„Wir wollen eine Diskussion zwischen Kunst und Politik starten“, erklärt Selda Asal, die Gründerin des Apartment Projects in ihrer Eröffnungsrede zur Ausstellung „AARC#1 – TORTU“. In zwei Berliner Projekträumen werden am letzten Juni-Wochenende im Rahmen einer multimedialen Ausstellung sieben Arbeiten präsentiert, die sich die große Frage nach den Auswirkungen von Rassismus stellen – und persönliche Antworten liefern. Die beiden Projekträume — das Apartment Project in Neukölln und das Errant sound in Mitte — könnten unterschiedlicher nicht sein: Geschliffene Dielen und Stuckdecken in einem Hinterhof in Berlin-Mitte und kahler Betonboden mit Industriecharme in einer Nebenstraße der Sonnenallee in Neukölln. Doch die Betreiber*innen der beiden Räume verbindet das gemeinsame Bedürfnis, künstlerische Antworten zu finden auf ein politisches Thema. Ein Thema, das in den letzten Monaten auch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs immer mehr in Atem hält. Deshalb gründeten die Künstler*innen nach dem rassistischen Massenmord in Hanau im Februar das „Artists against Racism collaborative“ (AARC).
Es handele sich um ein sehr fragiles Projekt, sagt Selda Asal, entstanden in einer Zeit sich überschlagender Ereignisse. Drei der Werke seien erst in den letzten Wochen entstanden, nachdem Ende Mai die Ermordung George Floyds durch die Polizei in Minneapolis vor laufenden Handykameras erneut auf unfassbar brutale Weise deutlich gemacht hat, dass Rassismus tötet.
Auf der Suche nach der Wurzel des Übels
In den Räumlichkeiten des Errant Sound in Berlin Mitte, einem offenen Raum für experimentelle Ton-Kunst, werden an drei Tagen sechs sehr unterschiedliche Werke präsentiert. Durch die abgedunkelten Räume mit hohen Decken hallen verschiedene Klänge und Stimmen von multimedialen Exponaten, die Raumgrenzen sind nur durch weiße Stoffvorhänge angedeutet. Die Vermischung der Klänge kreiert einen Soundteppich, der einen mitnimmt auf einen Trip in die Abgründe des Rassismus‘. TORTU – das türkische Wort für Residuum, Überrest, Ablagerung. Was bleibt vom Rassismus? Wie kann man die Folgen von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Gewalt sicht- und hörbar machen? Die Frage zieht sich durch alle ausgestellten Exponate.
Über Kopfhörer lässt sich dazu eine mögliche Antwort von Laura Mello und Melih Sarigöl anhören. Zehn Minuten vielfältiger Geräuschkulisse, „Überreste“ von Rassismus. Doch wer hört die Signale? Bei der Antwort auf die Frage wird der Kopf schwer. In der Ausstellung wird jedoch nicht nur mit Sound experimentiert: Zwei Videos, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit der Thematik auseinandersetzen, werden über Leinwand und Fernseher abgespielt. Ein Kurzfilm: drei Frauen, die für „die Geschichte der unterdrückten und vernichteten Menschen und Minderheiten in der anatolischen Geographie“ stehen, heißt es im Ankündigungsflyer über das dystopische Werk von Emre Birişmen. Im Nebenraum werden in fast journalistischer Manier Bilder und Stimmen von Teilnehmenden der „Black Lives Matter“-Demonstration am Alexanderplatz in Berlin Anfang Juni dieses Jahres gezeigt, eingefangen von Özlem Sarıyıldız und Bora Yediel. Bilder und Töne, die von Gewalt und Gefahr gesellschaftlichen Rassismus‘ erzählen.
Doch nicht nur die Perspektiven von Betroffenen von Rassismus und sich solidarisierenden Demonstrant*innen werden angesprochen. Eine kraftvolle Soundinstallation von Andrei Cucu thematisiert die Rolle der Täter*innen. Zwei zu der Form von Lungenflügeln zusammengedrückte, schwarz bemalte Papierbögen hängen in Brusthöhe an einer Wand — und atmen. Flache, hastige Atemzüge, dann ein Knistern und Stille. Der über Smartphones audiovisuell auf erschütternde Weise dokumentierte Mord an George Floyd in den USA habe ihn dazu veranlasst, sich aus dem theoretischen Diskurs um Ersticken und Rassismus zu lösen und praktisch etwas zu der Thematik zu erarbeiten, erklärt der junge Künstler mit Nachdruck. Er habe mit dem wütenden Atmen des Täters experimentieren und so „das Böse in die Hände nehmen wollen“. Denn wenn man sich auf die Suche nach Lösungen mache, dann müsse man zuerst auch untersuchen, wo der Rassismus herkomme, so Cucu.
Der „stille Rassismus“
Zusätzlich zu der Ausstellung in Mitte werden am Freitagabend zwei Live-Präsentationen im Apartment Project in Neukölln dargeboten. Der ursprünglich in Istanbul gegründete Kunstraum agiert seit 2012 in Neukölln als Kunstverein und bietet Platz für diverse künstlerische Kollaborationen interdisziplinärer Art.
