TORTU — Was vom Rassismus bleibt

„Asphyx“ von And­rei Cucu. Ein Werk in der Aus­stel­lung „AARC#1 — TORTU“, das ein­drück­lich ver­sucht, die kom­ple­xen Dyna­mi­ken von Ras­sis­mus sicht- und hör­bar zu machen

Wir wol­len eine Dis­kus­si­on zwi­schen Kunst und Poli­tik star­ten“, erklärt Sel­da Asal, die Grün­de­rin des Apart­ment Pro­jects in ihrer Eröff­nungs­re­de zur Aus­stel­lung „AARC#1 – TORTU“. In zwei Ber­li­ner Pro­jekt­räu­men  wer­den am letz­ten Juni-Wochen­en­de im Rah­men einer mul­ti­me­dia­len Aus­stel­lung sie­ben Arbei­ten prä­sen­tiert, die sich die gro­ße Fra­ge nach den Aus­wir­kun­gen von Ras­sis­mus stel­len – und per­sön­li­che Ant­wor­ten lie­fern.  Die bei­den Pro­jekt­räu­me — das Apart­ment Pro­ject in Neu­kölln und das Errant sound in Mit­te — könn­ten unter­schied­li­cher nicht sein: Geschlif­fe­ne Die­len und Stuck­de­cken in einem Hin­ter­hof in Ber­lin-Mit­te und kah­ler Beton­bo­den mit Indus­triechar­me in einer Neben­stra­ße der Son­nen­al­lee in Neu­kölln. Doch die Betreiber*innen der bei­den Räu­me ver­bin­det das gemein­sa­me Bedürf­nis, künst­le­ri­sche Ant­wor­ten zu fin­den auf ein poli­ti­sches The­ma. Ein The­ma, das in den letz­ten Mona­ten auch den gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Dis­kurs immer mehr in Atem hält. Des­halb grün­de­ten die Künstler*innen nach dem ras­sis­ti­schen Mas­sen­mord in Hanau im Febru­ar das „Artists against Racism col­la­bo­ra­ti­ve“ (AARC).

Es han­de­le sich um ein sehr fra­gi­les Pro­jekt, sagt Sel­da Asal, ent­stan­den in einer Zeit sich über­schla­gen­der Ereig­nis­se. Drei der Wer­ke sei­en erst in den letz­ten Wochen ent­stan­den, nach­dem Ende Mai die Ermor­dung Geor­ge Floyds durch die Poli­zei in Min­nea­po­lis vor lau­fen­den Han­dy­ka­me­ras  erneut auf unfass­bar bru­ta­le Wei­se deut­lich gemacht hat, dass Ras­sis­mus tötet.

Auf der Suche nach der Wur­zel des Übels 

In den Räum­lich­kei­ten des Errant Sound in Ber­lin Mit­te, einem offe­nen Raum für expe­ri­men­tel­le Ton-Kunst, wer­den an drei Tagen sechs sehr unter­schied­li­che Wer­ke prä­sen­tiert. Durch die abge­dun­kel­ten Räu­me mit hohen Decken hal­len ver­schie­de­ne Klän­ge und Stim­men von mul­ti­me­dia­len Expo­na­ten, die Raum­gren­zen sind nur durch wei­ße Stoff­vor­hän­ge ange­deu­tet. Die Ver­mi­schung der Klän­ge kre­iert einen Sound­tep­pich, der einen mit­nimmt auf einen Trip in die Abgrün­de des Ras­sis­mus‘.  TORTU – das tür­ki­sche Wort für Resi­du­um, Über­rest, Abla­ge­rung. Was bleibt vom Ras­sis­mus? Wie kann man die Fol­gen von Stig­ma­ti­sie­rung, Aus­gren­zung und Gewalt sicht- und hör­bar machen? Die Fra­ge zieht sich durch alle aus­ge­stell­ten Exponate.

