120 Tage nach Hanau: Räume für Solidarität

Gedenk­stät­te vor der ehe­ma­li­gen Shi­sha-Lounge „Mid­night“ am Heu­markt. (Foto: Hei­ko Koch)

Ver­sio­ne italiana

Tra­duc­ción espaniola

Neun Men­schen mit (fami­liä­rer) Migra­ti­ons­ge­schich­te fan­den am 19. Febru­ar in Hanau einen gewalt­sa­men Tod. Ein 43-jäh­ri­ge Ras­sist erschoss sie und ver­wun­de­te zahl­rei­che wei­te­re Per­so­nen — zum Teil schwer. Am 19. Febru­ar betrat der Täter in der Hanau­er Innen­stadt gegen 22 Uhr zwei Loka­le in der Stra­ße „Am Heu­markt“ und erschoss drei Män­ner. In der Bar „La Vot­re“ den 33-jäh­ri­gen Wirt Kaloyan Vel­kov, in der Shi­sa-Lounge „Mid­night“ den 30-jäh­ri­gen Inha­ber Sedat Gür­büz und auf der Stra­ße den 34-jäh­ri­gen Fatih Sara­çoğ­lu. Anschlie­ßend fuhr er in den benach­bar­ten Stadt­teil Kes­sel­stadt. Auf dem Park­platz vor einem Hoch­haus am Kurt-Schu­ma­cher-Platz erschoss er Vili Vio­rel Păun.

Der 22-Jäh­ri­ge war ihm mit sei­nem Fahr­zeug gefolgt und hat­te ver­geb­lich ver­sucht, den Mör­der zu stop­pen und die Poli­zei zu Hil­fe zu rufen. Im Erd­ge­schoss des Hoch­hau­ses betrat der Mör­der die „Are­na Bar“, ein Lokal mit ange­schlos­se­nem Kiosk. Im Kiosk töte­te er den 37-jäh­ri­gen Mau­rer Gök­han Gül­te­kin, die 35-jäh­ri­ge allein­er­zie­hen­de Mut­ter Mer­ce­des Kier­pacz und den 23-jäh­ri­gen Instal­la­teur Fer­hat Unvar. Der 21-jäh­ri­ge Said Nesar Hash­e­mi und der 22-jäh­ri­ge Ham­za Kur­to­vić erschoss er im Bereich der Bar. Wei­te­re Besu­cher der Bar wur­den zum Teil schwer ver­letzt. Nach die­sen Mas­sa­ker fuhr der Täter in das unweit gele­ge­ne Haus sei­ner Eltern, wo er erst sei­ne Mut­ter und dann sich selbst erschoss.

Wie ein nor­we­gi­scher Faschist bei sei­nen Anschlä­gen in Oslo und auf der Insel Utøya im Juli 2011 und ein aus­tra­li­scher Faschist bei sei­nen Anschlä­gen auf zwei Moscheen im neu­see­län­di­schen Christ­church im März 2019 hin­ter­ließ auch der Hanau­er Mör­der ein Mani­fest. In die­sem Pam­phlet mit dem Titel „Bot­schaft an das gesam­te deut­sche Volk“ äußer­te er sich ras­sis­tisch, anti­se­mi­tisch, islam­feind­lich und miso­gyn (frau­en­feind­lich). Ein ähn­lich lau­ten­des Video stell­te er Tage vor sei­nen Mor­den auf You­Tube online. Sei­ne Äuße­run­gen sind zum einen mit unter­schied­li­chen Ele­men­ten aus Ver­schwö­rungs­theo­rien bespickt und zum ande­ren deu­ten sie auf erheb­li­che Per­sön­lich­keits­stö­run­gen des Täters hin.

