Der folgende Text wurde von Regisseurin Annalena Maaas Anfang des Jahres 2025 für ihr Theaterstück Graue Energie angefordert und ein Vortrag zur Generalprobe des Stückes am 23. Mai 2025 ohne vorherige Beschäftigung damit bestellt: nach der Generalprobe entschied sie sich, den Text und seinen Vortrag kurzerhand aus dem Stück zu werfen, weil er ihr doch irgendwie nicht ins Konzept passte. Experimentell war an diesem Vorgang allenfalls der Umgang mit dem Autor und seinem Werk. Hier also just for the record:

„Die Zeugin Nuran K. kam am 30. Verhandlungstag Ende Juli 2013 erst am Nachmittag dran. Wir sahen sie nur von hinten oben, von der Tribüne aus, auf der „die Öffentlichkeit“ saß. Sie berichtete, wie sie am 29. August 2001 das Geschäft von Habil Kılıç betrat, um noch Brot zu besorgen. Vor dem Laden begegnete sie ihren 8‑jährigen Sohn mit einem Freund. Sie betrat den Laden und traf dort niemanden an, aber sie hörte aus dem Hinterzimmer eine Kaffeemaschine blubbern und dachte, Herr Kılıç mache hinten Pause. Erst als sie zum Tresen trat, sah sie Habil Kılıç hinter dem Tresen liegen, in einer riesigen Blutlache. Was Nuran K. für eine Kaffeemaschine gehalten hatte, war das Röcheln des an seinem Blut erstickenden Sterbenden, der von zwei Kugeln, eine davon in den Kopf, getroffen worden war.
Nuran K. konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Sohn mit im Laden gewesen war. Auch nicht, dass er nach dem, was er dort gesehen hatte, in kinderpsychiatrische Behandlung musste. Auch auf mehrfache Nachfrage des Vorsitzenden konnte sie sich daran nicht erinnern. Wollte es nicht.
Störrischer Zeuge
Ende Juli 2015 sagte der bizarr ausstaffierter V‑Mann-Führer Reiner Görlitz als Zeuge aus. Der Mitarbeiter des Brandenburgischen Verfassungsschutzes, der einen der wichtigsten Zeugen des Prozesses, Carsten Szczepanski, Deckname „Piatto“, geführt hatte, trug eine Perücke, Sonnenbrille und hatte seine Kleidung mit Stoff ausgestopft, um korpulenter zu wirken.
Die Unterlagen des störrischen Zeugen ließ das Gericht vorläufig beschlagnahmen. Wohlgemerkt, die Unterlagen eines Geheimdienst-Mitarbeiters, einer staatlichen Behörde.
Es gibt politische Gruppen, die nur 9 vom NSU Ermordete zählen, weil Michèle Kiesewetter Polizistin war.
Am 9. Dezember 2015 ließ die Hauptangeklagte Beate Zschäpe ihre Aussage von ihrem Anwalt Matthias Grasel verlesen. Vor dem Gerichtsgebäude bildeten sich von früh morgens an Schlangen von „Schaulustigen“, die zum grünen Eingang des Strafjustizzentrums drängten, weil sie dachten, Beate Zschäpe werde selbst sprechen.
In der Nacht zu diesem Tage war die Nebenklageanwältin im NSU-Prozess und unsere Freundin Angelika Lex ihrem Krebsleiden erlegen.
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl und einige andere Mitglieder des erkennenden Senats kamen später zu ihrer Beerdigung am Münchener Ostfriedhof.
Manchmal ist einem der Kopf nach vorne gekippt — im Sommer — wenn es draußen fast 30 Grad hatte.
Gesunde Ernährung
Auf dem Treppenabsatz, wo einer der Eingänge zum A 101 ist, war mit mobilen hölzernen Tafeln eine Art Gehege abgetrennt worden mit einem Pausenraum für Zuschauer*innen und einem innen noch einmal abgegrenzten Bereich für Journalist*innen. Irgendwann kam das Gericht der dringenden Anforderung „der Öffentlichkeit“ nach, in den Pausen Verpflegung anzubieten. Darunter waren auch Plastikschalen mit Salat und ekligem Dressing, um das Speisenangebot „gesünder“ zu machen und weniger kohlehydratlastig. Ob wir das eingefordert hatten, weil wir bemerkten, dass die ewigen Butterbrezen uns im Laufe der Zeit aufgehen ließen wie Hefeknödel, weiß ich nicht mehr genau. Zahlen musste man in eine „Kasse des Vertrauens“. Dieses Vertrauen hatten offenbar durchaus nicht alle verdient. Irgendwann hieß es, es fehlten mehr als 1000 Euro in dieser Kasse. Das ging durch die Presse. Ausgerechnet die Süddeutsche Zeitung, die sich so viel auf ihre angeblich exklusive Mitschrift des Prozesses zugute hielt, erweckte in ihrem Artikel zu diesem „Skandal“ den Eindruck, dass ausgerechnet die Betroffenen des NSU-Terrors und Angehörigen der Ermordeten sich hier ohne zu zahlen bedient hätten.
