„Ich fühle mich in meiner Ehre als Antisemit verletzt, dass man mir das unterstellt!“ und „Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien, die jüdische Weltverschwörung gibt es wirklich!“ So und ähnlich reagiert der Attentäter von Halle wütend auf die Vorstellung des psychiatrischen Gutachtens, dass am 18. Verhandlungstag des Halle-Prozesses der wichtigste Punkt auf der Tagesordnung ist.
Insgesamt stehen vier Zeugen auf der Agenda, als erstes sagt der Gerichtsmediziner Prof. Steffen Heide aus. Dieser hatte den angeschossenen Angeklagten kurz nach seiner Festnahme untersucht. Neben einer detaillierten Schilderung sämtlicher kleiner bis größerer Schürfwunden, ist eigentlich nur die Schusswunde am Hals des Angeklagten wirklich interessant. Diese hatte er sich bei einem Schusswechsel mit der Polizei vor dem Kiez-Döner, dem zweiten Tatort seines Attentats, zugezogen – kurz nachdem er im Imbiss den 20-jährigen Kevin S. erschossen hatte. Davor hatte er versucht mit Waffengewalt und Sprengsätzen in die Synagoge in Halle einzudringen, um an den dort zu Jom Kippur versammelten Jüdinnen und Juden ein Massaker anzurichten. Nachdem ihm dies nicht gelang, erschoss er die 40-jährige Passantin Jana L. und machte sich auf den Weg, Menschen seiner anderen „Zielgruppen“ – Muslim*innen, Schwarze, Geflüchtete usw. – zu ermorden. Nach dem Feuergefecht beim Kiez-Döner, floh er mit platten Reifen aus Halle Richtung Nordosten. In der Nähe des etwa 17 Kilometer entfernten Landsberg schoss er zwei Eheleute nieder und verletzte sie schwer, nachdem sie sich geweigert hatten, ihr Auto herauszurücken. Mit vorgehaltener Waffe raubte er dann ein Auto und floh weiter, bis er von zwei Streifenbeamten endlich festgenommen wurde.
„Das Problem liegt in uns allen“
Das Geschehen an diesem entsetzlichen 9. Oktober 2019 wird nun seit Juni 2020 vor dem Oberlandesgericht Naumburg verhandelt, das aus Platzgründen im Gebäude des Landgerichts Magdeburg tagen muss. Dem Angeklagten werden zwei Morde und 68-facher versuchter Mord vorgeworfen. Der Prozesstag am 3. November ist vor allem wegen der bereits erwähnten Vorstellung des psychiatrischen Gutachtens ein besonderer, da das Gutachten eines vom Gericht bestellten Rechtsmediziners große Auswirkungen auf das Urteil haben kann. Um einen Zuschauerplatz zu bekommen, muss man weit vor Beginn da sein, da es zwar kaum Anstehen, aber sehr aufwendige Personenkontrollen gibt. Auch ist das öffentliche Interesse an dem Fall immer noch groß, wer sicher einen Platz will, muss also früh aufstehen. Der Gerichtssaal selbst wirkt etwas provisorisch. Die Zuschauer*innen- und Presseplätze sind eingehakte Stuhlreihen, die nur durch aufgestellte Glaswände von dem eigentlichen Geschehen getrennt sind. Die Stromversorgung für die Presse besteht aus mit Panzertape auf dem Boden festgeklebten Verteilerdosen, auch die Plätze von Richter*innen, Verteidigung sowie An- und Nebenklage wirken irgendwie deplatziert. Dies liegt daran, dass der Gerichtssaal nur die umfunktionierte Bibliothek des Landgerichts ist, die aufgrund des großen öffentlichen Interesses und dementsprechend hohen Besucher*innenzahlen sowie wegen der großen Anzahl der Nebenkläger*innen und ihrer Anwält*innen umfunktioniert wurde. Damit weiterhin unter Corona-Bedingungen so viele Leute dem Prozess beiwohnen können, sind ab dem heutigen Prozesstag FFP2-Masken für alle verpflichtend, werden aber auch am Eingang von Justizbeamt*innen kostenlos verteilt. Nur die Richter*innen und Zeug*innen müssen nicht ständig eine tragen. Ebensowenig der Angeklagte, auch damit man seine mimischen Reaktionen auf Zeugenaussagen sehen kann.