Über Kopf­hö­rer lässt sich dazu eine mög­li­che Ant­wort von Lau­ra Mel­lo und Melih Sarig­öl anhö­ren. Zehn Minu­ten viel­fäl­ti­ger Geräusch­ku­lis­se, „Über­res­te“ von Ras­sis­mus. Doch wer hört die Signa­le? Bei der Ant­wort auf die Fra­ge wird der Kopf schwer. In der Aus­stel­lung wird jedoch nicht nur mit Sound expe­ri­men­tiert: Zwei Vide­os, die sich aus ver­schie­de­nen Blick­win­keln mit der The­ma­tik aus­ein­an­der­set­zen, wer­den über Lein­wand und Fern­se­her abge­spielt. Ein Kurz­film: drei Frau­en, die für „die Geschich­te der unter­drück­ten und ver­nich­te­ten Men­schen und Min­der­hei­ten in der ana­to­li­schen Geo­gra­phie“ ste­hen, heißt es im Ankün­di­gungs­fly­er über das dys­to­pi­sche Werk von Emre Biriş­men. Im Neben­raum wer­den in fast jour­na­lis­ti­scher Manier Bil­der und Stim­men von Teil­neh­men­den der „Black Lives Matter“-Demonstration am Alex­an­der­platz in Ber­lin Anfang Juni die­ses Jah­res gezeigt, ein­ge­fan­gen von Özlem Sarıyıl­dız und Bora Yediel. Bil­der und Töne, die von Gewalt und Gefahr gesell­schaft­li­chen Ras­sis­mus‘ erzählen.

Doch nicht nur die Per­spek­ti­ven von Betrof­fe­nen von Ras­sis­mus und sich soli­da­ri­sie­ren­den Demonstrant*innen wer­den ange­spro­chen. Eine  kraft­vol­le Sound­in­stal­la­ti­on von And­rei Cucu the­ma­ti­siert die Rol­le der Täter*innen. Zwei zu der Form von Lun­gen­flü­geln zusam­men­ge­drück­te, schwarz bemal­te Papier­bö­gen hän­gen in Brust­hö­he an einer Wand — und atmen. Fla­che, has­ti­ge Atem­zü­ge, dann ein Knis­tern und Stil­le. Der über Smart­phones audio­vi­su­ell auf erschüt­tern­de Wei­se doku­men­tier­te Mord an Geor­ge Floyd in den USA habe ihn dazu ver­an­lasst, sich aus dem theo­re­ti­schen Dis­kurs um Ersti­cken und Ras­sis­mus zu lösen und prak­tisch etwas zu der The­ma­tik zu erar­bei­ten, erklärt der jun­ge Künst­ler mit Nach­druck. Er habe mit dem wüten­den Atmen des Täters expe­ri­men­tie­ren und so „das Böse in die Hän­de neh­men wol­len“. Denn wenn man sich auf die Suche nach Lösun­gen mache, dann müs­se man zuerst auch unter­su­chen, wo der Ras­sis­mus her­kom­me, so Cucu.

Der „stil­le Rassismus“

Zusätz­lich zu der Aus­stel­lung in Mit­te wer­den am Frei­tag­abend zwei Live-Prä­sen­ta­tio­nen im Apart­ment Pro­ject in Neu­kölln dar­ge­bo­ten. Der ursprüng­lich in Istan­bul gegrün­de­te Kunst­raum agiert seit 2012 in Neu­kölln als Kunst­ver­ein und bie­tet Platz für diver­se künst­le­ri­sche Kol­la­bo­ra­tio­nen inter­dis­zi­pli­nä­rer Art.

