Im Jahr 2020 wurde das Wort „Antifa“ zu einem heißen Thema. Im Sommer versprach US-Präsident Donald Trump, die Antifa zu verbieten, die er beschuldigte, Unruhen im Land zu organisieren. Die internationalen Medien beeilten sich, den in Vergessenheit geratenen Begriff zu erklären. Im Herbst erinnerte man sich in Russland an die Antifaschist*innen. Am 1. September verstarb Aleksej „Sokrates“ Sutuga in Moskau nach einem Kampf. Am 16. November jährte sich die Ermordung von Vanja Knochenbrecher zum elften Mal. Ich habe nie über ihn geschrieben, obwohl wir derselben Gang angehörten.
Mit diesem Text möchte ich unseren getöteten Genoss*innen Tribut zollen und ihr Andenken ehren. Es ist an der Zeit, die Gespenster der Vergangenheit wieder auferstehen zu lassen. Es ist an der Zeit, sich an die Antifa zu erinnern.
Kein Bruder
Ein Freund aus dem Sommercamp, Seva, stellte mir eine Frage, an die ich mich für den Rest meines Lebens erinnern werde:
„Jungs, wann gehen wir Čurki1 klatschen?“
Ich murmelte etwas Peinliches in der Richtung, dass es tatsächlich Zeit dafür sei. Es war schwer, ihm zu widersprechen. Seva war ein großer, kluger Kerl, ein Einser-Schüler, ein Anführer, ein Spaßvogel. Ich verlor immer gegen ihn beim Schach, er hatte Schach-Auszeichnungen, ich ein paar Nebenrollen in Schultheaterstücken.
In den frühen Nullerjahren war extrem rechtes Gedankengut bei russischen Jungs sehr beliebt. Der erste Tschetschenienkrieg war zu Ende, der zweite hatte begonnen, es gab Bombenanschläge auf Wohnhäuser in russischen Städten, die Geiselnahme im Dubrovka-Theater2. Die Behörden starteten eine Großmacht-Propagandakampagne. Der Held unserer Zeit war der neue Präsident Vladimir Putin und sein Doppelgänger im Kino, Danila Bagrov3. In den Medien wurde der Feind mit dem ungeheuerlichen verwaltungssprachlichen Begriff „Person kaukasischer Nationalität“ bezeichnet.
Ich bat meine Mutter, mir ein Tagebuch mit Putin auf dem Einband zu kaufen, und stand auf, wenn in der Klasse die Nationalhymne gespielt wurde.
Die rechte Idee bestach durch ihre Einfachheit, ihre Maskulinität und die Möglichkeit, sich als Teil eines gemeinsamen Projekts zu fühlen. Und ich wäre auch dabei gewesen, wenn es nicht ein Problem gegeben hätte. Ich war kein Russe. Ich war ein Čučmek4, Čurka5, Čurkobes6, Čeburek7, Urjuk8, ein Musel9, manchmal sogar ein N*10. Die meisten dieser Spitznamen habe ich in der Moskauer Schule von einem Klassenkameraden aus Belarus gehört.
Meine Mitschüler haben es mir verboten, mich als Tatar, der ich nun einmal bin, zu bezeichnen, weil in den Geschichtsbüchern vom tatarisch-mongolischen Joch11 die Rede war. Die Angestellten in den Behörden verballhornten meinen Nachnamen. Ich ärgerte mich nicht über diesen Alltagsrassismus und habe nicht nach den Gründen gefragt. In gewisser Weise war ich froh, anders zu sein. Mir ging es gut, bis ich auf die Nazi-Skinheads oder Boneheads, wie sie genannt werden sollten, traf.