Über 100 Tage sind seit dem Ter­ror­an­schlag ver­gan­gen. Und schon schei­nen die Toten im Schat­ten der Coro­na-Pan­de­mie in Ver­ges­sen­heit gera­ten zu sein. Aber die Ange­hö­ri­gen, Freund*innen und Bekann­te der Opfer kön­nen und wol­len die ras­sis­ti­sche Blut­tat nicht ver­ges­sen. Sie for­dern Auf­klä­rung über die Hin­ter­grün­de des Täters und den Ver­lauf der Tat, Soli­da­ri­tät für die vom Mas­sa­ker betrof­fe­nen Fami­li­en, Ange­hö­ri­gen und Freund*ìnnen und die Benen­nung und Bekämp­fung der poli­ti­schen Ideo­lo­gien und Ein­stel­lun­gen, die zu den Mor­den führ­ten. Dafür orga­ni­sie­ren sie sich in der „Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau“.

Hei­ko Koch hat sich Anfang Juni mit Seda Ard­al und Hagen Kopp von der „Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau“ im Gedenk­la­den in der Krä­mer­stra­ße 24 in Hanau über die Situa­ti­on vor Ort unterhalten.


Hei­ko Koch: Hal­lo Ihr bei­den, ihr gehört zur „Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau“. Bit­te stellt Euch kurz vor.

Seda Ard­al: Ich hei­ße Seda. Ich bin 30 Jah­re alt und hier in Hanau gebo­ren und auf­ge­wach­sen. Jetzt woh­ne ich im benach­bar­ten Offen­bach. Seit Beginn der Initia­ti­ve bin ich dabei.

Hagen Kopp: Ich hei­ße Hagen und kom­me auch aus Hanau. Ich bin hier in Hanau seit lan­gem poli­tisch aktiv. Vor allem in Unter­stüt­zung von geflüch­te­ten Men­schen und in anti­ras­sis­ti­schen Pro­jek­ten. So auch in einer Initia­ti­ve die sich „Soli­da­ri­tät statt Spal­tung“ nennt, einem Bünd­nis von gewerk­schaft­lich Akti­ven, migran­ti­schen Ver­ei­nen und anti­ras­sis­ti­schen Grup­pen. Das war auch der Kreis, der rela­tiv schnell fähig war, auf die Situa­ti­on vom 19. Febru­ar zu reagie­ren, die uns alle über­rascht und geschockt hat.

Hei­ko: Kann ich fra­gen, wie ihr bei­den per­sön­lich die­se Nacht vom 19. Febru­ar erlebt habt?

Gedenk­stel­le am ers­ten Tat­ort am Heu­markt. (Foto: Hei­ko Koch)

Seda: Mmmh, ja. Also am 19. Febru­ar bin ich rela­tiv früh ein­ge­schla­fen. Ich hat­te zu der Zeit einen sehr stres­si­gen Job. Als ich am Don­ners­tag­mor­gen auf­wach­te, hat­te ich auf mei­nem Han­dy unglaub­lich viel ver­pass­te Anru­fe von mei­nen Freund*innen und mei­ner Fami­lie. Das ers­te was ich gele­sen hat­te war „Schie­ße­rei in Hanau“. Da stand nichts von einem Nazi oder einem Ter­ror­an­schlag. Das war nur dar­ge­stellt als eine Schie­ße­rei. Ich habe dann als ers­tes mei­nen Vater ange­ru­fen. Er hat mir erzählt, dass einer sei­ner bes­ten Freun­de sei­nen Sohn bei die­sen Anschlag ver­lo­ren hat – Gök­han Gül­te­kin. Ich wuss­te, dass mein Bru­der mit ihm sehr gut befreun­det war und habe ihn ange­ru­fen. Also ich habe mei­nen Bru­der noch nie wei­nend erlebt. Und da … die­ses Tele­fo­nat hat mich krass mit­ge­nom­men. Wie mei­ne gan­ze Fami­lie. Auch die Wochen danach war ich so ziem­lich neben der Spur. Es hat ein paar Wochen gedau­ert bis ich wie­der Fuß fas­sen und klar den­ken konnte.

