Schmächtig, in sich zusammen gesunken und mit dem Charme eines introvertierten Computernerds sitzt der Schleswig-Holsteiner André M. auf der Anklagebank und schweigt beharrlich zu den Verbrechen, die ihm vorgeworfen werden.
Für über 100 Drohmails an Behörden, Personen des öffentlichen Lebens und Politiker*innen wird der Angeklagte verantwortlich gemacht. Unter dem Namen „nationalsozialistische Offensive“ soll er Mord- und Bombendrohungen versandt haben — triefend vor nationalsozialistischem Gedankengut und inklusive brutaler Gewaltphantasien. Im April hatte die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin begonnen und wird wohl noch einige Monate andauern. Das Verfahren ist komplex, denn unübersichtlich scheinen die verschiedenen Stränge der Ermittlungsarbeiten gegen M. und kompliziert die technologischen Details für den Nachweis internetbasierter Straftaten.
Dass der Angeklagte mit seinen Drohmails vermutlich nicht alleine agiert hat, offenbarte sich schon durch die Bombendrohung, die beim Prozessauftakt am 21. April das Landgericht erreichte. Das gesamte Gerichtsgebäude habe geräumt und nach Sprengstoff durchsucht werden müssen, berichtet Friedrich Burschel von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der an diesem Tag vor Gericht anwesend war. Gefunden worden sei nichts. Nach einer Stunde Wartens sei der Prozess mit der Verlesung der Anklageschrift fortgesetzt worden. Diese habe das Profil eines Menschen offenbart, der extrem rechts, frauenfeindlich und generell menschenverachtend ideologisiert ist, berichtet Burschel weiter vom ersten Prozesstag.
M.s blickt auf eine lange Liste von Vorstrafen für ungewöhnlich brutale Taten zurück. Das will zuerst gar nicht so recht zu der schmalen Person passen, die da im Gerichtssaal zwischen seinen beiden Anwälten fast zu verschwinden scheint. Im Laufe des Prozesses entsteht immer mehr das Bild eines Mannes mit zahlreichen Phobien und psychischen Störungen — der sein persönliches Unglück jedoch ziemlich bewusst in menschenverachtenden Ideologien und rechten Straftaten zu katalysieren versuchte, ehe er mutmaßlich zum Absender sprachlich sehr gewalttätiger Faxe und E‑Mails wurde. Die letzten Jahre verbrachte er irgendwo zwischen Gefängnis, Psychiatrie und einem kleinen Kämmerchen im Haus seiner Eltern.
„Er will einfach provozieren“
Über eine menschlichere Seite von M. berichtet die gleichaltrige Cousine des Angeklagten, die aussagt, M. besonders im Kindes- und Jugendalter sehr nah gestanden zu haben. Die junge Frau mit der pinken Bluse wirkt bemüht, reflektiert über die Beziehung zu ihrem Cousin und zu seinen Straftaten zu sprechen. Sie habe ihn anders kennengelernt als andere, zu ihr sei er immer liebevoll gewesen. „Aber er war schon immer ein Sturkopf und Klugscheißer“, sagt sie und lacht. Auch M. muss bei dieser Aussage lächeln — eine der wenigen Gefühlsregung, die er im bisherigen Verlauf der Verhandlungen offen zeigt. Die meiste Zeit sitzt er aufmerksam zwischen seinen Verteidigern, verzieht keine Miene und scheint dem Prozess so unbeteiligt zu folgen, als würde nicht gerade sein gesamtes hoch problematisches Privatleben auf dem Verhandlungstisch ausgerollt. Zwischendurch macht er sich Notizen auf einem Laptop und tuschelt mit seinem Verteidiger.
Über die rechte Gesinnung ihres Cousins will Julia G. nichts gewusst haben. Die Hakenkreuzfahnen, die auf Fotos von M.s Zimmer jede freie Fläche des düsteren Raumes zieren, habe sie gesehen. Aber das sei doch nur Provokation gewesen, ihr Cousin habe immer provozieren wollen. Als Jugendlicher wurde M. zum ersten Mal wegen dieser „Provokationen“ verurteilt. Mehr als fünf Jahre verbrachte er im Maßregelvollzug in einer psychiatrischen Klinik, unter anderem wegen Brandstiftung und Sachbeschädigung.
Seine erste Haft habe den Angeklagten verändert, sagt G.. Seitdem habe er nur noch zuhause im Internet gelebt, sei immer magerer geworden und habe fast keine sozialen Kontakte mehr gepflegt. Auch sie habe den Kontakt irgendwann reduziert. Sie habe einen „Cut“ gebraucht, denn mit seinen Taten ruiniere M. nicht nur sein eigenes Leben, sondern das der ganzen Familie, sagt sie. Man spürt das Unverständnis und das Leiden, das der Lebensweg ihres Cousins bei der jungen Frau auslöst.
