
Mord, schwere Körperverletzung und das Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen — es sind schwere Verbrechen, für deren Androhung André M. sich vor Gericht verantworten muss. In mehr als hundert Drohmails an Personen des öffentlichen Lebens und Behörden soll M. seiner Wut auf die Welt Luft gemacht haben. Von dem Plan, die in den Drohbotschaften beschriebenen Verbrechen auch in die Tat umzusetzen, ist aufgrund der Sachlage auszugehen. Ausgesagt dazu hat M. bisher nicht, der Angeklagte streitet alle Vorwürfe ab.
Seit Ende April kann man im Landgericht Berlin in Moabit das Aufrollen der Ermittlungsergebnisse in der Strafsache mitverfolgen und sich selbst ein Bild machen von einer, von nationalsozialistischen Ideologien befeuerten, kranken Seele. Ende Juni gibt es zum ersten Mal auch einen privaten Einblick in das Gedankenleben von André M.: An zwei Verhandlungstagen werden zahllose verstörende Sprachnachrichten von ihm an eine Chatpartnerin abgespielt.
Der 32-jährige spricht über seinen Medikamentenmissbrauch, Tötungsphantasien, die Beschaffung von Waffen. Belastbare Aussagen, bei denen man sich unweigerlich fragt, wieso er sie über die vergleichbar unsichere Chatplattform WhatsApp versandte. Das bisherige Verfahren hat gezeigt, dass sich M. durchaus mit Verschlüsselungstechnologien auskennt, die es der Polizei schwer machen auf bestimmte Daten zuzugreifen. Die Drohmails versendete er vermutlich über einen sogenannten Tor-Browser, über den sich der Absender nicht direkt zurückverfolgen lässt. Mit seiner Chatpartnerin sprach er über WhatsApp im November 2018 jedoch recht frei heraus. War er einfach nur unvorsichtig oder war es ihm schlicht egal, dass solche Informationen ans Licht kommen könnten? Oder lag es daran, dass seiner „Gesprächspartnerin“ schlicht kein anderes Medium zur Verfügung stand?
„Sie werden sich noch wünschen, sie hätten therapiert“
Vor Gericht lauscht der Angeklagte seiner eigenen Stimme mit norddeutschem Dialekt konzentriert. An einigen wenigen Stellen muss er lächeln. Witze, die scheinbar nur er versteht. Es entsteht das Profil eines Menschen mit psychopathischen Zügen. Wenn anderen Leid zugefügt werde, dann sei ihm das egal, sagt M.. In mehreren Nachrichten spricht er auch über seine manipulativen Fähigkeiten. Er berichtet stolz, wie er die Ärzt*innen im Maßregelvollzug, in dem er mehrere Jahre einsaß, bewusst getäuscht habe, um entlassen zu werden. „Die kann man richtig einfach verarschen“, sagt er, obwohl sie doch eigentlich geschult sein müssten, „solche Leute“ wie ihn zu erkennen.
Der dürre Mann im schwarzen Kapuzen-Pulli ist ein „Lonely Wolf“. Ein als Kind diagnostizierter Herzfehler — einhergehend mit langen Krankenhausaufenthalten und starken Einschränkungen einer Lebensqualität — hätten die bei ihm diagnostizierte „schwere Persönlichkeitspathologie“ ausgelöst, sagt er. Die letzten Jahre lebte er ohne viele zwischenmenschliche Kontakte in einem mit Nazi-Fahnen tapezierten Zimmer bei seinen Eltern. Der mehrfach vorbestrafte Mann verließ das Haus so gut wie nie und flüchtete sich stattdessen in die tiefen Abgründe des Internets. Auch besagte Adressatin der Sprachnachrichten, mit der sich im Jahr vor seiner jüngsten Verhaftung intensiv über soziale Medien austauschte, hatte er übers Netz kennengelernt, in einer Facebook-Gruppe für Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Im lockeren Small-Talk-Ton berichtet er seiner Vertrauten via Voicemessage von seinen bisherigen Straftaten, seinem aggressiven Verhalten als Kind und von seinen Gewaltphantasien. Ein Selbstmordattentat mit möglichst vielen Opfern sei auf jeden Fall eine Option für die Zukunft, sagt M. und deutet an, dass er nicht mehr lange warten könne, bis zum „großen Finale“. Eine klare Botschaft, die den Schluss erlaubt, dass das Land mit M.s Verhaftung haarscharf an einer weiteren blutigen Tat aus der Szene einer diffusen terror-affinen Rechten vorbeigeschlittert ist.
Eben kein „verwirrter Einzeltäter“
Vor allem unter dem Namen „Nationalsozialistische Offensive“ soll der Angeklagte seine gewaltvollen Drohbotschaften an Polizei, Politiker*innen, linke Akteur*innen und „Repräsentanten des Kapitalismus“ versendet haben. Doch auch Mittäterschaft für Nachrichten eines noch unbekannten, unter dem Pseudonym „Wehrmacht“ agierenden Drohbriefschreibers werden ihm zur Last gelegt. Analysen von M.s Computer durch Polizeispezialist*innen hatten ergeben, dass der Angeklagte sich über das sogenannte Darknet mit „Wehrmacht“ und anderen Personen seiner Gesinnung verbrüderte. Der Fall macht damit aufmerksam auf eine Welt von Menschen abseits der einschlägigen Nazi-Szene, die in den geheimen Foren des Internets eine Plattform für ihre rechten Ideologien und bedrohlichen Triebe finden. Ein nicht minder gefährlicher Auswuchs einer Szene, die immer wieder auch durch brutale Taten bis hin zu Anschlägen und Morden für Angst und Schrecken sorgt. Zuletzt gezeigt hatte das auch der rassistische Massenmord in Hanau im Februar, wo sich der Täter ebenfalls über das Internet radikalisierte.
Darauf macht auch die LINKE-Politikerin Martina Renner aufmerksam, die in dem Prozess die Nebenklage innehat. Gegenüber konkret sagt sie: „Ich möchte, dass klar wird, dass solche Drohungen nicht harmlos, die Täter digital vernetzt und teilweise seit Jahren aktiv sind. Wir müssen von Strukturen und von Zugang zu Waffen und Sprengstoff ausgehen. Es sollte darüber gesprochen werden, und nicht zuerst über den psychischen Knacks des Angeklagten.“ Mitte Juni macht auch Renner eine Aussage vor Gericht. Sie berichtet von den vielen brutalen Morddrohungen, die sie in ihrer Funktion als Person des öffentlichen Lebens im Bereich der antifaschistischen Arbeit seit Jahren erreichen. Darunter auch solche von M..
Die Verteidigung M.s bringt eine Liste von weiteren Sprachnachrichten ein, die im Gericht gehört werden sollen. Darin tauschen sich M. und seine Netz-Freundin unter anderem fürsorglich über den Hund des Angeklagten aus und die Chatpartnerin spricht über ihre eigenen psychischen Störungen. Ein fast verzweifelter Versuch, die Schwere der Aussagen zu relativieren, deren ganzer Umfang hier aufzuzählen noch mehrere Seiten füllen könnte.
Das Gericht ist bis Mitte Juli in Sommerpause, danach sind noch weitere 16 Verhandlungstage bis zur geplanten Urteilsverkündung Anfang Oktober angesetzt. Das Anhören von weiteren Sprachnachrichten ist geplant. angesetzte Termine: 17.07., 20.07., 21.07., 23.07., 11.08., 13.08., 18.08., 20.08., 25.08., 27.08., 01.09., 03.09., 04.09., 28.09., 29.09., 01.10., jeweils um 09:15 im Landgericht Berlin in der Turmstraße in Moabit.