Ork mit Armaturenohr
In der neunten Klasse musste ich mal ins Krankenhaus. Der Junge im Nachbarbett entpuppte sich als Nazi-Skinhead. Ich habe von den Jungs gehört, dass sich die Skins die Köpfe rasieren, Springerstiefel tragen und Nicht-Russen und Rapper verprügeln, weil diese N*-Musik hören würden. Ich erfüllte diese Kriterien und war eine ideale Zielscheibe, also hatte ich schreckliche Angst. Der Nachbar sah aus wie ein Ork im Herr der Ringe – statt eines Ohrs hatte er einen Fleischklumpen. Er sagte, er habe ein Armaturenohr. Jeden Tag verprügelte er brutal einen Jungen, der auch in unserem Krankenzimmer lag. Er setzte sich auf ihn und schlug ihm mit den Fäusten ins Gesicht, bis seine Nase blutete, und stopfte dann einen Seifenrest in seine Nasenlöcher, um das Bluten zu stoppen. Der Junge schrie, aber der Ork schlug ihn noch fester.
Er war Russe. Der Ork schlug ihn, weil jener seine Mutter vermisste und ständig jammerte. Wenn er sich beruhigt hatte, las ihm der Ork laut aus Kinderbüchern vor.
Ich beobachtete diesen Wahnsinn von meinem Bett aus und konnte mich nicht bewegen. Es waren mehrere Jungen im Raum. Wir hätten ihn leicht zusammen besiegen können. Wir hätten uns bei der Krankenschwester beschweren können. Aber als sie kam und fragte, was passiert sei, schwiegen alle. Ich rief meine Eltern an und bat sie, mich hier abzuholen.
Ich war entsetzt und schämte mich. Ich fragte mich, warum ich mich nicht für den Jungen eingesetzt hatte. In der Bibliothek meiner Eltern stieß ich auf die Bücher des Philosophen Erich Fromm, in denen ich die Antworten fand. Ich begann, seine Werke zu lesen, um vor den Mädchen klug zu erscheinen, und kam nach und nach in Fromms Denken rein. Sein radikaler Humanismus zog mich in seinen Bann. Endlich war es möglich, auf der Seite des Guten zu stehen und trotzdem ein harter Kerl zu sein.
Im Jahr 2004 schrieb ich mich für Vorbereitungskurse an der Fakultät für Journalismus der Staatlichen Universität Moskau ein, wo ich Nikita kennenlernte. Er war ein Punk wie aus dem Lehrbuch: Er soff, hörte Oi, trug einen schwarzen Mantel und hasste Nazis. Auf seinen Rat hin registrierte ich mich im Forum von Antifa.ru, wo ich Gleichgesinnte fand. Ich schrieb dort Texte und mir wurde klar, dass ein unpolitischer Antirassismus nicht ausreicht, weil die extreme Rechte untrennbar mit Kapital und Macht verbunden ist. Eines der Forumsmitglieder mit dem Spitznamen „Adi“ launchte eine Website mit dem Namen antifa.p0.ru, die sich als links verstand. Wir schrieben uns hin und her und ich merkte, dass es mir auch nicht reicht, im Internet antifaschistisch zu sein. Ich schickte einen Scan meines Passes an Adi, um ihn zu überzeugen, dass es unmöglich sei, mit meinem Nachnamen Faschist zu sein, und ich ging zu meinem ersten Treffen mit der Antifa. Es war die Demonstration zum 1. Mai. Ich setze mir eine Maske auf. Die Altkommunisten ringsum krakeelten, ich sei ein Provokateur. Adi erkannte mich und brachte mich zum Block der radikalsozialistischen Avantgarde der Roten Jugend (AKM). Ich schüttelte den zukünftigen Genossen die Hand. Damals ahnte ich noch nicht, was wir gemeinsam durchmachen würden.
Ich ging zu ein paar AKM-Treffen, sprach mit dem Anführer Sergej Udal’cov, wippte mit den Füßen zum Sprechchor „Hier kommt die AKM“. Ich sah mich weder als Scheißrocker, Anhänger des Katastrophenschutzes oder einen Sowjetrevanchisten und tauchte dort nicht mehr auf.
