gebaut worden sind und die dann am 26. Januar 1998 durchsucht wurde, als die Drei abgetaucht sind – sind zwei Exemplare vom ‚Weissen Wolf‘ aufgefunden worden. (…) In der 4. Ausgabe wird sogar (…) Uwe Mundlos ausdrücklich gegrüßt. Also es gibt lange Verbindungen. Außerdem ist es so, dass Personen aus dem späteren NSU-Unterstützerumfeld, die damals aber schon vor dem Abtauchen Kontakt zu Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe hatten – wie zum Beispiel Thomas Starke – in Haft für den ‚Weissen Wolf‘ geschrieben haben.“
Am 25. Februar 2004 ging dann der „Rassenkrieg“ des NSU nach einer Unterbrechung von etwa zweieinhalb Jahren weiter und Mehmet Turgut fiel ihm in Rostock-Toitenwinkel zum Opfer. Ähnlich wie in Hamburg ließ sich auch hier die ermittelnde Polizei einiges an Zeit diesen nunmehr fünften Mord der Öffentlichkeit als Teil der Ceska-Serie zu kommunizieren. Erst 16 Monate später nach der Ermordung von İsmail Yaşar in Nürnberg Anfang Juni 2005 bequemte sich die Polizei dazu mit der Formulierung in einer Pressemitteilung, dass „vor kurzem“ [sic!] auch die Ermordung von Turgut in Rostock als 5. Mord der Serie bekannt geworden sei.
Was man auch heute immer noch nicht weiß .…
Entgegen dem bisherigen Modus Operandi bei den vorangegangenen Morden sprachen die Täter ihr Opfer zunächst an und zwangen Turgut auf den Boden, ehe sie ihn erschossen. Was weiß man heute genau zum Modus Operandi des NSU? Welche Konzepte des bewaffneten „Rassenkrieges“ spielten bei der Formierung des NSU eine Rolle? Wie kam es zur Tatortwahl, wie hat der NSU seine Opfer ausgewählt, und: Waren es wirklich immer Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die den Finger am Abzug der Ceska 83 hatten? Man weiß es auch bis heute nicht. Im Juni 2001 ermordete der NSU Süleyman Taşköprü in Hamburg und im Februar 2004 Mehmet Turgut in Rostock. Es sollte noch mehr als sieben Jahre dauern, ehe der Öffentlichkeit durch die Selbstenttarung des NSU Anfang November 2011 der politische Hintergrund der Mordserie bekannt wurde. Nachdem der Generalbundesanwalt (GBA) durch die ab Anfang November 2011 beginnende unkontrollierte Verbreitung des NSU-Selbstenttarnungs-Videos sowieso düpiert war, tat sie danach alles in ihrer Macht stehende, das „Netzwerk der Kameraden“, von dem in diesem Bekennungsvideo gesprochen wird, auf ein langes Jahrzehnt und drei sozial wie politisch völlig isoliert agierende Ostdeutsche zu reduzieren. Auch dadurch wurde der in der gesamten Bundesrepublik existente Nazi-Terror der 1990er und 2000er Jahre quasi von Westdeutschland nach Ostdeutschland verschoben. Die im November 2012 vorgelegte Anklageschrift des GBA beschränkte die Konstitution der terroristischen Vereinigung NSU ausschließlich auf die Entwicklungen der Nazi-Szene in Thüringen in den 1990er Jahren. Dass wesentliche Konzepte des bewaffneten Kampfes, deren zentrale Ideengeber mit Christian Worch, Thomas Wulff und anderen aus Hamburg stammten? Fehlanzeige. Dieser minimalisierenden Linie folgte auch das OLG München in seinem Urteil vom 11. Juli 2018. In dem Bestreben, den NSU auf die drei Einzeltäter*innen Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe zu reduzieren, findet man in dem etwa 3.000 Seiten langen Urteil keine Antworten auf die oben gestellten Fragen. Im Verlauf der Verhandlung war es vom 6. Strafsenat unter Vorsitz von Manfred Götzl mehrfach abgelehnt worden, lokale Unterstützer*innennetzwerke des NSU in Nürnberg, Kassel und Dortmund in den Blick der Beweisaufnahme zu nehmen. Eine Vielzahl von Rechtsanwält*innen der Nebenklage aus dem NSU-Strafprozess hat das in ihrer Kritik am Urteilstext, vom Staatschutzsenat erst im April 2020 vorgelegt, aufgegriffen: „Die Neonaziszene hätte sich keine besseren Urteilsgründe wünschen können. Sie können sich – wie schon zu Prozessende – entspannt zurücklehnen. Die Urteilsgründe verschweigen die Realität des NSU mit seinem großen Helfernetzwerk. Es werden die Organisationen und Strukturen der neonazistischen Szene, ohne die der NSU nicht hätte existieren können, geschont. So wird das Unterstützernetzwerk Blood & Honour mit keinem Wort erwähnt.“
Ayşen Taşköprü: Setzt einen Untersuchungsausschuss in Hamburg zum NSU ein!
