Bericht eines russischen Genossen: „Wie ich Antifa wurde“

Van­ja „Kno­chen­bre­cher“ Chu­t­or­skij und allen getö­te­ten Antifaschist*innen gewidmet

Im Jahr 2020 wur­de das Wort „Anti­fa“ zu einem hei­ßen The­ma. Im Som­mer ver­sprach US-Prä­si­dent Donald Trump, die Anti­fa zu ver­bie­ten, die er beschul­dig­te, Unru­hen im Land zu orga­ni­sie­ren. Die inter­na­tio­na­len Medi­en beeil­ten sich, den in Ver­ges­sen­heit gera­te­nen Begriff zu erklä­ren. Im Herbst erin­ner­te man sich in Russ­land an die Antifaschist*innen. Am 1. Sep­tem­ber ver­starb Alek­sej „Sokra­tes“ Sutu­ga in Mos­kau nach einem Kampf. Am 16. Novem­ber jähr­te sich die Ermor­dung von Van­ja Kno­chen­bre­cher zum elf­ten Mal. Ich habe nie über ihn geschrie­ben, obwohl wir der­sel­ben Gang angehörten.

Mit die­sem Text möch­te ich unse­ren getö­te­ten Genoss*innen Tri­but zol­len und ihr Andenken ehren. Es ist an der Zeit, die Gespens­ter der Ver­gan­gen­heit wie­der auf­er­ste­hen zu las­sen. Es ist an der Zeit, sich an die Anti­fa zu erinnern.

Kein Bruder

Ein Freund aus dem Som­mer­camp, Seva, stell­te mir eine Fra­ge, an die ich mich für den Rest mei­nes Lebens erin­nern werde:

Jungs, wann gehen wir Čur­ki1 klatschen?“

Ich mur­mel­te etwas Pein­li­ches in der Rich­tung, dass es tat­säch­lich Zeit dafür sei. Es war schwer, ihm zu wider­spre­chen. Seva war ein gro­ßer, klu­ger Kerl, ein Ein­ser-Schü­ler, ein Anfüh­rer, ein Spaß­vo­gel. Ich ver­lor immer gegen ihn beim Schach, er hat­te Schach-Aus­zeich­nun­gen, ich ein paar Neben­rol­len in Schultheaterstücken.

In den frü­hen Nuller­jah­ren war extrem rech­tes Gedan­ken­gut bei rus­si­schen Jungs sehr beliebt. Der ers­te Tsche­tsche­ni­en­krieg war zu Ende, der zwei­te hat­te begon­nen, es gab Bom­ben­an­schlä­ge auf Wohn­häu­ser in rus­si­schen Städ­ten, die Gei­sel­nah­me im Dubrov­ka-Thea­ter2. Die Behör­den star­te­ten eine Groß­macht-Pro­pa­gan­da­kam­pa­gne. Der Held unse­rer Zeit war der neue Prä­si­dent Vla­di­mir Putin und sein Dop­pel­gän­ger im Kino, Dani­la Bagrov3. In den Medi­en wur­de der Feind mit dem unge­heu­er­li­chen ver­wal­tungs­sprach­li­chen Begriff „Per­son kau­ka­si­scher Natio­na­li­tät“ bezeichnet.

Ich bat mei­ne Mut­ter, mir ein Tage­buch mit Putin auf dem Ein­band zu kau­fen, und stand auf, wenn in der Klas­se die Natio­nal­hym­ne gespielt wurde.

Die rech­te Idee bestach durch ihre Ein­fach­heit, ihre Mas­ku­li­ni­tät und die Mög­lich­keit, sich als Teil eines gemein­sa­men Pro­jekts zu füh­len. Und ich wäre auch dabei gewe­sen, wenn es nicht ein Pro­blem gege­ben hät­te. Ich war kein Rus­se. Ich war ein Čuč­mek4, Čur­ka5, Čur­k­obes6, Čebu­rek7, Urjuk8, ein Musel9, manch­mal sogar ein N*10. Die meis­ten die­ser Spitz­na­men habe ich in der Mos­kau­er Schu­le von einem Klas­sen­ka­me­ra­den aus Bela­rus gehört.

Mei­ne Mit­schü­ler haben es mir ver­bo­ten, mich als Tatar, der ich nun ein­mal bin, zu bezeich­nen, weil in den Geschichts­bü­chern vom tata­risch-mon­go­li­schen Joch11 die Rede war. Die Ange­stell­ten in den Behör­den ver­ball­horn­ten mei­nen Nach­na­men. Ich ärger­te mich nicht über die­sen All­tags­ras­sis­mus und habe nicht nach den Grün­den gefragt. In gewis­ser Wei­se war ich froh, anders zu sein. Mir ging es gut, bis ich auf die Nazi-Skin­heads oder Bone­heads, wie sie genannt wer­den soll­ten, traf.

