
Ahmed I. ist Nebenkläger im Prozess zum Mord an Walter Lübcke, der am 2. Juli 2019 im vergangenen Jahr von den beiden Angeklagten erschossen worden sein soll. Abends am 6. Januar 2016 stach mutmaßlich der Neo-Nazi Stephan E. dem aus dem Irak geflüchteten jungen Mann mit einem Messer in den Rücken. Ahmed I., zur Zeit des Anschlags auf sein Leben gerade einmal 20 Tage in Deutschland, vermutete damals schon einen rassistischen Tathintergrund. Die Polizei konnte jedoch damals keinen Täter ausfindig machen. Nach der Ermordung des hessischen CDU-Politikers Walter Lübcke und der Festnahme von Stefan E. wandte sich die Opferberatungsstelle Response, die Ahmed I. betreut, an die Staatsanwaltschaft, um auf eine mögliche Verbindung der Taten hinzuweisen. Erst dann holten die Ermittler*innen den Fall wieder aus den Akten hervor. Bei der Hausdurchsuchung bei Stephan E. fand man ein Messer mit DNA-Spuren, die Ahmed I. zugeordnet werden konnten.
An diesem 29. Oktober, dem 25. Prozesstag im Lübcke-Verfahren, musste schon sehr früh da sein, wer einen der Corona-bedingt verknappten 19 Zuschauer*innenplätze für diesen Tag bekommen wollte. Bereits um 6:30 Uhr – der Prozess beginnt erst um 10 Uhr – bildete sich eine Schlange vor dem Gerichtsgebäude.
Aufmerksamkeit für Ahmed I.
Die Anklage wirft Stephan E. Mord und Markus H. Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke vor. Mutmaßlich tötete E. den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in der Nacht des 1. Juni 2019 auf der Veranda seines Wohnhauses in Lohfelden bei Kassel mit einem Schuss aus nächster Nähe. Die vorangegangenen Prozesstage beschäftigten sich hauptsächlich mit diesem Tatbestand, der Fall Ahmed I. fand sowohl im Gerichtssaal als auch in der Öffentlichkeit so gut wie keine Aufmerksamkeit.
Insofern stach dieser Tag aus dem Prozessgeschehen hervor, da es ausschließlich um das überlebende zweite Opfer Ahmed I. ging, dessen Vernehmung der Hauptverhandlungstag gewidmet ist. Es geht um den mörderischen Angriff auf ihn am 6. Januar 2016 in Lohfelden. Auch wenn er Deutsch inzwischen relativ gut versteht, ist er auf einen Dolmetscher angewiesen, um vor Gericht aussagen zu können. Dies wird sich im Laufe des Tages noch einige Male als Problem erweisen. Die Schilderung der Tat verläuft knapp. Ahmed I. war am Abend des 6. Januar von der Asylunterkunft, in der er damals wohnte, auf dem Weg zu einer nahen Tankstelle, um Zigaretten zu kaufen. Er hat eine Kapuze auf, tippte auf dem Handy und hörte über seine Kopfhörer Musik. Ungefähr auf der Hälfte des Weges wird er auf einen Radfahrer hinter sich aufmerksam und tritt zur Seite, um Platz zu machen. Daraufhin spürt er einen Schlag und bricht zusammen. Erst habe er gedacht, der Schlag sei mit einem Stock erfolgt, dann merkt er jedoch, dass er seine Beine nicht mehr bewegen kann. Schließlich hält ein Autofahrer an und hilft ihm, ein weiterer ruft Krankenwagen und Polizei. Unter den Langzeitfolgen der Tat hat Ahmed I. bis heute zu leiden. Der Messerstich hatte auch die Wirbelsäule I.s getroffen, seither hat er ständig starke Schmerzen, verliert das Gefühl in einem Bein, hat Schlafstörungen, Angstzustände und laboriert immer noch an anderen psychischen und körperlichen Folgen der Tat. Bei der Befragung hierzu fordert der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel mit Nachdruck von dem Zeugen auch sehr private und intime Details zu berichten, wogegen auch I.s Anwalt Alexander Hoffmann interveniert. Als es zu Beginn des Prozesstages um einen handschriftlichen Lebensbericht von Markus H. gegangen war, hatte der Vorsitzende noch als „hochpersönlich“ eingestuft und zugestimmt, dass dieser aus Rücksicht auf H. nicht öffentlich verlesen werden sollte. Als bei Ahmed I.s Schilderung der Langzeitfolgen der Mitangeklagte H. auch noch fast hämisch zu grinsen begann, war es Bundesanwaltschaft Dieter Kilmer, der ihn auffordern musste, dies sofort zu unterlassen.