Der Abend beginnt mit einer Buch­prä­sen­ta­ti­on von Oli­ver Möst. Ein von Sel­da Asal als „deut­sche Per­spek­ti­ve“ ange­kün­dig­tes Pro­jekt. Möst prä­sen­tiert einen sehr per­sön­li­chen Bild­band, bestehend aus zahl­rei­chen Fami­li­en­fo­tos – gefun­den in einer ver­staub­ten Kis­te voll mit Fotos von sei­nem Groß­va­ter. Doch das Buch wur­de nie ver­öf­fent­licht. Sei­ne Fami­lie habe sich dage­gen gesperrt, erzählt Möst, da sich auch eini­ge weni­ge Bil­der aus dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schem Kon­text in dem Buch befin­den, unter ande­rem vom Tag der Unter­zeich­nung des Mün­che­ner Abkom­mens im Jahr 1938. Ein Ereig­nis von welt­his­to­ri­scher Bedeu­tung, dass Mösts Groß­va­ter wohl ver­an­lasst hat­te, selbst nach Mün­chen zu fah­ren, wie die Bil­der einer Para­de in der Innen­stadt von die­sem Tag zei­gen. Die Fami­lie hat von die­sem „Aus­flug“  wohl erst durch die Fotos erfah­ren. Der Foto­graf berich­tet, dies sei ein gene­rel­les Mus­ter in sei­ner Fami­lie: Bei zahl­rei­chen Ver­su­chen, mehr über die Bezü­ge sei­ner Ver­wand­ten zum Natio­nal­so­zia­lis­mus zu erfah­ren, sei er immer nur auf eine Mau­er des Schwei­gens oder Leug­nung gestoßen.

Die Prä­sen­ta­ti­on fällt ein wenig aus dem Rah­men der Aus­stel­lung, die sich sonst eher den aktu­el­le­ren Fol­gen von Ras­sis­mus wid­met. Und doch schafft es der Künst­ler eine Brü­cke zu heu­te zu bil­den: Die Leug­nung der Teil­ha­be an men­schen­ver­ach­ten­den Ideo­lo­gien und Prak­ti­ken, wie Möst sie anhand sei­ner eige­nen Fami­li­en­ge­schich­te erlebt hat, neh­me er auch in der heu­ti­gen Zeit als „stil­len Ras­sis­mus“ wahr. Denn auch heu­te wer­de noch viel zu viel geschwie­gen und die struk­tu­rel­le Dimen­si­on von Ras­sis­mus nicht genug the­ma­ti­siert. Die Prä­sen­ta­ti­on zeigt deut­lich, wie sehr pri­va­te Geschich­ten immer auch in einem gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Kon­text ste­hen: Das Werk erzählt nicht nur die Geschich­te einer deut­schen Fami­lie, es stellt viel mehr auch die Fra­ge nach der Erin­ne­rungs­kul­tur eines gan­zen Landes.

Bar­fuß über Scherben

Der zwei­te Teil der Abend­ver­an­stal­tung zeigt die Diver­si­tät an Ansät­zen, denen das Kunst­pro­jekt Platz bie­tet. Im vor­de­ren Teil des kah­len Rau­mes mit Beton­bo­den in Neu­kölln läuft ein Kurz­film von Çiğ­dem Üçün­cü über die Anschlä­ge in Hanau. Man sieht das müh­sa­me Zusam­men­kleis­tern von demo­lier­ten Pla­ka­ten der Opfer des Anschlags. In Kleinst­ar­beit wer­den aus­ge­kratz­te Augen der Gesich­ter der Opfer wie­der zusam­men­ge­klebt. Zeit­gleich beginnt im hin­te­ren Teil des Rau­mes eine Frau mit kur­zen schwar­zen Haa­ren und schwar­zer Klei­dung eine Sound-Per­for­mance. Als die Künst­le­rin anfängt mit einer Glas­scher­be über das gro­ße Glas­fens­ter im Raum zu krat­zen, wird es still im Publi­kum. Wegen der Coro­na-Virus-Auf­la­gen dür­fen nur zwölf Men­schen im Raum selbst an der Per­for­mance teil­neh­men. Aber auch drau­ßen, vor den boden­tie­fen Fens­tern des Aus­stel­lungs­raums haben sich gut 20 Men­schen ver­sam­melt und fol­gen dem Gesche­hen gebannt durch die Fens­ter und per Video- und Tonübertragung.