Es kam die Idee auf, eine linke Antifa-Gang aufzubauen, also stellte ich Nikita und Adi einander vor. Nikita war Anarchist, Adi Kommunist und ich war ein von Fromm inspirierter Sozialdemokrat. Wir zofften uns über die Ideologien, bevor wir uns einigten. Nikita kontaktierte die Punks, Adi die R.A.S.H.-Combo, das waren diejenigen, die keinen Bock mehr auf die AKM hatten. Wir nannten sie Stalinköpfe. Ich hatte keine subkulturellen Freunde, aber ich wollte sie unbedingt finden.
Jugendliche, Studierende und Kinder aus armen Familien
Die Zahl an Nazi-Skins in Russland zu Beginn der 2000-er lag bei 50.000, aber es ist schwer zu sagen, wie viele von ihnen Hassverbrechen begangen haben, erklärte Aleksandr Verchovskij, Direktor des Sova-Zentrums12, auf Anfrage. Der Rechtsterror erreichte gegen Ende des Jahrzehnts seinen Höhepunkt. Während im Jahr 2005 Nazis 152 Menschen ermordet hatten, waren es laut Untersuchungsausschuss der Staatsanwaltschaft 548 Morde im Jahr 2009.
Die Strafverfolgungsbehörden fuhren selbst einen nationalistischen Kurs und blieben untätig. Rechtsterroristen wurden freigelassen oder nur zu Mindeststrafen verurteilt. Die Führung der Nationalsozialistischen Gesellschaft (NSO) rühmten sich des Schutzes durch die Sicherheitsdienste.
Die Rechten hatten ihre eigenen Abgeordneten in der Duma – Nikolaj Kur’janovič von den Liberaldemokraten, Andrej Savel’ev von Rodina und Maksim Miščenko von Einiges Russland, Chef der kremlnahen Bewegung Junges Russland. Miščenko liebäugelte offen mit den Nazis. Junges Russland kooperierte mit der Bewegung Russisches Abbild, dessen Anführer, das militante BORN13-Mitglied Nikita Tichonov, 2011 wegen Mordes an dem Rechtsanwalt Stanislav Markelov und der Journalistin Anastasija Baburova zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Mit Baburova habe ich an derselben Fakultät studiert.
2004 verabschiedete die Duma einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der Feierlichkeiten zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Der Tag der Nationalen Einheit am 4. November wurde zum neuen Feiertag erklärt und wurde nach Hitlers Geburtstag das wichtigste Datum im Nazikalender. Am 4. November gehen Tausende extreme Rechten mit Hakenkreuzen und Imperialflaggen zum sogenannten Russischen Marsch. Am 4. November 2009 trat Russlands beliebteste Naziband Kolovrat14 unter der Schirmherrschaft von Miščenko vor den Kremlmauern auf.
Jemand musste sich dieser ungeheuren Entwicklung in den Weg stellen und sie aufhalten. Das haben wir übernommen – Jugendliche, Studierende der humanwissenschaftlichen Universitäten und Kinder aus armen Familien.
David war nicht zimperlich und trat gegen Goliath an, hinter dem ein Heer von Philistern stand.
Der furchtlose David
Wir planten eine direkte Aktion. Wir machten uns fertig und gingen auf Patrouille in einem Schlafbezirk, in dem wir die Skins vermuteten. Zunächst war es langweilig und sinnlos.
Wir waren nur wenige. Wir wussten nicht, wie wir den Feind aufspüren sollten. Wir hatten keine Waffen und wussten nicht, wie man kämpft. Hatten keine Erfahrung mit Kampfsport.
Im Vergleich mit den NSO-Skins, die alle regelmäßig pumpen und das Fitnessstudio nie verlassen, sahen wir erbärmlich aus. Im Vergleich mit den Nazis der Militanten Terrororganisation (BTO), die die achtjährige Churšeda Sultanova und zwölf weitere Menschen abgeschlachtet haben, wirkten wir lächerlich. Was konnten wir ihnen entgegensetzen?