Ork mit Armaturenohr

In der neun­ten Klas­se muss­te ich mal ins Kran­ken­haus. Der Jun­ge im Nach­bar­bett ent­pupp­te sich als Nazi-Skin­head. Ich habe von den Jungs gehört, dass sich die Skins die Köp­fe rasie­ren, Sprin­ger­stie­fel tra­gen und Nicht-Rus­sen und Rap­per ver­prü­geln, weil die­se N*-Musik hören wür­den. Ich erfüll­te die­se Kri­te­ri­en und war eine idea­le Ziel­schei­be, also hat­te ich schreck­li­che Angst. Der Nach­bar sah aus wie ein Ork im Herr der Rin­ge – statt eines Ohrs hat­te er einen Fleisch­klum­pen. Er sag­te, er habe ein Arma­tu­ren­ohr. Jeden Tag ver­prü­gel­te er bru­tal einen Jun­gen, der auch in unse­rem Kran­ken­zim­mer lag. Er setz­te sich auf ihn und schlug ihm mit den Fäus­ten ins Gesicht, bis sei­ne Nase blu­te­te, und stopf­te dann einen Sei­fen­rest in sei­ne Nasen­lö­cher, um das Blu­ten zu stop­pen. Der Jun­ge schrie, aber der Ork schlug ihn noch fester.

Er war Rus­se. Der Ork schlug ihn, weil jener sei­ne Mut­ter ver­miss­te und stän­dig jam­mer­te. Wenn er sich beru­higt hat­te, las ihm der Ork laut aus Kin­der­bü­chern vor.

Ich beob­ach­te­te die­sen Wahn­sinn von mei­nem Bett aus und konn­te mich nicht bewe­gen. Es waren meh­re­re Jun­gen im Raum. Wir hät­ten ihn leicht zusam­men besie­gen kön­nen. Wir hät­ten uns bei der Kran­ken­schwes­ter beschwe­ren kön­nen. Aber als sie kam und frag­te, was pas­siert sei, schwie­gen alle. Ich rief mei­ne Eltern an und bat sie, mich hier abzuholen.

Ich war ent­setzt und schäm­te mich. Ich frag­te mich, war­um ich mich nicht für den Jun­gen ein­ge­setzt hat­te. In der Biblio­thek mei­ner Eltern stieß ich auf die Bücher des Phi­lo­so­phen Erich Fromm, in denen ich die Ant­wor­ten fand. Ich begann, sei­ne Wer­ke zu lesen, um vor den Mäd­chen klug zu erschei­nen, und kam nach und nach in Fromms Den­ken rein. Sein radi­ka­ler Huma­nis­mus zog mich in sei­nen Bann. End­lich war es mög­lich, auf der Sei­te des Guten zu ste­hen und trotz­dem ein har­ter Kerl zu sein.

Anti­fa Gegen­de­mons­tra­ti­on in Mos­kau auf dem Chis­tye Pru­dy am 4. Novem­ber. Ich fil­me mei­nen Genos­sen Maxim Solo­pov // Pho­to: Nastya Kelt

Im Jahr 2004 schrieb ich mich für Vor­be­rei­tungs­kur­se an der Fakul­tät für Jour­na­lis­mus der Staat­li­chen Uni­ver­si­tät Mos­kau ein, wo ich Niki­ta ken­nen­lern­te. Er war ein Punk wie aus dem Lehr­buch: Er soff, hör­te Oi, trug einen schwar­zen Man­tel und hass­te Nazis. Auf sei­nen Rat hin regis­trier­te ich mich im Forum von Anti​fa​.ru, wo ich Gleich­ge­sinn­te fand. Ich schrieb dort Tex­te und mir wur­de klar, dass ein unpo­li­ti­scher Anti­ras­sis­mus nicht aus­reicht, weil die extre­me Rech­te untrenn­bar mit Kapi­tal und Macht ver­bun­den ist. Eines der Forums­mit­glie­der mit dem Spitz­na­men „Adi“ launch­te eine Web­site mit dem Namen anti​fa​.p0​.ru, die sich als links ver­stand. Wir schrie­ben uns hin und her und ich merk­te, dass es mir auch nicht reicht, im Inter­net anti­fa­schis­tisch zu sein. Ich schick­te einen Scan mei­nes Pas­ses an Adi, um ihn zu über­zeu­gen, dass es unmög­lich sei, mit mei­nem Nach­na­men Faschist zu sein, und ich ging zu mei­nem ers­ten Tref­fen mit der Anti­fa. Es war die Demons­tra­ti­on zum 1. Mai. Ich set­ze mir eine Mas­ke auf. Die Alt­kom­mu­nis­ten rings­um kra­keel­ten, ich sei ein Pro­vo­ka­teur. Adi erkann­te mich und brach­te mich zum Block der radi­kal­so­zia­lis­ti­schen Avant­gar­de der Roten Jugend (AKM). Ich schüt­tel­te den zukünf­ti­gen Genos­sen die Hand. Damals ahn­te ich noch nicht, was wir gemein­sam durch­ma­chen würden.