Polizeikontakt: Hass und Seelsorge
Zu der Polizei habe M. kein gutes Verhältnis, berichtet Julia G. weiter. Einzig eine Polizistin habe es nach seiner letzten Haftentlassung 2018 gegeben, zu der so etwas wie ein Vertrauensverhältnis entstanden sei. Diese Polizistin sagt auch vor Gericht aus. Sie sei M.s persönliche „Sachbearbeiterin“ gewesen, verantwortlich für alle Delikte, die den Angeklagten betreffen würden. Im Zuge dessen habe sie M. mehrfach zuhause besucht und ihm angeboten, sich bei Bedarf mit ihr in Verbindung zu setzen. Dieses Angebot nahm der Angeklagte wahr. Mehrere E‑Mails hat er der Polizistin vor seiner jüngsten Verhaftung geschickt. Darin habe er sich über seinen psychischen Zustand ausgelassen und ihr von seiner Sozialphobie berichtet, von seiner Schlafstörung und den Nächten vorm Computer, erzählt die Polizistin. Warum sich M. der Polizeibeamtin gegenüber soweit öffnete und wie diese den Kontakt bewertet, wird nicht so recht deutlich während der Vernehmung. Die zierliche Frau berichtet sachlich über M.s private Psychoanalyse. „Auch Gedanken zur Brandstiftung hat er in den E‑Mails geäußert“ erklärt sie. M. sehe sich selbst dabei als „nicht therapierbar“, in eine geschlossene Einrichtung wolle er aber auf keinen Fall noch einmal.
Die umfangreichen E‑Mails an die Polizistin lieferten später einen entscheidenden Hinweis für die Ermittlungen: Eine Sprachwissenschaftlerin des Bundeskriminalamtes (BKA) bekam den Auftrag, die E‑Mails von M. zu analysieren und mit ausgewählten Drohmails der „Nationalsozialistischen Offensive“ (NSO) zu vergleichen. Und das Ergebnis ist eindeutig: „Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gibt es Autorenidentität“, erklärt die Sachverständige vor Gericht. Sie begründet dies mit einer hohen Übereinstimmung bei Schreib- und Grammatikfehlern sowie bei stilistischen Merkmalen auf allen sprachlichen Ebenen. Der Autor der Texte mache auffällig viele Fehler in jedem Bereich von Grammatik und Orthographie, aber habe gleichzeitig einen sehr großen Wortschatz und die Inhalte zeugten von Sachkenntnissen in bestimmten Bereichen. Ein Befund wie dieser sei ihr in 16 Jahren Berufserfahrung noch nicht untergekommen, erklärt die Sprachwissenschaftlerin. Dass jemand das Wort „Judikative“ im richtigen Kontext benutzt, aber falsch schreibt, das sei sehr selten.
Gruselige Funde auf dem Computer des Angeklagten
Zur Beweissicherung in dem Verfahren gab es außerdem umfangreiche Auswertungen von Computer (PC) und Mobiltelefon des Angeklagten. Vor Gericht berichten mehrere Mitarbeiter*innen der Polizei über die Sicherstellung von Chatnachrichten, Internetaktivitäten und Dokumenten auf dem Computer des Angeklagten. Deutlich wird dabei vor allem, wie schwierig es ist, jemandem Handlungen im Internet nachzuweisen, der sich ein bisschen mit Verschlüsselungstechnologien auskennt.
Und diese Kenntnisse scheint M. zu haben. Relevante Nachrichten versandte er über die verschlüsselte Plattform BitMessage, die sicherer ist als andere Messenger wie Facebook oder WhatsApp. Im Internet surfte er vermehrt über einen Tor-Browser, bei dem die Nachverfolgung von Daten sehr kompliziert ist, und über den man auch auf das so genannte Darknet zugreifen kann. Die Auswertungen offenbaren, dass der Angeklagte vermutlich viel in Deutschlands größtem Darknet-Forum „Deutschland im Deep Web“ unterwegs war, zu Themen wie Waffen schrieb und sich mit anderen Personen seiner Gesinnung vernetzte.