Es sind in den vergangenen Wochen schon viele der vom Anschlag Betroffenen gehört worden. Heute tritt ein weiterer Überlebender des Attentats in den Zeugenstand, der gleichzeitig auch einer der 43 Nebenkläger*innen in diesem Prozess ist. Valentin L. wollte erst nicht vor Gericht aussagen, da ihn die Ereignisse so schwer beschäftigt hätten. Nach mehreren Tagen als Zuschauer im Prozess habe er dann die Notwendigkeit seiner Aussage erkannt, wie er zu Protokoll gab. Er war mit der jüdischen Gruppe „Base Berlin“ aus Anlass des höchsten jüdischen Feiertages Jom Kippur extra nach Halle gefahren, um den Tag in der Ruhe der kleineren Stadt verbringen zu können. Er schilderte noch einmal ausführlich die Ereignisse jenes Tages. Wie sie mitten im Gebet einen Knall gehört und erst gedacht hätten, dass es sich um einen Streich gehandelt haben müsse. Wie nach einem Blick auf die Bilder der Überwachungskameras klar wurde, was dies für ein schrecklicher Trugschluss war und wie sie sich in der oberen Etage der Synagoge verbarrikadierten, bis sie diese nach Eintreffen der Polizei verlassen konnten.
Das Verhalten der Polizei an diesem Tag bewertete Valentin L. als äußerst unvorbereitet. Die Polizist*innen seien unsicher gewesen und er habe gespürt, dass sie selbst Angst gehabt hätten. Schlimmer jedoch sei gewesen, dass die Beamt*innen verschiedene jüdische Traditionen nicht respektiert hätten und fast komplett kenntnislos über die Bedeutung des Tages für Jüdinnen und Juden gewesen seien, so L. In bewegenden Worten sprach der Zeuge über das mangelnde Schuldbewusstsein in der Gesellschaft: „Das Problem liegt in uns allen, nicht nur im Täter“, Vorfälle wie dieser müssten als „Krankheit der Gesellschaft“ verstanden werden. Und: „Nur zusammen können wir das bessern“. Der Angeklagte kommentiert diese Aussage mit einer provozierenden Frage, die bei allen Anwesenden, auch der Vorsitzenden Richterin Ursula Mertens, für Unverständnis sorgt und von L. souverän beantwortet und abgetan wird.
Der lachende Täter
Intelligent, aber durchschnittlich. So urteilt die sachverständige Zeugin Lisa John, die im Vorfeld den Angeklagten mehreren Intelligenz- und Persönlichkeitstests unterzogen hatte. Die Ergebnisse des IQ-Tests bescheinigen ihm eine absolut durchschnittliche kognitive Leistungsfähigkeit. Alle Kategorien hätten mittlere Ergebnisse ergeben, als Gesamtwert ein IQ von 105, so die Psychologin. Die Persönlichkeitstests hätten jedoch auch ein paar durchaus ungewöhnlichere Ergebnisse zutage gefördert. Verschiedene Skalen, u.a. zu Depression, Paranoia, sozialer Introversion bzw. Offenheit, hätten bei der Auswertung der Tests Ergebnisse aufgewiesen, die von den Durchschnittswerten teilweise deutlich abgewichen seien. Zusammengefasst sei der Proband, so John, eine misstrauische, selbstbezogene und in sich gekehrte Person, die aber auf einen guten Eindruck bedacht sei. Ein Narzissmus-Test, dem der Angeklagte ebenfalls unterzogen worden sei, habe u.a. einen hohen Stolz auf eigene Wertmaßstäbe und insgesamt mehrere Hinweise auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ergeben. John wies allerdings noch vor der Vorstellung der Ergebnisse darauf hin, dass sämtliche Daten nur mit Vorsicht zu bewerten seien – es habe deutliche Anzeichen dafür gegeben, dass der Angeklagte sich teilweise zu verstellen versucht habe. Während des Absolvierens der Tests habe er ein ungewöhnliches Verhalten gezeigt. In dem Test habe er einige seiner Antworten handschriftlich korrigiert, jedoch nur, um seine rassistischen und antisemitischen Überzeugungen herauszustellen. So habe er z.B. bei der Frage, ob er sich schon einmal so über einen Menschen geärgert habe, dass er ihn habe umbringen wollen, das Wort „Mensch“ durchgestrichen und mit „Jude“ ersetzt. Solche und ähnliche Dinge, die sein antisemitisches Weltbild illustrierten, hätten bei ihm auch immer wieder ein unangemessenes Lachen hervorgerufen. Er habe sich eigentlich nicht unterhalten wollen, außer über den Anschlag selbst. Laut John habe er versucht, jedes Gespräch darauf zu lenken und ansonsten abgeblockt.