Zu ausführliche Vorhaltungen
Auch die Befragung durch Mustafa Kaplan, den Verteidiger des Hauptangeklagten Stephan E., setzt dem Zeugen zu. Dieser fokussiert sich fast nur auf ältere Polizeibefragungen Ahmed I.s und Sachlagen, die mit dem Anschlag an sich nichts zu tun haben. Obwohl es schon damals kurz nach der Notoperation, der sich der Betroffene unterziehen musste, Dolmetscherprobleme gegeben hatte — die damalige Dolmetscherin sprach einen anderen arabischen Akzent — werden einzelne Widersprüche in alten Befragungen bis ins kleinste Detail durchleuchtet. Auch löchert Kaplan Ahmed I. mit Erkundigungen zu seinem Asylverfahren, wo sich die Frage stellt, inwiefern das für den Prozess relevant sei. Mehrere Fragen, die vorher schon beantwortet wurden, werden in ermüdender und den Zeugen zermürbender Weise noch einmal gestellt. So kommt mehrfach die Frage auf, wie Ahmed I. den Fahrradfahrer, der von hinten angefahren sei, denn überhaupt bemerkt haben könne. Das Ziel dieses Fragenkomplexes? Vermutlich die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu untergraben und Zweifel an E.s Täterschaft und seinem rassistischen Motiv zu wecken.

Vor dem Gerichtsgebäude haben sich jeweils morgens und mittags Menschen zu einer Kundgebung in Solidarität mit Ahmed I. und allen Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt zusammengefunden. Es geht darum, auch für Ahmed I.s Geschichte Aufmerksamkeit zu schaffe. Die Unsichtbarkeit des Falls sei symptomatisch und erinnere in zu vielen Details an die Taten des NSU, so die Organisator*innen der Kundgebungen Kein Schlussstrich Hessen. Ganz in der Nähe des Gerichtssaals befindet sich auch die Frankfurter Polizeiwache, wo die Privatadresse der Nebenklagevertreterin aus dem NSU-Prozess, Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, abgerufen worden sei, an die die ersten mit „NSU 2.0“ unterzeichneten Drohfaxe einer bis heute nicht aufgeklärten Serie solcher Drohungen geschickt worden seien. Vor der Wache sind am heutigen Tage an einer Litfaßsäule Plakate mit der Aufschrift „NSU 2.0 zerschlagen“ angebracht.
Verständigungsprobleme und genervter Richter
Ein weiteres Problem dieses Tages vor Gericht ist das Dolmetschen. Irgendwie läuft es nicht reibungslos, was häufig zu langen Antwortzeiten oder auch zu falschen Antworten führt, wenn Missverstände entstanden waren. Nachdem Hoffmann einen konkreten Übersetzungsfehler moniert, fühlt sich wiederum I.s Dolmetscher in seiner Übersetzerehre gekränkt und verweist auf die Probleme und Schwierigkeiten des Dolmetschens. Laut den Angehörigen Ahmed I.s sei teilweise falsch übersetzt worden, was bei ihnen im Zuschauer*innenraum zu erheblicher Unruhe führte. Aber auch der Vorsitzende Richter reagiert während der mehrstündigen Befragung I.s zusehends genervter. Er zeigt kaum Verständnis oder Geduld für die schwierigen Umstände, unter denen I. insbesondere von Verteidiger Kaplan gegrillt wird. Sagebiel schnauzt sowohl die Verteidigung als auch den Zeugen ein ums andere Mal an und versucht offenkundig die Befragung schnell zu Ende zu bringen.
Ahmed I. bringt noch ein anderes Thema zur Sprache: Die fehlende Hilfsbereitschaft der deutschen Behörden. Geholfen habe ihm damals nur die Opferberatungsstelle Response. Insbesondere die Polizei habe ihm nicht geglaubt, dass der Angriff seiner Wahrnehmung nach von einem Nazi ausgegangen sei, habe ihn insgesamt schlecht behandelt und nicht ernst genommen, erklärte der Geschädigte. Hätte man damals auf ihn gehört und intensiver in diese Richtung ermittelt, würde Walter Lübcke vielleicht heute noch leben, sagt I.
Abschließend lässt sich sagen, dass dieser Prozesstag ein gutes Beispiel dafür ist, wie man mit einem Opfer eines rassistischen Angriffs nicht umgehen sollte. Kein Ruhmesblatt für die Strafkammer des Oberlandesgerichts Frankfurt. Dieser Angriff habe sein Leben zerstört, sagt Ahmed I.: „Ich habe gelebt bis 2016. Nicht länger.“