Ich ging zu ein paar AKM-Tref­fen, sprach mit dem Anfüh­rer Ser­gej Udal’cov, wipp­te mit den Füßen zum Sprech­chor „Hier kommt die AKM“. Ich sah mich weder als Scheiß­ro­cker, Anhän­ger des Kata­stro­phen­schut­zes oder einen Sowjet­r­e­van­chis­ten und tauch­te dort nicht mehr auf.
Es kam die Idee auf, eine lin­ke Anti­fa-Gang auf­zu­bau­en, also stell­te ich Niki­ta und Adi ein­an­der vor. Niki­ta war Anar­chist, Adi Kom­mu­nist und ich war ein von Fromm inspi­rier­ter Sozi­al­de­mo­krat. Wir zoff­ten uns über die Ideo­lo­gien, bevor wir uns einig­ten. Niki­ta kon­tak­tier­te die Punks, Adi die R.A.S.H.-Combo, das waren die­je­ni­gen, die kei­nen Bock mehr auf die AKM hat­ten. Wir nann­ten sie Sta­lin­köp­fe. Ich hat­te kei­ne sub­kul­tu­rel­len Freun­de, aber ich woll­te sie unbe­dingt finden.

Jugendliche, Studierende und Kinder aus armen Familien

Die Zahl an Nazi-Skins in Russ­land zu Beginn der 2000-er lag bei 50.000, aber es ist schwer zu sagen, wie vie­le von ihnen Hass­ver­bre­chen began­gen haben, erklär­te Alek­san­dr Ver­chovs­kij, Direk­tor des Sova-Zen­trums12, auf Anfra­ge. Der Rechts­ter­ror erreich­te gegen Ende des Jahr­zehnts sei­nen Höhe­punkt. Wäh­rend im Jahr 2005 Nazis 152 Men­schen ermor­det hat­ten, waren es laut Unter­su­chungs­aus­schuss der Staats­an­walt­schaft 548 Mor­de im Jahr 2009.

Die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den fuh­ren selbst einen natio­na­lis­ti­schen Kurs und blie­ben untä­tig. Rechts­ter­ro­ris­ten wur­den frei­ge­las­sen oder nur zu Min­dest­stra­fen ver­ur­teilt. Die Füh­rung der Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gesell­schaft (NSO) rühm­ten sich des Schut­zes durch die Sicherheitsdienste.

Mör­der vor Gericht: Evge­ni­ja Cha­sis und Niki­ta Ticho­nov wäh­rend der Ver­hand­lung am Mos­kau­er Gerichts­hof 2011 // Pho­to: Gen­na­dy Cherkasov

Die Rech­ten hat­ten ihre eige­nen Abge­ord­ne­ten in der Duma – Niko­laj Kur’janovič von den Libe­ral­de­mo­kra­ten, Andrej Savel’ev von Rodi­na und Mak­sim Miščen­ko von Eini­ges Russ­land, Chef der kreml­na­hen Bewe­gung Jun­ges Russ­land. Miščen­ko lieb­äu­gel­te offen mit den Nazis. Jun­ges Russ­land koope­rier­te mit der Bewe­gung Rus­si­sches Abbild, des­sen Anfüh­rer, das mili­tan­te BORN13-Mit­glied Niki­ta Ticho­nov, 2011 wegen Mor­des an dem Rechts­an­walt Sta­nis­lav Mar­ke­l­ov und der Jour­na­lis­tin Ana­sta­si­ja Babu­ro­va zu lebens­lan­ger Haft ver­ur­teilt wur­de. Mit Babu­ro­va habe ich an der­sel­ben Fakul­tät studiert.

2004 ver­ab­schie­de­te die Duma einen Gesetz­ent­wurf zur Abschaf­fung der Fei­er­lich­kei­ten zum Jah­res­tag der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on. Der Tag der Natio­na­len Ein­heit am 4. Novem­ber wur­de zum neu­en Fei­er­tag erklärt und wur­de nach Hit­lers Geburts­tag das wich­tigs­te Datum im Nazi­ka­len­der. Am 4. Novem­ber gehen Tau­sen­de extre­me Rech­ten mit Haken­kreu­zen und Impe­ri­al­flag­gen zum soge­nann­ten Rus­si­schen Marsch. Am 4. Novem­ber 2009 trat Russ­lands belieb­tes­te Nazi­band Kolov­rat14 unter der Schirm­herr­schaft von Miščen­ko vor den Kreml­mau­ern auf.