Der Attentäter, um sein Image besorgt
Mit dem Forensiker Norbert Leygraf tritt dann eine Koryphäe der deutschen Gerichtsmedizin in den Zeugenstand. Er habe, so Leygraf, mehrere längere Gespräche von insgesamt etwa zwölf Stunden Länge mit dem Angeklagten geführt, bis dieser die Exploration beim dritten Treffen abgebrochen habe. Dabei sei es um die Beurteilung zweier Dinge gegangen: Die strafrechtliche Schuldfähigkeit des Angeklagten und seine Gefährlichkeit. Der Proband habe nach eigener Aussage die psychologischen Gespräche nur mitgemacht, damit er nicht als psychisch gestört darstellt und diskreditiert werden könne. Sein Redeverhalten habe die Kollegin John treffend beschrieben, so Leygraf: Starker Redefluss, wenn es um die Tat und seine Überzeugungen ging, ansonsten kaum etwas. Wenn er, der Psychiater, kritische Nachfragen dazu gestellt habe, sei der Angeklagte angespannt gewesen und ins Schwitzen geraten. Bei Gesprächen über die Todesopfer habe er keine emotionale Veränderung gezeigt, vielmehr habe er sich für sein eigenes Versagen bemitleidet und das Nicht-Funktionieren seiner selbst gebauten Waffen. Generell sei er nur sehr selten emotional berührt gewesen, so Leygraf, er habe nur etwas bedauert, dass seine Opfer nicht Teil seiner eigentlichen „Zielgruppe“ gewesen seien. Er sehe sie wohl vielmehr als „Kollateralschaden“.
Der Angeklagte habe nie einen Freundeskreis gehabt. Er fühle sich nur einer Gruppe weißer Männer im Internet zugehörig. Dort sei er in verschiedenen Foren aktiv gewesen, wo auch sein rassistisches, antisemitisches und antifeministisches Weltbild habe entstehen und sich zuspitzen können, so Leygraf. Seine Waffen habe er zunächst vorsorglich gebaut, habe er gegenüber Leygraf angegeben, um sich und seine Familie schützen zu können. Dies sei auch sein großer „Lebensinhalt“ gewesen, der ihm ein Gefühl von sinnvoller Beschäftigung habe geben sollen. Seine einzige nicht selbst gebaute Waffe habe er sich vor dem Hintergrund der von ihm so apostrophierten „Flüchtlingskrise“ 2015 gekauft – anscheinend habe er sich schon damals bedroht gefühlt, meinte der Gutachter.
Kein Wahn, aber Persönlichkeitsstörung
Insgesamt kann Leygraf zufolge jedoch kein krankhafter Wahn diagnostiziert werden. Es gebe keine für Wahnhafte typische Ich-Fixierung. Zusätzlich stünden Wahnkranke in ihrer Vorstellung stets alleine da, auch das sei nicht der Fall, da der Angeklagte ja seine gleichgesinnte Gruppe im Internet gehabt habe. Stattdessen zeige er Defizite im nonverbalen Verhalten, ein eingeengtes repetitives Verhaltensmuster und ein paranoides Grundmisstrauen, das ihn an einer Beziehung zu anderen Menschen hindere und gewisse Ähnlichkeiten mit dem Asperger-Autismus habe, führte Leygraf aus. Dies erfülle die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung und einer „schweren seelischen Abartigkeit“, worauf auch Defizite in der Empathiefähigkeit und bei der emotionalen Ansprechbarkeit hinwiesen. Die Unrechtseinsicht sei aber keineswegs beeinträchtigt, weshalb dem Attentäter eine volle Schuldfähigkeit zu attestieren sei. Auch bezüglich der Gefährlichkeit des Angeklagten hat Leygraf eine Antwort: Seine Überzeugungen bestünden schon sehr lange und die Tat sei mit seiner psychischen Verfassung verbunden, bei der es keinen Hinweis auf eine Änderung gebe. Es sei also definitiv möglich, dass er erneut ähnliche Taten begehen würde.
Die Verteidiger geben sich im Anschluss an Leygrafs Vortrag Mühe mit einigen etwas kläglich wirkenden Versuchen, vielleicht doch über eine gewisse Wahnhaftigkeit ihres Mandanten eine irgendwie verminderte Schuldfähigkeit heraus zu kitzeln. Allerdings macht ihnen genau dieser dann selbst einen Strich durch die Rechnung: Er will unbedingt als psychisch gesund angesehen werden und fühlt sich durch das Gutachten persönlich angegriffen. Sichtlich verärgert und wütend beharrt er darauf, dass er durchaus keine Persönlichkeitsstörung habe, und merkt gar nicht, dass er genau mit diesem Verhalten die Ergebnisse von Leygraf und John geradezu bilderbuchmäßig bestätigt. Er hängt sich an einigen Details des Gutachtens auf, so fühlt er sich offenbar in seiner Ehre als Antisemit gekränkt, als das pornographische Material auf seinem Rechner Erwähnung findet. Damit wolle er nichts zu tun haben, habe er schon dem Psychiater gesagt, da die gesamte amerikanische Pornoindustrie in jüdischer Hand sei. Auch sei er nicht paranoid und glaube auch nicht an Verschwörungstheorien – das alles mit den Juden usw. sei wahr, auch der muslimische Eroberungskampf sei überhaupt nicht eingebildet. Und dass er jeden Morgen immer denselben Dosenfisch gegessen habe, sei kein repetitives Verhaltensmuster – er bereite sich so nur auf die karge und ungesunde Ernährung im kommenden Bürgerkrieg vor.
Das Verfahren wird derzeit fortgesetzt. Ein Urteil wird Anfang Dezember 2020 erwartet.