Zu unserem Ziel wurde der ultrarechte subkulturelle Sumpf, der den Gruppen neue Mitglieder verschaffte, Kriminelle im Untergrund und im Knast mit Geld versorgte, Propaganda betrieb, kurz: den Terrorismus unterstützte. Diese Leute schlugen niemandem mit dem Hammer den Schädel ein, aber sie hitlerten auf Konzerten und befürworteten Mord. Mit ihnen zu streiten war sinnlos, ihre menschenfeindliche Ideologie hat längst die Grenzen der Diskussion überschritten und schwappte über auf die Straße. So erinnerte sich ein Teilnehmer an einer Aktion gegen die Skins:
„2005 habe ich meinen ersten Nazi verprügelt. Tibibo und ich bemerkten ihn auf der Straße und verfolgten ihn lange in der U‑Bahn, weil wir uns nicht zum Angriff entschließen konnten. Tibibo ging mehrmals auf ihn zu und tat so, als würde er den U‑Bahn-Plan anschauen. Er prüfte die Kleidung, um sich zu vergewissern, dass wir einen Nazi vor uns hatten. Beim Umstieg an der Station Prospekt Mira gab mein Genosse das Kommando, wir rannten los und holten ihn auf der Rolltreppe ein. Ich sprang mit beiden Füßen nach vorn, was ihn zu Fall brachte. Er versuchte, sich mit seinen Armen zu schützen, während wir in schlugen und ‚Antifa!‘ riefen.
Ich habe eine Katharsis erlebt und wurde durch die Gewalt geläutert.“
Unsere Gang wurde stärker, vernetzte sich. Sie bestand aus zwei oder drei Affinitätsgruppen, die unabhängig voneinander ihr Ding machten und sich nur zu Aktionen und Konzerten trafen. Es wurde ein Unterstützungsnetzwerk gebildet, das hauptsächlich aus Genossen der R.A.S.H. bestand. Unter Berücksichtigung weiterer Menschen, die wir kannten, die sich aber nur unregelmäßig am Kampf gegen den Faschismus beteiligen wollten, war unsere Zahl auf 20 Personen angewachsen.
Die erste bemerkenswerte Aktion, an der Moskauer Antifas als gemeinsam Front teilnahmen, war 2006 der Angriff auf den Točka-Club. Es gab ein Skin-Konzert mit ausländischen Bands. Antifas kamen als ein großer Block aus der Station Oktjabrskaja. Einer von uns hatte eine karierte Tasche voll mit abgesägten Schaufelstielen dabei. Die Skins hatten Angst, nach draußen zu gehen und schlossen sich im Club ein. Antifas zerstörten den Eingang und das Werbeschild und übermittelten so den Veranstaltern die Message: Nazikonzerte kosten.
Innerhalb weniger Jahre bildete sich in Moskau ein mächtiges antifaschistisches Netzwerk, das Konzerte organisierte, den Saalschutz übernahm und Material für den Vertrieb produzierte – Zines, Bücher und T‑Shirts. Zu dieser Zeit gab es mehrere Dutzend Punk‑, Hardcore- und Ska-Bands, die sich als antifaschistisch bezeichneten.
Wir haben Gleichaltrigen eine Alternative angeboten, die angenommen wurde.
Einmal kam Pete, der Sänger von Poveročnaja linejka, bei einem Auftritt zu uns und fragte: „Jungs, seid ihr die von der Antifa?“ So bekamen wir Anerkennung und den Status als zweitwichtigste Gruppe. Mit Knochenbrecher bekamen wir außerdem einen neuen Genossen mit reicher Erfahrung, eine Führungspersönlichkeit.
Der gutmütigste Knochenbrecher
Vanja habe ich 2007 kennengelernt. Ich fühlte mich geehrt, denn ich hatte eine lebende Antifa-Legende vor mir stehen. Er hatte schon mehrere Angriffe überlebt und war erst kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen worden.
Die Nazis hatten ihm in seinem eigenen Hauseingang einen Schraubenzieher in den Hals gerammt, seitdem ging er am Stock.
Die wichtigste Gruppe der Moskauer Antifa bildeten die Moscow Trojan Skinheads (MTS), die aus unpolitischen Skins ebenso wie Sharps bestand. MTS stand an der Spitze der antifaschistischen Hierarchie, da wollten alle mitmachen. Wir waren die zweiten und von der Alterszusammensetzung deutlich jünger. Wir konkurrierten, begegneten uns mit Misstrauen, bis sich eine Allianz entwickelte.