Jemand muss­te sich die­ser unge­heu­ren Ent­wick­lung in den Weg stel­len und sie auf­hal­ten. Das haben wir über­nom­men – Jugend­li­che, Stu­die­ren­de der human­wis­sen­schaft­li­chen Uni­ver­si­tä­ten und Kin­der aus armen Familien.
David war nicht zim­per­lich und trat gegen Goli­ath an, hin­ter dem ein Heer von Phi­lis­tern stand.

Der furchtlose David

Wir plan­ten eine direk­te Akti­on. Wir mach­ten uns fer­tig und gin­gen auf Patrouil­le in einem Schlaf­be­zirk, in dem wir die Skins ver­mu­te­ten. Zunächst war es lang­wei­lig und sinnlos.
Wir waren nur weni­ge. Wir wuss­ten nicht, wie wir den Feind auf­spü­ren soll­ten. Wir hat­ten kei­ne Waf­fen und wuss­ten nicht, wie man kämpft. Hat­ten kei­ne Erfah­rung mit Kampfsport.

Im Ver­gleich mit den NSO-Skins, die alle regel­mä­ßig pum­pen und das Fit­ness­stu­dio nie ver­las­sen, sahen wir erbärm­lich aus. Im Ver­gleich mit den Nazis der Mili­tan­ten Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on (BTO), die die acht­jäh­ri­ge Churše­da Sul­ta­no­va und zwölf wei­te­re Men­schen abge­schlach­tet haben, wirk­ten wir lächer­lich. Was konn­ten wir ihnen entgegensetzen?

Zu unse­rem Ziel wur­de der ultra­rech­te sub­kul­tu­rel­le Sumpf, der den Grup­pen neue Mit­glie­der ver­schaff­te, Kri­mi­nel­le im Unter­grund und im Knast mit Geld ver­sorg­te, Pro­pa­gan­da betrieb, kurz: den Ter­ro­ris­mus unter­stütz­te. Die­se Leu­te schlu­gen nie­man­dem mit dem Ham­mer den Schä­del ein, aber sie hit­ler­ten auf Kon­zer­ten und befür­wor­te­ten Mord. Mit ihnen zu strei­ten war sinn­los, ihre men­schen­feind­li­che Ideo­lo­gie hat längst die Gren­zen der Dis­kus­si­on über­schrit­ten und schwapp­te über auf die Stra­ße. So erin­ner­te sich ein Teil­neh­mer an einer Akti­on gegen die Skins:

2005 habe ich mei­nen ers­ten Nazi ver­prü­gelt. Tibi­bo und ich bemerk­ten ihn auf der Stra­ße und ver­folg­ten ihn lan­ge in der U‑Bahn, weil wir uns nicht zum Angriff ent­schlie­ßen konn­ten. Tibi­bo ging mehr­mals auf ihn zu und tat so, als wür­de er den U‑Bahn-Plan anschau­en. Er prüf­te die Klei­dung, um sich zu ver­ge­wis­sern, dass wir einen Nazi vor uns hat­ten. Beim Umstieg an der Sta­ti­on Pro­spekt Mira gab mein Genos­se das Kom­man­do, wir rann­ten los und hol­ten ihn auf der Roll­trep­pe ein. Ich sprang mit bei­den Füßen nach vorn, was ihn zu Fall brach­te. Er ver­such­te, sich mit sei­nen Armen zu schüt­zen, wäh­rend wir in schlu­gen und ‚Anti­fa!‘ riefen.

Ich habe eine Kathar­sis erlebt und wur­de durch die Gewalt geläutert.“

Unse­re Gang wur­de stär­ker, ver­netz­te sich. Sie bestand aus zwei oder drei Affi­ni­täts­grup­pen, die unab­hän­gig von­ein­an­der ihr Ding mach­ten und sich nur zu Aktio­nen und Kon­zer­ten tra­fen. Es wur­de ein Unter­stüt­zungs­netz­werk gebil­det, das haupt­säch­lich aus Genos­sen der R.A.S.H. bestand. Unter Berück­sich­ti­gung wei­te­rer Men­schen, die wir kann­ten, die sich aber nur unre­gel­mä­ßig am Kampf gegen den Faschis­mus betei­li­gen woll­ten, war unse­re Zahl auf 20 Per­so­nen angewachsen.

