Vier Jahre Freiheitsstrafe lautet das Urteil im Prozess gegen André M., der seit April dieses Jahres auf der Anklagebank im Landgericht Berlin-Tiergarten saß. Zusätzlich wird die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Der Vorsitzende der 10. Strafkammer, Richter Thorsten Braunschweig, sieht keinen Zweifel daran, dass André M. in den ihm vorgeworfenen 35 Fällen schuldig ist, Droh-Emails als „NationalSozialistischeOffensive“ (NSO) geschrieben zu haben. In den Emails drohte er u.a. die Auslösung von Sprengstoffexplosionen an. Zahlreiche Gerichte, Einkaufszentren, Rathäuser und Bahnhöfe wurden daraufhin evakuiert. Ursprünglich war M. in 107 Punkten angeklagt, das Gericht hatte jedoch etliche zusammenhängende Einzeltaten zusammengezogen.
Wegweisendes Urteil
Die Strafkammer des Landgerichts hat mit ihrem Urteil in mehrfacher Hinsicht Maßstäbe gesetzt. In der Bewertung der einzelnen Komplexe von Drohmails gegen Institutionen, Behörden und Einzelpersonen setzte sie für die jeweiligen Taten Einzelstrafen zwischen 10 (Personen des öffentlichen Interesses) und 2 Jahren (Gerichte und Staatsanwaltschaften) an und bildete daraus die Gesamtstrafe von 4 Jahren Freiheitsentzug an. Die Verfasser*innen der seit August 2018 ins Kraut schießenden Drohschreiben unterschiedlicher Absender können also für den Fall, dass sie erwischt werden, mit empfindlichen Strafen rechnen. Das Gericht stärkt damit auch die Rechte und Ansprüche von Bedrohung betroffener Geschädigter.
Er sei kein „durchschnittlicher Angeklagter“, beginnt Richter Braunschweig die Begründung seines Urteils. André M. hatte Kenntnisse im Waffen- und Sprengstoffbau. Eine Sachverständige sagte während des Verfahrens aus, M. leide unter einer Persönlichkeitsstörung, wobei er zwanghaft seine Aggressionen durch Gewaltakte entlasten müsse. Die Drohungen seien insoweit als ein Ventil zu verstehen, um diese Gewaltfantasien auszuleben.
Dass er seine Drohungen auch in die Realität umsetzen könnte, zeigen M.’s Vorstrafen deutlich auf: Seit 2004 trat er wiederholt strafrechtlich in Erscheinung, unter anderem wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung, Brandstiftung oder des gemeinschaftlichen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion.
Hass auf starke Frauen
Es sei gefährlich, M. „jetzt so auf die Straße zu setzen“, begründet Richter Braunschweig sein Urteil. Mit der psychiatrischen Unterbringung wolle man die „Allgemeinheit vor ihm schützen“. Er endet mit einem Appell an M. selbst. „Wenn Sie sich nicht behandeln lassen, werden Sie wahrscheinlich sehr lange da bleiben.“ Der Angeklagte sitzt während der Urteilsverkündung zusammengesunken zwischen seinen beiden Verteidigern und zeigt keine Gefühlsregung ob des Strafmaßes.
Fast acht Monate zog sich der Prozess gegen den 32-Jährigen hin. Grund für die Länge des Verfahrens war vor allem die komplexe technologische Auswertung der Computer- und Handydaten des Angeklagten, anhand derer schließlich nachgewiesen werden konnte, dass er der Autoren der über 100 Drohmails gewesen ist. Dabei geht es unter anderem um Emails, die sich in sehr gewaltvoller und sexualisierter Sprache gegen Politikerinnen und in besonderer Hartnäckigkeit gegen in der Öffentlichkeit stark auftretende Frauen richteten, darunter etwa die Journalistinnen Dunja Hayali und Anja Reschke, die feministische Kolumnistin Margarete Stokowski und die linke Bundestagsabgeordnete Martina Renner sowie — besonders hartnäckig — die Schlagersängerin Helene Fischer. Die neonazistischen Ideologievorstellungen des Angeklagten kamen in diesen Schreiben mehr als offen zutage.
Dekorative Hakenkreuzfahnen
An der politischen Einstellung des Angeklagten besteht auch für persönliche Bekannte kaum ein Zweifel. Das zeigt sich bei der Befragung von Kerstin S., mit der M. in einem engen Austausch gestanden hat. S. sagte vor Gericht aus, sie habe ihn als „rechts gesinnt“ wahrgenommen, „wegen seiner Zimmerdekoration, die ich so gesehen hab“. Bilder des mit Hakenkreuzfahnen tapezierten Raumes wurden auch im Gericht in Augenschein genommen. Zudem erläuterte sie, dass M. wisse, wie man Sprengstoff herstellt, und dass er mal „so ‚nen Anschlag“ geplant hätte“. Dabei geht es um ein Verfahren aus dem Jahr 2007, bei dem M. wegen der Planung eines Sprengstoffanschlags auf das „Apfelfest“ in Rellingen (Kreis Pinneberg) verurteilt worden war.