Der Abend beginnt mit einer Buchpräsentation von Oliver Möst. Ein von Selda Asal als „deutsche Perspektive“ angekündigtes Projekt. Möst präsentiert einen sehr persönlichen Bildband, bestehend aus zahlreichen Familienfotos – gefunden in einer verstaubten Kiste voll mit Fotos von seinem Großvater. Doch das Buch wurde nie veröffentlicht. Seine Familie habe sich dagegen gesperrt, erzählt Möst, da sich auch einige wenige Bilder aus dem nationalsozialistischem Kontext in dem Buch befinden, unter anderem vom Tag der Unterzeichnung des Münchener Abkommens im Jahr 1938. Ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung, dass Mösts Großvater wohl veranlasst hatte, selbst nach München zu fahren, wie die Bilder einer Parade in der Innenstadt von diesem Tag zeigen. Die Familie hat von diesem „Ausflug“ wohl erst durch die Fotos erfahren. Der Fotograf berichtet, dies sei ein generelles Muster in seiner Familie: Bei zahlreichen Versuchen, mehr über die Bezüge seiner Verwandten zum Nationalsozialismus zu erfahren, sei er immer nur auf eine Mauer des Schweigens oder Leugnung gestoßen.
Die Präsentation fällt ein wenig aus dem Rahmen der Ausstellung, die sich sonst eher den aktuelleren Folgen von Rassismus widmet. Und doch schafft es der Künstler eine Brücke zu heute zu bilden: Die Leugnung der Teilhabe an menschenverachtenden Ideologien und Praktiken, wie Möst sie anhand seiner eigenen Familiengeschichte erlebt hat, nehme er auch in der heutigen Zeit als „stillen Rassismus“ wahr. Denn auch heute werde noch viel zu viel geschwiegen und die strukturelle Dimension von Rassismus nicht genug thematisiert. Die Präsentation zeigt deutlich, wie sehr private Geschichten immer auch in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext stehen: Das Werk erzählt nicht nur die Geschichte einer deutschen Familie, es stellt viel mehr auch die Frage nach der Erinnerungskultur eines ganzen Landes.
Barfuß über Scherben
Der zweite Teil der Abendveranstaltung zeigt die Diversität an Ansätzen, denen das Kunstprojekt Platz bietet. Im vorderen Teil des kahlen Raumes mit Betonboden in Neukölln läuft ein Kurzfilm von Çiğdem Üçüncü über die Anschläge in Hanau. Man sieht das mühsame Zusammenkleistern von demolierten Plakaten der Opfer des Anschlags. In Kleinstarbeit werden ausgekratzte Augen der Gesichter der Opfer wieder zusammengeklebt. Zeitgleich beginnt im hinteren Teil des Raumes eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren und schwarzer Kleidung eine Sound-Performance. Als die Künstlerin anfängt mit einer Glasscherbe über das große Glasfenster im Raum zu kratzen, wird es still im Publikum. Wegen der Corona-Virus-Auflagen dürfen nur zwölf Menschen im Raum selbst an der Performance teilnehmen. Aber auch draußen, vor den bodentiefen Fenstern des Ausstellungsraums haben sich gut 20 Menschen versammelt und folgen dem Geschehen gebannt durch die Fenster und per Video- und Tonübertragung.
Die Künstlerin Steffi Weismann kratzt mit Glas auf Beton, mit Glas auf Glas und erzeugt so verschiedene Klänge und Melodien. Mikrofone verstärken den Sound des Knackens unter ihren Fußsohlen, als sie barfuß über Glasscherben läuft ohne eine Miene zu verziehen. Fast möchte man sich an manchen Stellen die Ohren oder Augen zuhalten, wenn der Ton zu grell wird oder die Vorstellung der Scherben an der Sohle zu unerträglich, doch man kann nicht. So ist das wohl auch mit dem Rassismus. Für Weismann drücke das Glas Verletzlichkeit aus, es solle aufmerksam machen auf das, was bleibt nach der Gewalt, sagt die Künstlerin im Gespräch. Inspiriert worden zu der Performance sei sie, als sie hörte, dass an einem Tatort des Anschlags in Hanau im Februar auch Glasscheiben zu Bruch gegangen waren.
Eine große Plexiglasscheibe auf dem Boden des Ausstellungsraumes, übersät mit Splittern und Scherben, stellt diese „Reste“ rassistischer Gewalt bildlich nach. Es ist eine Form von Gewalt, die auch in Neukölln eine brennende Aktualität hat, denn das Viertel ist seit Jahren und erst vor einer Woche wieder von Nazi-Anschlägen betroffen. Nach dem Brandanschlag auf einen Lieferwagen in der vorangegangen Woche fand deshalb am Tag der Kunstveranstaltung auch eine große Demonstration am Hermannplatz gegen diesen anhaltenden rechten Terror statt.
AARC – Der Name des Kollektivs habe eine doppelte Bedeutung, schreiben die Künstler*innen online. Er verweise zum einen auf das französische Wort für Bogen oder Brücke, „Arc“ — eine Brücke zwischen Künstler*innen verschiedener Positionierungen. Zum anderen bilde er eine Assoziation zu dem Ausdruck „AARGHH“, einem phonetischen Schrei aus Verzweiflung, Angst und Erschöpfung, wie er in Comics und Graphic Novels verwendet wird. Dieses „AARGH“ spürt man in der Ausstellung deutlich, selbst wenn man die Ohnmacht gegenüber Rassismus als weiße Person nie wird nachempfinden können.
Klare, gemeinsame Antworten zu geben auf die Frage nach den „Überresten“ von Rassismus vermag die Ausstellung nicht, denn dafür ist die Frage vielleicht zu groß und die künstlerischen Perspektiven zu breit gefächert. Doch das ist vermutlich auch nicht das Ziel des Projekts, will es doch eher den Anstoß eines künstlerischen Diskurses zu dem Thema bieten — eine Umwandlung von Ohnmacht in kreative politische Kunst. Der Ausstellungstitel lautet „AARC#1“, denn die Ausstellung sei erst der Beginn einer längerfristigen Zusammenarbeit, berichten die Künstler*innen. Ein weiteres Projekt für September sei schon geplant.