Die ers­te bemer­kens­wer­te Akti­on, an der Mos­kau­er Anti­fas als gemein­sam Front teil­nah­men, war 2006 der Angriff auf den Točka-Club. Es gab ein Skin-Kon­zert mit aus­län­di­schen Bands. Anti­fas kamen als ein gro­ßer Block aus der Sta­ti­on Okt­ja­brs­ka­ja. Einer von uns hat­te eine karier­te Tasche voll mit abge­säg­ten Schau­fel­stie­len dabei. Die Skins hat­ten Angst, nach drau­ßen zu gehen und schlos­sen sich im Club ein. Anti­fas zer­stör­ten den Ein­gang und das Wer­be­schild und über­mit­tel­ten so den Ver­an­stal­tern die Mes­sa­ge: Nazikon­zer­te kosten.

Inner­halb weni­ger Jah­re bil­de­te sich in Mos­kau ein mäch­ti­ges anti­fa­schis­ti­sches Netz­werk, das Kon­zer­te orga­ni­sier­te, den Saal­schutz über­nahm und Mate­ri­al für den Ver­trieb pro­du­zier­te – Zines, Bücher und T‑Shirts. Zu die­ser Zeit gab es meh­re­re Dut­zend Punk‑, Hard­core- und Ska-Bands, die sich als anti­fa­schis­tisch bezeichneten.

Wir haben Gleich­alt­ri­gen eine Alter­na­ti­ve ange­bo­ten, die ange­nom­men wurde.

Ein­mal kam Pete, der Sän­ger von Poveročnaja line­j­ka, bei einem Auf­tritt zu uns und frag­te: „Jungs, seid ihr die von der Anti­fa?“ So beka­men wir Aner­ken­nung und den Sta­tus als zweit­wich­tigs­te Grup­pe. Mit Kno­chen­bre­cher beka­men wir außer­dem einen neu­en Genos­sen mit rei­cher Erfah­rung, eine Führungspersönlichkeit.

Der gutmütigste Knochenbrecher

Mai-Demons­tra­ti­on in Mos­kau 2009. Ich fil­me unse­re Aktio­nen für das Indy­vi­deo pro­ject // Pho­to: Nastya Kelt

Van­ja habe ich 2007 ken­nen­ge­lernt. Ich fühl­te mich geehrt, denn ich hat­te eine leben­de Anti­fa-Legen­de vor mir ste­hen. Er hat­te schon meh­re­re Angrif­fe über­lebt und war erst kürz­lich aus dem Kran­ken­haus ent­las­sen worden.

Die Nazis hat­ten ihm in sei­nem eige­nen Haus­ein­gang einen Schrau­ben­zie­her in den Hals gerammt, seit­dem ging er am Stock.

Die wich­tigs­te Grup­pe der Mos­kau­er Anti­fa bil­de­ten die Moscow Tro­jan Skin­heads (MTS), die aus unpo­li­ti­schen Skins eben­so wie Sharps bestand. MTS stand an der Spit­ze der anti­fa­schis­ti­schen Hier­ar­chie, da woll­ten alle mit­ma­chen. Wir waren die zwei­ten und von der Alters­zu­sam­men­set­zung deut­lich jün­ger. Wir kon­kur­rier­ten, begeg­ne­ten uns mit Miss­trau­en, bis sich eine Alli­anz entwickelte.

Van­ja war R.A.S.H. Viel­leicht woll­te er des­halb lie­ber zu uns, unser Anfüh­rer wer­den. Ich war nicht dabei, als die Ent­schei­dung getrof­fen wur­de. Als unse­re Skins im Früh­jahr aus Petro­za­vodsk zurück­kehr­ten, wo sie mit Kno­chen­bre­cher ein Kon­zert der ita­lie­ni­schen Oi-Band Los Fas­tidi­os besucht hat­ten, war er bereits unser Anführer.

Nie­mand hat­te etwas dage­gen. Van­ja war ein gro­ßer, star­ker und muti­ger, freund­li­cher und beschei­de­ner Kerl, ganz im Gegen­satz zu sei­nem Spitz­na­men. Er war ein Typ, dem man fol­gen wollte.

Kno­chen­bre­cher beschäf­tig­te sich mit Arm­drü­cken und Sam­bo. Über Bekann­te fand er ein Fit­ness­stu­dio an der U‑Bahnstation Per­vo­ma­js­ka­ja und begann uns wöchent­lich zu trai­nie­ren. Er zeig­te uns Auf­wärm­tech­ni­ken, brach­te uns bei, wel­che Mus­keln es zu trai­nie­ren gilt, wie man angreift und sich ver­tei­digt, wo man am bes­ten zuschlägt und wie man auf der Stra­ße kämpft. Ich erin­ne­re mich noch an zwei Ele­men­te: den Legs­weep und die Befrei­ung aus dem Schwitz­kas­ten. Die­se Bewe­gun­gen haben mir mehr als ein­mal in Kämp­fen geholfen.