Eben auch damit wollten sich die Antifaschist*innen aus der Partei Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft nicht zufrieden geben und stellten beharrlich – über Jahre — ihre Fragen. Dabei scheiterte schon ein erster Anlauf zur Einrichtung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zu den speziellen Voraussetzungen und Bedingungen des NSU in der Hansestadt: Ein Ende Juni 2015 gestellter Antrag wurde im Verlaufe des Jahres 2016 von der mit Mehrheit regierenden SPD durch Beschluss in der Bürgerschaft abgelehnt. Im Jahr 2022 publizierte die langjährige Linken-Abgeordnete der Hamburger Bürgerschaft, Christiane Schneider, mit Felix Krebs eine informative Broschüre über die Vergangenheit und Gegenwart des NSU-Komplexes in Hamburg. Darin die zutreffende Einsicht: „Das Recht auf Aufklärung verjährt nicht“. Das Vorwort verfasste die Schwester des Ermordeten, Ayşen Taşköprü. Und noch aus Anlass des 20. Jahrestages der Ermordung ihres Bruders fordert sie die Einsetzung eines PUA: „Mein Wunsch ist weiterhin ein NSU-Untersuchungsausschuss in Hamburg“, sagte Ayşen Taşköprü dem Straßenmagazin Hinz & Kunzt. Bis heute sei das Versprechen von Bundeskanzlerin Merkel nach „lückenloser Aufklärung“ nicht eingelöst worden.
Die Broschüre skizziert in langen Linien die Entwicklung des rechten Terrors in der Hansestadt. Ihm fielen seit 1980 bis heute mindestens acht Menschen zum Opfer. Die Broschüre zeichnet die einseitigen und zunächst mit einem hohen Maße an Desinteresse geführten Ermittlungen der Polizei in der Mordsache Taşköprü nach. Das Desinteresse sollte sich dann durch die ab 2005 gegründete SOKO 061 nur in rassistische Deutungs- und Handlungsmuster transformieren, die naturgemäß jede Aufklärung in Richtung Rassismus blockierten. Und dann hebt ein Unterkapitel der erwähnten lesenswerten Broschüre auch die gezielte Vertuschungspraxis des auch in Hamburg Verfassungsschutz genannten Inlandsgeheimdienstes in Sachen „Rechtsextremismus“ hervor.
Der Inhalt der Broschüre stellte eine gute Grundlage dafür da, den durch Die Linke 2015 gestellten Antrag auf einen NSU-PUA in der Stadt noch einmal gründlich zu überarbeiten und zu präzisieren. Der nächste Antrag wurde dann auch Ende März 2023 in der Bürgerschaft eingereicht, gegliedert in drei Untersuchungskomplexe:
- Die militante extrem rechte und neonazistische Szene in Hamburg und ihre bundesweite Vernetzung zwischen 1980 und 2011
- Der Mord an Süleyman Taşköprü und die Ermittlungen 2001 bis 2011
- Die Rolle des Landesamts für Verfassungsschutz im Untersuchungszeitraum 1993 bis 2011
Es werden darin über 100 Fragen aufgeworfen, darunter auch diese: „Seit wann war dem [Landesamt für Verfassungsschutz] HH die Ausgabe [des Weissen Wolfes] Nummer 16 vom 2001 bekannt, die kurz vor dem Mord an Süleyman Taşköprü erschien und in der ein Artikel aus dem „Hamburger Abendblatt“ vom 24.9.1999 – also ohne erkennbaren aktuellen Anlass – abgedruckt wurde, in dem unter anderem von migrantisch geprägten ‘Parallelwelten‘ unter anderem in Altona fabuliert wurde?“
Ja, auch das das möchte man gerne genau wissen, um für die Zukunft noch besser beurteilen zu können, wie gefährlich der Verfassungsschutz in Sachen Naziverwaltung in der Vergangenheit operiert hat. Und auch, welche Rolle der Boulevard und andere Mainstreammedien bei der Entstehung rassistischer Denkwelten spielen.