Mit Kerstin S. tauscht M. über digitale Kommunikationsplattformen über Monate private Gedanken aus. Er schreibt von Sprengstoffen, seinen Gewaltfantasien und Überlegungen zu einem Selbstmordattentat. Die junge Frau war eine der wenigen sozialen Kontakte, die M. in den Monaten nach seiner letzten Haftentlassung 2018 neben seiner Familie noch pflegte. Er lebte zurückgezogen in einem kleinen Zimmer im Haus seiner Eltern, das er aufgrund seiner Angststörungen so gut wie nie verließ und in dem er ein digitales Leben vor seinem Computerbildschirm führte.
Gummibärchen extra
Im Laufe der monatelangen Verhandlungen verschlechtert sich der Gesundheitszustand des Angeklagten zusehends. Auslöser dafür ist die Weigerung von M. ausreichend Nahrung oder Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Hintergrund ist eine Essstörung, die bereits seit Jahren besteht. In Haft bekommt er deshalb eine Zusatzration Gummibärchen und Schokolade. Letztendlich wird ein Rechtsmediziner hinzugezogen, der eine eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit feststellt. Ab September kann deshalb nur noch an zwei Stunden pro Tag verhandelt werden. Außerdem muss die Verhandlungsfähigkeit vor jedem Termin erneut geprüft werden.
Trotz der Verlängerung des Verfahrens näherte sich die Beweisaufnahme im Herbst 2020 langsam dem Ende. Ein relevanter Punkt für die Strafzumessung war das abschließende psychiatrische Gutachten. Dieses verneinte eine Schuldunfähigkeit. Demgegenüber versuchte sein Verteidiger, Rechtsanwalt Thomas Penneke, die Beweisaufnahme zu diskreditieren. Kurz vor den Plädoyers stellte er gar einen Befangenheitsantrag gegen die polizeiliche Sprachgutachterin, die die Drohmails untersucht hatte. Als dieser vom Richter zurückgewiesen wurde, schüttelt Penneke, der als rechte Szeneanwalt gilt, unzufrieden den Kopf.
Generalstaatsanwalt: Haft und Maßregelvollzug
Das folgende Plädoyer der Generalstaatsanwaltschaft erstreckt sich über zwei Prozesstage. Die Schuld von M. in den verhandelten 35 Fällen wird als gegeben angesehen. Oberstaatsanwältin Eva-Maria Tombrink widerspricht der These der Verteidigung, dass der PC im Zimmer des Angeklagten möglicherweise ja gar nicht von ihm benutzt worden sei. So wurden neben den Drohungen gegen Institutionen auch Bedrohungen gegen persönliche Bekannte, wie etwa gegen Kerstin S., auf dem Rechner gefunden. Alle seien laut Sprachgutachten in dem gleichen Schreibstil verfasst, in dem sich M. auch in anderen Emails ausgedrückt habe. Im Prozess sprach die Linguisitin von einem Befund, der ihr in 16 Jahren Arbeitserfahrung so noch nicht untergekommen sei, und sprach von „sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ einer Autorenidentiät. Außerdem wurden alle anonymen Schreiben ausschließlich mit dem Pseudonym „NSO“ unterzeichnet. Seit der Inhaftierung von M. gab es keine weiteren Emails dieses Absenders mehr.
Darüber hinaus kommen in den Mails sadistische Fantasien zum Ausdruck, die sich mit persönlichen Vorstellungen von M. überschneiden, wie die im Prozess gezeigten Bilder von Speichermedien des Angeklagten bestätigen. An der extrem rechten Gesinnung des Angeklagten besteht kein Zweifel, da diese durch Bilder, Texte, seine Zimmerausstattung und Aussagen von Zeug*innen belegt ist. Ziel der Bedrohungen sei es gewesen, so Tombrink, Macht auszuüben und Dominanz über staatliche Institutionen zu behaupten. Dementsprechend enthalten spätere Mails an die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner, die sich dem Verfahren als Nebenklägerin anschloss, Beschwerden darüber, nicht ernst genommen worden zu sein. Zudem schrieb M. bereit 2018 an Kerstin S. eine Nachricht, in der er seine spätere Bedrohungsstrategie beschreibt.
Schließlich fordert die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten. Sie beantragt zudem die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, da aufgrund der Vergangenheit des Angeklagten weitere Straftaten zu erwarten seien. Auch das psychologische Gutachten sieht bei M. Charakteristika eines „Amokläufers“.
Nebenklageanwältin Kristin Pietrzyk schließt sich dem Plädoyer der Generalstaatsanwaltschaft an. Sie betont, dass ihre Mandantin Martina Renner nicht nur als Bundestagsabgeordnete, sondern gerade auch als Frau bedroht worden sei. Ein solches abwertendes Frauenbild sei typisch für die extreme Rechte. Dieser Aspekt müsse im Urteil Berücksichtigung finden, forderete Pietrzyk.