Van­ja orga­ni­sier­te die Akti­vi­tä­ten und ver­teil­te die Auf­ga­ben. Wir hat­ten unse­re eige­nen Girl Scouts. Sie trai­nier­ten mit uns, ver­folg­ten die Skins auf der Stra­ße und infor­mier­ten uns per Tele­fon über ihre Bewe­gun­gen. Wir gaben Van­ja Geld, um das Gym zu mie­ten und um inhaf­tier­te Genos­sen frei­zu­kau­fen – in den Nuller­jah­ren bedeu­te­ten ein paar ein­ge­schla­ge­ne Nazi­schä­del 10.000 Rubel.

Wenn ich mit Kno­chen­bre­cher im Spar­ring war, ließ ich ihn stets gewin­nen, weil nach dem Angriff sei­ne Koor­di­na­ti­on gestört war. Ich behan­del­te ihn mit gro­ßem Respekt und fühl­te mich unwohl bei dem Gedan­ken, dass alle sei­ne Schwä­che sehen könn­ten. Wenn jemand Wit­ze oder blö­de Sprü­che klopf­te, ver­such­te ich, nicht mit­zu­ma­chen, immer­hin ver­schwen­de­te Van­ja sei­ne Zeit mit uns und küm­mer­te sich um uns wie um Kinder.

Ein Jahr dau­er­te sei­ne Rekon­va­les­zenz, dann begann er wie­der, an Aktio­nen mit­zu­ma­chen. In Van­jas Nähe hat­te ich kei­ne Angst. In der Hal­le der Sta­ti­on Okt­ja­brs­ka­ja grif­fen wir gemein­sam Skins an. Die Passant*innen dräng­ten sich in die Ecken. Die Skins wur­den in die den Boden getrampelt.

Wir kämpf­ten aus Prin­zip „mit sau­be­ren Hän­den ohne Schei­ße“ – also ohne Waf­fen, aber ein­mal nahm ich eine Fla­sche, um sie dem dum­men Nazi über den Schä­del zu ziehen.

Ich schei­ter­te, wegen der Hand­schu­he rutsch­te mir die Fla­sche aus der Hand. Nach der Akti­on erzähl­te ich Van­ja davon, und er lächel­te und zeig­te mir, wie man rich­tig mit einer Fla­sche zuschlägt.

Ein­mal dis­ku­tier­ten wir wäh­rend des Trai­nings über einen Namen für unse­rer Gang. Ich schlug das Akro­nym BBC vor – Bone Breaker‘s Crew –, aber Kno­chen­bre­cher lehn­te ab. Er woll­te, dass der Name das Wort Mos­kau ent­hält. Am Ende blie­ben wir namen­los, aber wir wer­den die Grup­pe immer als Kno­chen­bre­chers Gang in Erin­ne­rung behal­ten. Spä­ter schloss sich auch Sokra­tes der Gang an, aber da war ich schon nicht mehr dabei.

Tod im Hauseingang

In Russ­land Nazi zu sein, war gefähr­lich gewor­den. Die Skins zeig­ten sich nicht mehr offen mit Haken­kreu­zen auf der Stra­ße, orga­ni­sier­ten kei­ne Ver­an­stal­tun­gen mehr. Statt­des­sen rich­te­ten sie ihren Ter­ror nun gegen Antifaschist*innen und orga­ni­sier­ten die Anti-Anti­fa, jag­ten und töte­ten die bekann­tes­ten Genossen.

Am 10. Okto­ber 2008 ermor­de­ten sie Fed­ja Fila­tov von den MTS. Am 27. Juni 2009 Il’ja Dža­par­id­ze. Und am 16. Novem­ber 2009 Van­ja. Er war im Haus­ein­gang am Brief­kas­ten, als ihm der ehe­ma­li­ge FSB-Offi­zier und BORN-Nazi Alek­sej Koršu­n­ov in den Hin­ter­kopf schoss.

Zwei Tage spä­ter haben wir das Büro vom Jun­gen Russ­land ver­wüs­tet. Es war ein sym­bo­li­scher Akt, eine Tat der Ver­zweif­lung. Ich kam zu spät. Als ich ankam, waren alle bereits abge­hau­en. Zu die­sem Zeit­punkt hat­te ich mich schon län­ger aus dem Akti­vis­mus zurück­ge­zo­gen und war eher Beob­ach­ter gewor­den. 2007 besuch­ten wir die Mut­ter von Saša Rjuch­in, einem 19-jäh­ri­gen Jun­gen, der auf dem Weg zu einem Kon­zert von BORN-Mit­glie­dern ersto­chen wor­den war. Es war der Jah­res­tag sei­nes Todes. Rjuch­in war Anti­fa­schist, aber nicht Anti­fa. Er ging sti­ckern und trug ein Patch mit durch­ge­stri­che­nem Haken­kreuz. Schwei­gend aßen wir Tor­te, gaben sei­ner Mut­ter Geld und gin­gen. Sie blieb allein in dem Mos­kau­er Vor­ort. Ich rief die Genos­sen an und teil­te ihnen mit, dass ich das alles nicht mehr kann.