Die Künst­le­rin Stef­fi Weis­mann kratzt mit Glas auf Beton, mit Glas auf Glas und erzeugt so ver­schie­de­ne Klän­ge und Melo­dien. Mikro­fo­ne ver­stär­ken den Sound des Kna­ckens unter ihren Fuß­soh­len, als sie bar­fuß über Glas­scher­ben läuft ohne eine Mie­ne zu ver­zie­hen. Fast möch­te man sich an man­chen Stel­len die Ohren oder Augen zuhal­ten, wenn der Ton zu grell wird oder die Vor­stel­lung der Scher­ben an der Soh­le zu uner­träg­lich, doch man kann nicht. So ist das wohl auch mit dem Ras­sis­mus. Für Weis­mann drü­cke das Glas Ver­letz­lich­keit aus, es sol­le auf­merk­sam machen auf das, was bleibt nach der Gewalt, sagt die Künst­le­rin im Gespräch. Inspi­riert wor­den zu der Per­for­mance sei sie, als sie hör­te, dass an einem Tat­ort des Anschlags in Hanau im Febru­ar auch Glas­schei­ben zu Bruch gegan­gen waren.

Eine gro­ße Ple­xi­glas­schei­be auf dem Boden des Aus­stel­lungs­rau­mes, über­sät mit Split­tern und Scher­ben, stellt die­se „Res­te“ ras­sis­ti­scher Gewalt bild­lich nach. Es ist eine Form von Gewalt, die auch in Neu­kölln eine bren­nen­de Aktua­li­tät hat, denn das Vier­tel ist seit Jah­ren und erst vor einer Woche wie­der von Nazi-Anschlä­gen betrof­fen. Nach dem Brand­an­schlag auf einen Lie­fer­wa­gen in der vor­an­ge­gan­gen Woche fand des­halb am Tag der Kunst­ver­an­stal­tung auch eine gro­ße Demons­tra­ti­on am Her­mann­platz gegen die­sen anhal­ten­den rech­ten Ter­ror statt.

AARC – Der Name des Kol­lek­tivs habe eine dop­pel­te Bedeu­tung, schrei­ben die Künstler*innen online. Er ver­wei­se zum einen auf das fran­zö­si­sche Wort für Bogen oder Brü­cke, „Arc“ — eine Brü­cke zwi­schen Künstler*innen ver­schie­de­ner Posi­tio­nie­run­gen. Zum ande­ren bil­de er eine Asso­zia­ti­on zu dem Aus­druck „AARGHH“, einem pho­ne­ti­schen Schrei aus Ver­zweif­lung, Angst und Erschöp­fung, wie er in Comics und Gra­phic Novels ver­wen­det wird.  Die­ses „AARGH“ spürt man in der Aus­stel­lung deut­lich, selbst wenn man die Ohn­macht gegen­über Ras­sis­mus als wei­ße Per­son nie wird nach­emp­fin­den können.

Kla­re, gemein­sa­me Ant­wor­ten zu geben auf die Fra­ge nach den „Über­res­ten“ von Ras­sis­mus ver­mag die Aus­stel­lung nicht, denn dafür ist die Fra­ge viel­leicht zu groß und die künst­le­ri­schen Per­spek­ti­ven zu breit gefä­chert. Doch das ist ver­mut­lich auch nicht das Ziel des Pro­jekts, will es doch eher den Anstoß eines künst­le­ri­schen Dis­kur­ses zu dem The­ma bie­ten — eine Umwand­lung von Ohn­macht in krea­ti­ve poli­ti­sche Kunst. Der Aus­stel­lungs­ti­tel lau­tet „AARC#1“, denn die Aus­stel­lung sei erst der Beginn einer län­ger­fris­ti­gen Zusam­men­ar­beit, berich­ten die Künstler*innen. Ein wei­te­res Pro­jekt für Sep­tem­ber sei schon geplant.