Viele Dateien auf M.s Computer sind gelöscht – und mit einem anderen Programm überschrieben worden, sodass sie sich nicht wieder aufrufen lassen. Dennoch gibt es einige Dokumente und Nachrichten, die zugänglich sind oder wiederhergestellt werden konnten. Im Gericht werden Bilder und Videos vom PC des Angeklagten in Augenschein genommen, die eine Polizistin ausgewertet hatte. Bilder von blutverschmierten Frauen, von Adolf Hitler, von einem Baby im Würgegriff mit der Unterschrift „Keine Angst, ist nur ein Türkenbaby“. Material, bei dem sich ein schwacher Magen schnell einmal umdreht und das mehr als deutlich die ideologische Positionierung, aber auch die gestörte Persönlichkeit des Angeklagten offenbart. Videos zeigen Anleitungen zum Bau von und Umgang mit Waffen und zu der Präparation von Sprengstoffen. Deutliche Indizien dafür, dass es tatsächlich nicht bei den Worten in den Bombendrohungen bleiben sollte, sondern Taten hätten folgen sollen und können.
Digitale Romanze mit Spätfolgen
Immer wieder taucht im Prozess auch der Name einer Chatpartnerin M.s auf. Diese Frau war es, die die Aufmerksamkeit der Polizei im Kontext der Bombendrohungen auf M. gelenkt hatte. Eine Polizistin berichtet: die junge Frau habe den Angeklagten wegen Beleidigung bei der Polizei angezeigt. Derbe Kränkungen und die in sexualisierter Sprache vorgebrachte Drohung, die persönlichen Daten der Frau auf Seiten für Sexarbeit zu veröffentlichen, seien der Grund dafür gewesen. In diesem Kontext habe die Frau bei der Polizei auch den Verdacht geäußert, M. könnte für die Drohmail an eine Behörde verantwortlich sein, bei der die selbst an dem Tag einen Termin gehabt habe.
Die beiden scheinen eine Art Beziehung über das Internet geführt zu haben. Persönliche Treffen gab es nicht, wie Zeug*innen aussagen. Beziehungen romantischer Art im realen Leben hat M. laut seiner Cousine generell nie gehabt und auch die Beziehung zu dieser „Brieffreundin“ scheint schwierig gewesen zu sein. Der Polizei gegenüber beschrieb sie den Kontakt als eine „Sucht“, von der sie nicht loskomme. Immer wieder werden Nachrichten der beiden verlesen, in denen die Frau dem Angeklagten ankündigt, den Kontakt mit ihm abzubrechen, oder ihn auch mal als „Nazischwein“ beleidigt. Auch sie selbst leidet wohl unter erheblichen psychischen Problemen und soll unter dem Borderline-Syndrom leiden. Einer Zeuginnen-Vorladung vor Gericht könne sie laut ärztlichem Attest aufgrund ihrer psychischen Situation nicht nachkommen, berichtet der Vorsitzende Richter.
Einschlägiges Verteidiger-Profil
Einer der beiden Verteidiger M.s, Thomas Penneke, verliest an einem der Prozesstage Ende Mai eine umfangreiche Stellungnahme. In dieser sagt er, M. bestreite alle Tatvorwürfe, er habe keine Drohmails verschickt. Der Angeklagte macht von seinem Recht zu schweigen Gebrauch. Dieses Schweigen des Angeklagten scheint strategisch zu sein, denn Penneke hat Erfahrung mit Prozessen aus der Neonaziszene. Er kommt selbst aus diesem Kontext. Das Antifaschistische Infoblatt berichtete schon 2011, der Rechtsanwalt sei in den 1990er Jahren unter anderem beim rechten Verein „Jugendhilfe e.V.“ aktiv gewesen und habe bei NPD-Demos als Ordner agiert. Seit seinem Jurastudium in den 2000ern vertrete er nun verschiedene Szene-Größen vor allem aus Mecklenburg-Vorpommern. Auf die weitere Verteidigungsstrategie darf man also gespannt sein. Auch darauf, wie das Gericht die Schuldfähigkeit des Angeklagten bewertet und ob es M.s Taten in einen größeren Kontext der neo-nationalsozialistischen Szene einordnet.
Für das öffentliche Verfahren sind Termine bis September 2020 angesetzt, die meist dienstags und donnerstags in der Turmstraße stattfinden (Vorläufige Daten: 16.06.2020, 18.06.2020, 23.06.2020, 25.06.2020, 26.06.2020, 17.07.2020, 20.07.2020, 21.07.2020, 23.07.2020, 11.08.2020, 13.08.2020, 18.08.2020, 20.08.2020, 25.08.2020,27.08.2020, 01.09.2020, 03.09.2020 jeweils 09:00 Uhr). Da es eine Zugangsbeschränkung nicht nur für die Presse, sondern auch für die Öffentlichkeit gibt, ist zeitiges Erscheinen angeraten.
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