Nach jedem ein­zel­nen Mord ging ich in die Kapel­le der Hei­li­gen Mär­ty­re­rin Tat’jana in unse­rem Fakultätsgebäude.

Ich zün­de­te eine Ker­ze an und bat zum Him­mel, dass die­ser Tod der letz­te sei.

Ich bin Agnos­ti­ker, aber in die­ser Situa­ti­on war das alles, was ich tun konnte.

Der BORN-Grün­der Niki­ta Ticho­nov wur­de zu lebens­lan­ger Haft ver­ur­teilt, sei­ne Freun­din Evge­ni­ja Cha­sis bekam 18 Jah­re. Koršu­n­ov jag­te sich zwei Jah­re spä­ter beim Jog­gen mit sei­ner eige­nen Gra­na­te in die Luft. Mak­sim Miščen­ko wur­de wegen Ver­un­treu­ung von Gel­dern für Černo­byl-Opfer verknackt.

Wir haben ver­sucht, die Nazis in ihrem eige­nen alp­traum­haf­ten Spiel zu schla­gen – und erwar­tungs­ge­mäß verloren.

Sie grif­fen Kon­zer­te an – wir ver­tei­dig­ten uns mit Angrif­fen auf ihre Kon­zer­te. Sie mes­ser­ten – wir bewaff­ne­ten uns mit Mes­sern. Sie kauf­ten Gum­mi­ge­schos­se – wir kauf­ten Gum­mi­ge­schos­se. Aber als sie anfin­gen, uns zu töten, haben wir aufgehört.

Nie­mand von uns war bereit zu töten.

Die letzte Rebellion

Mein Freund Seva grün­de­te die Nazi-Graf­fi­ti-Grup­pe Go Vegas. „Ich bin Anti­fa. Ich wür­de dir auf der Stra­ße nicht begeg­nen wol­len“, sag­te ich. Wir spra­chen nie wie­der miteinander.

Die stäh­ler­nen Nuller­jah­re waren vorbei.

Die Behör­den haben sich die extre­me Rech­te zu Nut­ze gemacht und sie dann in dem Müll­ei­mer der Geschich­te entsorgt.

Zu Beginn der 2010er Jah­re wur­den die größ­ten Nazi­or­ga­ni­sa­tio­nen – NSO, Bewe­gung gegen ille­ga­le Ein­wan­de­rung (DPNI), Sla­vi­sche Uni­on (SS) – ver­bo­ten und ihre Anfüh­rer hin­ter Git­ter gebracht. Nach den Ereig­nis­sen von 2014 gin­gen die gewalt­tä­tigs­ten Nazis in die Ukrai­ne, wo sie sich dem Azov-Regi­ment anschlossen.

Auch der Anti­fa­schis­mus hat sich über­lebt. Die jüngs­te Akti­on der Anti­fa war die bedeu­tends­te. Am 28. Juli 2010 grif­fen 300 Per­so­nen das Ver­wal­tungs­ge­bäu­de in Chim­ki an und bewar­fen es mit Stei­nen und Fla­schen15. Dies war die Apo­theo­se der Anti­fa, das Ergeb­nis der Radi­ka­li­sie­rung und des Abdrif­tens der poli­ti­schen Ansich­ten von Antifaschist*innen nach links. Nach Chim­ki star­te­ten die Behör­den eine repres­si­ve Kam­pa­gne und zer­schlu­gen die Über­bleib­sel der Anti­fa mit Hil­fe von Agen­ten des Zen­trums für Extre­mis­mus­be­kämp­fung des Innen­mi­nis­te­ri­ums. Vie­le lan­de­ten im Gefäng­nis, vie­le muss­ten unter­tau­chen oder sich im Aus­land ver­ste­cken. Pete beschrieb die ver­gan­ge­ne Ära der Anti­fa in sei­nem Buch Exodus und ging nach Euro­pa. Ihm wur­de dort poli­ti­sches Asyl gewährt, eben­so wie mei­nem Genos­sen Denis Solo­pov. Ich hin­ge­gen schloss mich der anar­chis­ti­schen Bewe­gung an, die ein wenig län­ger leb­te als die anti­fa­schis­ti­sche Bewegung.

Ich habe es nie bereut, mei­ne bes­ten Jah­re dem Anti­fa­schis­mus gewid­met zu haben, der mich als Per­son geprägt hat.