Verteidigung konnte nicht anders
Bei der Verlesung seines Plädoyers weist Rechtsanwalt Penneke Ähnlichkeit mit einem Redner bei rechten Kundgebungen auf. Er selbst führt seine laute Aussprache auf den corona-bedingten Mundnasenschutz zurück. Obwohl er zu Anfang betont, dass sich das Verfahren nicht eigne, um „politische Äußerungen abzugeben“, verweist er ohne Zusammenhang auf die RAF-Prozesse im gleichen Saal. Im Anschluss hatte er sich bei Instagram über diesen Vergleich wie ein Lausbub gefreut. Mit Blick auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft führt er aus, dass eine psychiatrische Unterbringung für ihn einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe gleiche: „Da kann mir keiner erzählen, dass man nach drei Jahren wieder rauskommt“. Anschließend wiederholt er seine Begründung noch einmal für die „Laien, die zuhören“ und schaut dabei herablassend auf die Pressebank sowie zu den Zuschauenden. Insgesamt ist das Plädoyer eine Selbstinszenierung des Rechtsanwalts, der beständig betont, wie sehr er sich für M. eingesetzt habe und wie hilfreich er für ihn gewesen sei. Zuguterletzt wirft Penneke der Polizei schlechte Ermittlungsarbeit vor, da diese ein Waffenmodell, mit dem M. auf einem Foto posiert, falsch benannt habe. Auch frauenfeindlich könne sein Mandant nicht sein, da er eine ausgesprochen gute Beziehung zu seiner Cousine pflege.
Auf die angeführten Beweise geht Rechtsanwalt Penneke kaum ein und spricht ihnen jegliche Beweiskraft ab. Dementsprechend fällt seine Strafforderung aus: „Ich beantrage hier für Herrn M. den Freispruch.“ Der zweite Verteidiger, Rechtsanwalt Koch, schließt sich dieser Einschätzung wortkarg an.
Nazis im „Darknet“
Mit der Inhaftierung von André M. verschwindet vorerst die „NationalSozialistischeOffensive“ von der Bildfläche. Gleichgesinnte Neonazis machen allerdings ungeniert weiter mit anonymen Bedrohungen weiter und beziehen sich als „NSU 2.0″ mit einer Bombendrohung gegen das Landgericht am ersten Prozesstag direkt auf André M.
Das alles zeigt, dass es sich bei M. durchaus nicht um einen Einzeltäter handelt. Die „NSO“ stellte sich als Teil eines rechten Netzwerkes, gar als militanter Arm von „Blood&Honour“ dar. Selbst wenn M. seine Gesinnungsgenossen nicht persönlich und offline getroffen hat, so fühlte er sich doch als Teil ihres Netzwerkes bestärkt.
André M. hatte Kontakt mit anderen neonazistischen Internet-Usern, wie einer Person, die unter dem Pseudonym „Wehrmacht“ agiert. „Wehrmacht“ verschickte ebenfalls Drohmails und nahm darin Bezug zu Bombendrohungen der „NSO“. André M. und „Wehrmacht“ tauschten sich im „Darknet“ mit weiteren Personen aus. In einem Forum ging es um Waffen, antisemitische Gewaltfantasien und das Anzünden von Unterkünften für Geflüchtete.
Dass M. Kontakt zu „Wehrmacht“ hatte, räumte er im Laufe des Verfahrens letztlich selbst ein. Unter dem Namen „Stahlgewitter“ habe er sich mit „Wehrmacht“ geschrieben und ließ sich von dem „Brieffreund“ für seine Taten beglückwünschen. M. stellte sich selbst bewusst in Zusammenhang mit Usern wie „Wehrmacht“ und dem militanten Neonazi-Netzwerk „Blood&Honour“, um sich als gefährlicher darzustellen.
Während des Prozesses gegen M. kam es immer wieder zu Drohungen gegen Journalist*innen und das Gericht. So erhielt das Gericht unter anderem eine E‑Mail, in der zu lesen war, dass die Absender die Interessen von André M. vertrete und er in Ruhe gelassen werden solle. Unterzeichnet wurde diese Email mit dem Namen „NSU 2.0“. Schon am ersten Verhandlungstag im April mussten Teile des Gerichts nach einer Bombendrohung vom „NSU 2.0“ gesperrt und geräumt werden. „Die Vertreter der Lügenpresse werden in ihrem eigenen Blut vor Saal 220 ersaufen“, hieß es in der Drohmail.
Jetzt ist „Staatsstreichorchester“ dran
Auch in E‑Mails vom Nazi-Drohmailversender „Staatsstreichorchester“ wurde Bezug zu André M. und seiner Inhaftierung genommen. Ein weiteres Exempel, dass die Gefahr einer sich im Internet vernetzenden und radikalisierenden rechten Szene offenlegt, von der weitere Bedrohungen zu erwarten sind. Ein unter dem Pseudonym Staatsstreichorchester agierender Schreiber muss sich indes seit letzter Woche wegen des Vorwurfs der schweren räuberischen Erpressung vor dem Amtsgericht Berlin verantworten. Er hatte den britischen National Health Service um Millionenbeträge erpresst.