Vanja war R.A.S.H. Vielleicht wollte er deshalb lieber zu uns, unser Anführer werden. Ich war nicht dabei, als die Entscheidung getroffen wurde. Als unsere Skins im Frühjahr aus Petrozavodsk zurückkehrten, wo sie mit Knochenbrecher ein Konzert der italienischen Oi-Band Los Fastidios besucht hatten, war er bereits unser Anführer.
Niemand hatte etwas dagegen. Vanja war ein großer, starker und mutiger, freundlicher und bescheidener Kerl, ganz im Gegensatz zu seinem Spitznamen. Er war ein Typ, dem man folgen wollte.
Knochenbrecher beschäftigte sich mit Armdrücken und Sambo. Über Bekannte fand er ein Fitnessstudio an der U‑Bahnstation Pervomajskaja und begann uns wöchentlich zu trainieren. Er zeigte uns Aufwärmtechniken, brachte uns bei, welche Muskeln es zu trainieren gilt, wie man angreift und sich verteidigt, wo man am besten zuschlägt und wie man auf der Straße kämpft. Ich erinnere mich noch an zwei Elemente: den Legsweep und die Befreiung aus dem Schwitzkasten. Diese Bewegungen haben mir mehr als einmal in Kämpfen geholfen.
Vanja organisierte die Aktivitäten und verteilte die Aufgaben. Wir hatten unsere eigenen Girl Scouts. Sie trainierten mit uns, verfolgten die Skins auf der Straße und informierten uns per Telefon über ihre Bewegungen. Wir gaben Vanja Geld, um das Gym zu mieten und um inhaftierte Genossen freizukaufen – in den Nullerjahren bedeuteten ein paar eingeschlagene Nazischädel 10.000 Rubel.
Wenn ich mit Knochenbrecher im Sparring war, ließ ich ihn stets gewinnen, weil nach dem Angriff seine Koordination gestört war. Ich behandelte ihn mit großem Respekt und fühlte mich unwohl bei dem Gedanken, dass alle seine Schwäche sehen könnten. Wenn jemand Witze oder blöde Sprüche klopfte, versuchte ich, nicht mitzumachen, immerhin verschwendete Vanja seine Zeit mit uns und kümmerte sich um uns wie um Kinder.
Ein Jahr dauerte seine Rekonvaleszenz, dann begann er wieder, an Aktionen mitzumachen. In Vanjas Nähe hatte ich keine Angst. In der Halle der Station Oktjabrskaja griffen wir gemeinsam Skins an. Die Passant*innen drängten sich in die Ecken. Die Skins wurden in die den Boden getrampelt.
Wir kämpften aus Prinzip „mit sauberen Händen ohne Scheiße“ – also ohne Waffen, aber einmal nahm ich eine Flasche, um sie dem dummen Nazi über den Schädel zu ziehen.
Ich scheiterte, wegen der Handschuhe rutschte mir die Flasche aus der Hand. Nach der Aktion erzählte ich Vanja davon, und er lächelte und zeigte mir, wie man richtig mit einer Flasche zuschlägt.
Einmal diskutierten wir während des Trainings über einen Namen für unserer Gang. Ich schlug das Akronym BBC vor – Bone Breaker‘s Crew –, aber Knochenbrecher lehnte ab. Er wollte, dass der Name das Wort Moskau enthält. Am Ende blieben wir namenlos, aber wir werden die Gruppe immer als Knochenbrechers Gang in Erinnerung behalten. Später schloss sich auch Sokrates der Gang an, aber da war ich schon nicht mehr dabei.
Tod im Hauseingang
In Russland Nazi zu sein, war gefährlich geworden. Die Skins zeigten sich nicht mehr offen mit Hakenkreuzen auf der Straße, organisierten keine Veranstaltungen mehr. Stattdessen richteten sie ihren Terror nun gegen Antifaschist*innen und organisierten die Anti-Antifa, jagten und töteten die bekanntesten Genossen.