Auch wenn das Schick­sal mir eine beschei­de­ne Rol­le in die­sem Dra­ma zuwies, war ich ein posi­ti­ver Held. Ich konn­te den Nie­der­gang der Punk- und Skin­head-Sub­kul­tur beob­ach­ten, die letz­te Rebel­li­on gegen die Gesell­schaft und das letz­te unab­hän­gi­ge Phä­no­men im poli­ti­schen Leben Russlands.

Mei­ne wich­tigs­te Erkennt­nis: Mit die­ser ver­damm­ten Welt stimmt etwas ganz ein­deu­tig nicht. Um mich her­um tun alle so, als wäre alles in bes­ter Ord­nung, und für sie mag das auch so sein, aber für mich nicht mehr. Wir klatsch­ten die Nazis direkt in der U‑Bahn an der Sta­ti­on Bau­mans­ka­ja – und die Fahr­gäs­te taten so, als wäre nichts gesche­hen und blie­ben ein­fach sit­zen. Ich bin sicher, dass sich auch dann nichts geän­dert hät­te, wenn Nazis jeman­den ange­grif­fen hät­ten. Viel­leicht hät­te sich jemand auf einen ande­ren Platz umgesetzt.

Fahr­gast, erzäh­le mir nicht, dass Anti­fa und Nazis ein und das­sel­be sind, du kannst doch nicht mal über dei­ne spieß­bür­ger­li­che Selbst­ge­fäl­lig­keit hin­aus­se­hen. Sag mir die­se Wor­te nicht, sonst schla­ge ich dir den Kopf ein, denn dar­in liegt die eigent­li­che Front­li­nie zwi­schen Anti­fa und Faschis­mus. Dar­in kämpft Kno­chen­bre­cher mit sei­nen Genos­sen bis heu­te gegen Hor­den von Orks. Und wenn die Stun­de gekom­men ist, wer­de ich mich ihm anschlie­ßen und wir wer­den alle gemein­sam unter dem fre­ne­ti­schen Ruf „Hal­le­lu­jah, Ach und Weh“ zum Angriff übergehen.

(Zuerst auf Rus­sisch erschie­nen in der gesell­schafts­po­li­ti­schen online-Publi­ka­ti­on zano​vo​.press, aus dem Rus­si­schen über­setzt von Lara Schultz)

Fuß­no­ten:

1 ras­sis­ti­sche Bezeich­nung für Men­schen v.a. aus dem Kaukasus

2 wäh­rend der Auf­füh­rung des Musi­cals Nord-Ost am 23. Okto­ber 2002 nah­men tsche­tsche­ni­sche Ter­ro­ris­ten etwa 850 Gei­seln, von denen rus­si­sche Sicher­heits­kräf­te min­des­tens 170 beim Befrei­ungs­ver­such töteten

3 Haupt­fi­gur in Alek­sej Bala­ba­novs Film „Brat“ (Bru­der) von 1997

4 ras­sis­ti­sche Bezeich­nung für Men­schen v.a. aus Zentralasien

5 s.o., ras­sis­ti­sche Bezeich­nung für Men­schen v.a. aus dem Kaukasus

6 ras­sis­ti­sche Bezeich­nung für Men­schen aus Zen­tral­asi­en und dem Kaukasus

7 tata­ri­sche Teig­ta­sche, ähn­lich wie Börek, aber in Halbkreisform

8 getrock­ne­te Apri­ko­se, typisch in Zentralasien

9 im Ori­gi­nal „basur­man“, ras­sis­ti­sche Bezeich­nung für Muslime

10 im Ori­gi­nal „čer­nožo­pyj“, wört­lich „Schwarz­arsch“, ras­sis­ti­sche Bezeich­nung für nicht­wei­ße Menschen

11 Sys­tem der poli­ti­schen und tri­but­pflich­ti­gen Abhän­gig­keit der rus­si­schen Fürs­ten­tü­mer vom Mon­go­len­reich von 1242 bis zum Ende des 15. Jahrhunderts

12 Rus­si­sche Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on mit den For­schungs- und Publi­ka­ti­ons­the­men Ras­sis­mus, Natio­na­lis­mus, Men­schen­rech­te in Russland.

13 Kampf­or­ga­ni­sa­ti­on der rus­si­schen Natio­na­lis­ten, 2008 gegrün­de­te mili­tan­te Naziorganisation

14 deutsch: Hakenkreuz

15 Es han­del­te sich um eine Pro­test­ak­ti­on gegen die Abhol­zung eines nahe­ge­le­ge­nen Wäldchens.

One thought on “Bericht eines russischen Genossen: „Wie ich Antifa wurde“

Comments are closed.