Die materialgesättigte Initiative der Partei Die Linke in Sachen NSU-PUA wird sicher auch vom Beschluss einer Mitgliederversammlung des Landesverbandes der Grünen in Hamburg beflügelt worden sein. Ende Mai 2021 war von den Grünen unter anderem in zutreffender Weise erklärt worden, dass Hamburger Nazis als eine „Schaltzentrale (…) für rechte Netzwerke“ eine „hohe Bedeutung für die ideologische und theoretische Vorarbeit sowie die praktische Aufbauarbeit der Strukturen, aus denen später der NSU hervorging“, besaßen. Sie sprechen hier wirklich Klartext, wenn sie feststellen: „Mit Thomas Wulff und Christian Worch sind hier auch exponierte Figuren in der Führungsetage deutscher Nazistrukturen aktiv — vor, während und nach den NSU-Morden.“ Eben diese „prominenten“ Neonazis hätten jahrzehntelange als „Think Tank“ für die überregional organisierte Naziszene fungiert. Frei von Zweifeln bezeichnen sich die Hamburger Grünen in ihrer Erklärung selbst als „Antifaschist*innen“. Und weil das so ist, sehen sie sich nicht nur dazu verpflichtet, „die Geschichte und Aktualität Hamburger Nazistrukturen und ihre Verstrickungen (zu) kennen“, sondern sich auch für „die restlose Aufklärung von Morden und Gewalttaten“ einzusetzen. Und dabei seien auch sie gerade in Hamburg mit der Situation einer „NSU-Aufklärung“ konfrontiert, „die mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet“. Wohl wahr! Und froh gestimmt endet dieser Beschluss auch mit dem optimistischen Ausruf: „Das können wir ändern. Das müssen wir ändern.“
Gemeinsam mit den Abgeordneten der Parteien der Grünen und der Linken in der Hamburger Bürgerschaft ist das Quorum für die Einsetzung eines NSU-PUA leicht zu erreichen: Die Zustimmung von 25 Abgeordneten hätte dafür ausgereicht, Grüne und Linke verfügen derzeit über 36 Stimmen. Es kam dann anders.
Manche Antwort ist das Unglück vieler gut begründeter Fragen!
Die SPD als führende Regierungsfraktion in Hamburg hat sicher auch nach intensiver Rücksprache und Kooperation mit den Spitzen des Sicherheitsapparates in der Stadt schlicht kein Interesse an einem NSU-PUA. Immerhin fällt die Ermordung von Süleman Taşköprü in die Amtszeit eines Innensenators, in dessen Personalausweis der Name Olaf Scholz steht. Vermutlich von dem Innenpolitischen Sprecher der SPD-Bürgerschaftsfraktion, Sören Schuhman, stammt der Einfall, die in der Hansestadt aufgelaufenen Aktenbestände zum NSU „auch für die wissenschaftliche Aufarbeitung (zu) sichern“. Eben das wurde dann als Alternative zu der Einsetzung eines NSU-PUA an die Grüne Bürgerschaftsfraktion durchgereicht. Und siehe da: Flugs vergessen war der Beschluss ihrer Mitgliederversammlung von Ende Mai 2021. Und so stimmte die Grünen-Fraktion in der Bürgerschaft gegen den Antrag auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses — bis auf Fraktionsmitglied Miriam Block. Sie brach unter Hinweis auf ihr Gewissen die Fraktionsdisziplin und stimmte für den Antrag der Partei Die Linke. Diese, durch den Beschluss der grünen Mitgliederversammlung gut legitimierte Position gereicht ihr aktuell aber nicht zum Vorteil: Per Beschluss wurde sie von ihrer Fraktion, unterstützt vom Landesvorstand der Partei, mit großer Mehrheit all ihrer Ämter enthoben. Die scharfe Abstrafung von Block durch führende Grüne ist in der Öffentlichkeit vielfältig, mit zum Teil respektablen Argumenten, kritisiert worden. Ein Kommentator ders Wochenzeitung Die Zeit verurteilte die grünen Mandatsträger*innen als rückratlos. Zu bedenken steht aber bei aller verständlichen Emotionalität in dieser Causa: Zunächst einmal hat sich die grüne Fraktionsführung mit ihrer Ablehnung eines PUA zum NSU in Hamburg – umgangssprachlich formuliert – stark gemacht: Und zwar dadurch, dass sie sich so auch klar und deutlich vor den Apparat der Sicherheitsbehörden gestellt hat. Und die Hamburger Polizei wie auch das Landesamt für Verfassungsschutz brauchen gerade in der Zukunft alles Mögliche an weiteren Geld- und Ressourcenzuflüssen, aber definitiv keine unbequeme Fragen zu ihrer Recherche- und konkreten Ermittlungspraxis in Bezug auf den Naziterror in den Jahren 1990 – 2011. Und darüber hinaus haben die führenden Grünen in Hamburg mit der Degradierung ihrer Mitstreiterin Block etwas bewiesen, was doch der Bevölkerung immer wieder als eine harte Währung im stets mühselig zu betreibenden Regierungsgeschäft verkauft wird: Führungsstärke. Einerseits. Und anderseits illustriert die Absage der grünen Partei an einen NSU-PUA in Hamburg eine schlichte Einsicht in die Mechanismen bürgerlicher Politik: Wenn es spitz auf Knopf steht, ist eine Regierung immer dazu bereit, kühl kalkuliert sowohl gegen Aufklärung wie auch gegen die Wahrheit zu operieren. Gleichwohl: Die Forderungen von Ayşen Taşköprü und die vielen Fragen der Antifaschist*innen in der Partei Die Linke zum NSU-Komplex in Hamburg sind mit der obszön zu nennenden SPD-Grünen-Regierungspolitik in dieser Angelegenheit nicht abgegolten.