Am 10. Oktober 2008 ermordeten sie Fedja Filatov von den MTS. Am 27. Juni 2009 Il’ja Džaparidze. Und am 16. November 2009 Vanja. Er war im Hauseingang am Briefkasten, als ihm der ehemalige FSB-Offizier und BORN-Nazi Aleksej Koršunov in den Hinterkopf schoss.
Zwei Tage später haben wir das Büro vom Jungen Russland verwüstet. Es war ein symbolischer Akt, eine Tat der Verzweiflung. Ich kam zu spät. Als ich ankam, waren alle bereits abgehauen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich schon länger aus dem Aktivismus zurückgezogen und war eher Beobachter geworden. 2007 besuchten wir die Mutter von Saša Rjuchin, einem 19-jährigen Jungen, der auf dem Weg zu einem Konzert von BORN-Mitgliedern erstochen worden war. Es war der Jahrestag seines Todes. Rjuchin war Antifaschist, aber nicht Antifa. Er ging stickern und trug ein Patch mit durchgestrichenem Hakenkreuz. Schweigend aßen wir Torte, gaben seiner Mutter Geld und gingen. Sie blieb allein in dem Moskauer Vorort. Ich rief die Genossen an und teilte ihnen mit, dass ich das alles nicht mehr kann.
Nach jedem einzelnen Mord ging ich in die Kapelle der Heiligen Märtyrerin Tat’jana in unserem Fakultätsgebäude.
Ich zündete eine Kerze an und bat zum Himmel, dass dieser Tod der letzte sei.
Ich bin Agnostiker, aber in dieser Situation war das alles, was ich tun konnte.
Der BORN-Gründer Nikita Tichonov wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, seine Freundin Evgenija Chasis bekam 18 Jahre. Koršunov jagte sich zwei Jahre später beim Joggen mit seiner eigenen Granate in die Luft. Maksim Miščenko wurde wegen Veruntreuung von Geldern für Černobyl-Opfer verknackt.
Wir haben versucht, die Nazis in ihrem eigenen alptraumhaften Spiel zu schlagen – und erwartungsgemäß verloren.
Sie griffen Konzerte an – wir verteidigten uns mit Angriffen auf ihre Konzerte. Sie messerten – wir bewaffneten uns mit Messern. Sie kauften Gummigeschosse – wir kauften Gummigeschosse. Aber als sie anfingen, uns zu töten, haben wir aufgehört.
Niemand von uns war bereit zu töten.
Die letzte Rebellion
Mein Freund Seva gründete die Nazi-Graffiti-Gruppe Go Vegas. „Ich bin Antifa. Ich würde dir auf der Straße nicht begegnen wollen“, sagte ich. Wir sprachen nie wieder miteinander.
Die stählernen Nullerjahre waren vorbei.
Die Behörden haben sich die extreme Rechte zu Nutze gemacht und sie dann in dem Mülleimer der Geschichte entsorgt.
Zu Beginn der 2010er Jahre wurden die größten Naziorganisationen – NSO, Bewegung gegen illegale Einwanderung (DPNI), Slavische Union (SS) – verboten und ihre Anführer hinter Gitter gebracht. Nach den Ereignissen von 2014 gingen die gewalttätigsten Nazis in die Ukraine, wo sie sich dem Azov-Regiment anschlossen.
Auch der Antifaschismus hat sich überlebt. Die jüngste Aktion der Antifa war die bedeutendste. Am 28. Juli 2010 griffen 300 Personen das Verwaltungsgebäude in Chimki an und bewarfen es mit Steinen und Flaschen15. Dies war die Apotheose der Antifa, das Ergebnis der Radikalisierung und des Abdriftens der politischen Ansichten von Antifaschist*innen nach links. Nach Chimki starteten die Behörden eine repressive Kampagne und zerschlugen die Überbleibsel der Antifa mit Hilfe von Agenten des Zentrums für Extremismusbekämpfung des Innenministeriums. Viele landeten im Gefängnis, viele mussten untertauchen oder sich im Ausland verstecken. Pete beschrieb die vergangene Ära der Antifa in seinem Buch Exodus und ging nach Europa. Ihm wurde dort politisches Asyl gewährt, ebenso wie meinem Genossen Denis Solopov. Ich hingegen schloss mich der anarchistischen Bewegung an, die ein wenig länger lebte als die antifaschistische Bewegung.