Am 99. Prozesstag wurde über das Spiel gesprochen, dass der NSU im Untergrund konzipierte, um es zur Sicherung des Unterhalts im Untergrund zu verkaufen. Eines dieser Spiele tauchte später im Besitz des britischen Holocaustleugners David Irving auf. Das Spiel hieß „Pogromly“. Eine der „Ereigniskarten“ des Spiels lautete: „Du hattest auf ein Judengrab gekackt. Leider hattest Du Dir hierbei eine Infektion zugezogen. Arztkosten 1000 RM“.
Wissen Sie, was ein „Splittergarten“ ist? Was für ein poetisches Wort. Es kommt aus der Kriminaltechnik, der Spurensicherung. Wenn es um eine Bombenexplosion geht, wird die gezündete Bombe identisch nachgebaut und in gesichertem Gelände zur Explosion gebracht, um die Wucht und Zerstörungskraft der Bombe zu messen. Dafür werden um die Bombe in bestimmten Abständen Metallwände aufgebaut, auf die die Splitter der Bombe auftreffen, wodurch man ihre kinetische Energie bestimmen kann. Im NSU-Prozess ging es dabei um den Nagelbombenanschlag auf die migrantisch geprägte Keupstraße in Köln am 9. Juni 2004. Die Bombe in einer Camping-Gasflasche bestand aus 5,5 kg Schwarzpulver und 800 10 Zentimeter langen Nägeln. Ein Schwerverletzter hatte 9 dieser Nägel in seinen Oberschenkeln. Er kam gerade zum Zeitpunkt der Explosion an der auf einem Fahrrad deponierten Bombe vorbei. Trotz massiver physischer und psychischer Beeinträchtigungen musste er über Jahre um eine Opferentschädigung gegen den Landschaftsverband Rheinland prozessieren.
Die Gesinnung des Mandanten
Bei einer Hausdurchsuchung beim Angeklagten Ralf Wohlleben wird sein „Schlaf-Shirt“ beschlagnahmt. Zu sehen ist darauf das Eingangstor des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Darüber steht in Fraktur: „Eisenbahnromantik“. Einer der einschlägig rechten Szene-Verteidiger erklärt, von einem solchen Tshirt lasse sich nicht auf die Gesinnung seines Mandanten schließen.
Das Scharzpulver des „Stollendosenanschlags“ in der Kölner Probsteigasse hat sich in die Gesichtshaut der betroffenen 19-jährigen Medizinstudentin Maja M., die schwer verletzt wurde, eingebrannt. Die schwarzen Spuren im ihrem Gesicht nennt man „Schmutztätowierungen“.
Der Freiburger Psychiatrieprofessor Joachim Bauer war von der „Neu-Verteidigung Zschäpe“ in den Prozess geholt worden, um als psychiatrischer Gutachter die Angeklagte zu entlasten. Das geriet zum Desaster, als bekannt wird, dass Bauer den Prozess eine „Hexenjagd“ genannt und er versucht hatte, seiner „Probandin“ eine Schachtel Pralinen in die JVA zu schmuggeln. Dieser „unschuldige Akt von Humanität“, wie er es bezeichnete, trägt ihm einen Befangenheitsantrag ein. Den einzigen Befangenheitsantrag, dem in den über 5 Jahren Prozess stattgegeben wurde.
„Ivan, der Schreckliche“ im A 101
Im Verfahren gegen den einstigen Gebirgsjäger-Leutnant Josef Scheungraber erörterte sein Verteidiger Rainer Thesen, ob Geiselerschießungen zu jener Zeit nicht üblich waren und insoweit keiner Verfolgung Jahrzehnte später erheischten. Der 90-jährige Scheungraber war angeklagt, als Kommandant eines Gebirgsjägerzuges der „Wehrmacht“ am 26. Juni 1944 für die Ermordung von 14 Menschen verantwortlich gewesen zu sein, die im Rahmen einer Sühneaktion getötet wurden. 11 von ihnen waren in Falcano di Cortona in ein Haus gesperrt worden, dass die deutschen Soldaten dann in die Luft sprengten. Nur ein damals 15-Jähriger überlebte das Massaker schwer verletzt in den Trümmern. Gino M. sagte 64 Jahre nach der Gräueltat gegen Scheungraber aus. Seine trauriges Gesicht ist mir in Erinnerung geblieben.
Zwei Jahre später wurde noch „Ivan, der Schreckliche“ in einem Krankenbett in den A 101 gerollt. Der einstige KZ-Aufseher im Vernichtungslager Sobibor, Ivan Demjaniuk, wurde wegen „Beihilfe zum Mord“ an 28.060 Menschen zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt. Der Tod des 92-Jährigen verhinderte, dass das Urteil rechtskräftig wurde. In Sobibor sind in den Jahren 1942 und 1943 etwa 250.000 Jüdinnen und Juden vergast worden.“