Ich habe es nie bereut, meine besten Jahre dem Antifaschismus gewidmet zu haben, der mich als Person geprägt hat.
Auch wenn das Schicksal mir eine bescheidene Rolle in diesem Drama zuwies, war ich ein positiver Held. Ich konnte den Niedergang der Punk- und Skinhead-Subkultur beobachten, die letzte Rebellion gegen die Gesellschaft und das letzte unabhängige Phänomen im politischen Leben Russlands.
Meine wichtigste Erkenntnis: Mit dieser verdammten Welt stimmt etwas ganz eindeutig nicht. Um mich herum tun alle so, als wäre alles in bester Ordnung, und für sie mag das auch so sein, aber für mich nicht mehr. Wir klatschten die Nazis direkt in der U‑Bahn an der Station Baumanskaja – und die Fahrgäste taten so, als wäre nichts geschehen und blieben einfach sitzen. Ich bin sicher, dass sich auch dann nichts geändert hätte, wenn Nazis jemanden angegriffen hätten. Vielleicht hätte sich jemand auf einen anderen Platz umgesetzt.
Fahrgast, erzähle mir nicht, dass Antifa und Nazis ein und dasselbe sind, du kannst doch nicht mal über deine spießbürgerliche Selbstgefälligkeit hinaussehen. Sag mir diese Worte nicht, sonst schlage ich dir den Kopf ein, denn darin liegt die eigentliche Frontlinie zwischen Antifa und Faschismus. Darin kämpft Knochenbrecher mit seinen Genossen bis heute gegen Horden von Orks. Und wenn die Stunde gekommen ist, werde ich mich ihm anschließen und wir werden alle gemeinsam unter dem frenetischen Ruf „Hallelujah, Ach und Weh“ zum Angriff übergehen.
(Zuerst auf Russisch erschienen in der gesellschaftspolitischen online-Publikation zanovo.press, aus dem Russischen übersetzt von Lara Schultz)
Fußnoten:
1 rassistische Bezeichnung für Menschen v.a. aus dem Kaukasus
2 während der Aufführung des Musicals Nord-Ost am 23. Oktober 2002 nahmen tschetschenische Terroristen etwa 850 Geiseln, von denen russische Sicherheitskräfte mindestens 170 beim Befreiungsversuch töteten
3 Hauptfigur in Aleksej Balabanovs Film „Brat“ (Bruder) von 1997
4 rassistische Bezeichnung für Menschen v.a. aus Zentralasien
5 s.o., rassistische Bezeichnung für Menschen v.a. aus dem Kaukasus
6 rassistische Bezeichnung für Menschen aus Zentralasien und dem Kaukasus
7 tatarische Teigtasche, ähnlich wie Börek, aber in Halbkreisform
8 getrocknete Aprikose, typisch in Zentralasien
9 im Original „basurman“, rassistische Bezeichnung für Muslime
10 im Original „černožopyj“, wörtlich „Schwarzarsch“, rassistische Bezeichnung für nichtweiße Menschen
11 System der politischen und tributpflichtigen Abhängigkeit der russischen Fürstentümer vom Mongolenreich von 1242 bis zum Ende des 15. Jahrhunderts
12 Russische Nichtregierungsorganisation mit den Forschungs- und Publikationsthemen Rassismus, Nationalismus, Menschenrechte in Russland.
13 Kampforganisation der russischen Nationalisten, 2008 gegründete militante Naziorganisation
14 deutsch: Hakenkreuz
15 Es handelte sich um eine Protestaktion gegen die Abholzung eines nahegelegenen Wäldchens.
One thought on “Bericht eines russischen Genossen: „Wie ich Antifa wurde“”
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