Hagen: Wir hat­ten an die­sem Mitt­woch­abend den 19. Febru­ar ein Tref­fen mit „Soli­da­ri­tät statt Spal­tung“ und waren danach noch zu fünft direkt hier um die Ecke in einem marok­ka­ni­schen Restau­rant zum Essen gegan­gen. So um halb zehn gin­gen wir aus­ein­an­der. Um kurz nach zehn hat dann ein Freund, der hier in einem migran­ti­schen Ver­ein aktiv ist und wohl als einer der ers­ten Infor­ma­tio­nen bekom­men hat­te, uns ange­schrie­ben, ob wir noch in der Nähe sei­en. Wir waren aus­ein­an­der gegan­gen, aber ihm war nicht klar, wo wir genau sind. Wir waren schon mit dem Auto unter­wegs und nicht mehr in der Nähe. Er berich­te­te, dass es hier angeb­lich sie­ben Tote gege­ben hät­te. Und ich dach­te nur, was ist denn jetzt los? Mei­ne spon­ta­ne Fra­ge an ihn war “Waren das Nazis oder was …? Er mein­te: „Nein“; was er von Freun­den wis­sen wür­de, sei, dass es sich es sich um einen ein­zel­nen Typ gehan­delt hät­te, der um sich geschos­sen hat. Der sei auch nicht ver­mummt oder mas­kiert gewe­sen. Nach dem Ein­druck sei­ner Freun­de wäre es völ­lig unklar, was dort vor­ge­fal­len war. Wir haben das alles dann in den Nach­rich­ten in der Nacht und am nächs­ten Mor­gen ver­folgt. Bei mir war es so, dass ich rela­tiv früh los bin. Ich war eigent­lich im Rah­men eines unse­rer anti­ras­sis­ti­schen Pro­jek­te dem „Alarm Pho­ne“ auf den Weg nach Mal­ta. Also ich hat­te früh mor­gens einen Flug. War also unter­wegs. Auf dem Weg zum Flug­ha­fen wur­de dann die Dimen­si­on des Angriffs klar und ich habe sofort mei­ne Rei­se abge­bro­chen. Ich bin zurück gefah­ren und dann haben wir ab 10 Uhr mor­gens in unse­rem besetz­ten Haus in der Metz­ger­stra­ße mit Kri­sen­tref­fen begon­nen. Ich selbst hat­te zwar nie­man­den per­sön­lich gekannt. Aber vie­le Leu­te aus der Metz­ger­stra­ße und aus der migran­ti­schen Com­mu­ni­ty kann­ten die ermor­de­ten Jungs.

Hei­ko: Was ist die Metzgerstraße?

Hagen: Die Metz­ger­stra­ße ist das besetz­te Haus in Hanau. Es ist der Treff­punkt der radi­ka­len Lin­ken seit über 30 Jah­ren. Dort machen wir auch unser Bera­tungs-Cafè für Flücht­lin­ge. In der Metz­ger­stra­ße und im DGB-Haus haben wir uns dann den gan­zen Tag, und auch die fol­gen­den Tage getrof­fen. Wir haben ver­sucht irgend­wie mit der Situa­ti­on umzugehen.

Ich muss sagen, dass trotz all dem, was wir seit vie­len, vie­len Jah­ren machen – vor allem rund um das Alarm Pho­ne, wo wir auch stän­dig mit dem Tod auf See, mit dem Ster­ben auf dem Meer kon­fron­tiert sind – also ich muss sagen, dass das, was hier pas­siert ist, so nah, so krass, mich echt aus der Bahn gewor­fen hat. Also ich war auch, bin auch bis heu­te, ein Stück weit ange­schla­gen davon und habe auch immer wie­der das Gefühl: „Das kann doch nicht wahr sein. Das muss ein fal­scher Traum sein.“ Also das war schon …. das aus­ge­rech­net unse­re klei­ne Stadt Hanau davon getrof­fen wur­de, die so eine star­ke Migra­ti­ons­ge­schich­te hat, das woll­te mir über­haupt nicht in den Kopf gehen.

Hei­ko: Wenn ich so höre, wie Euch das mit­ge­nom­men hat, dann habe ich den Ein­druck, dass ihr indi­rekt von der Tat trau­ma­ti­siert seid. Nehmt Ihr psy­cho­lo­gi­sche Bera­tung in Anspruch?

Seda: Also ich war schon vor dem Atten­tat in psy­cho­lo­gi­scher Behand­lung und bin es immer noch. Das The­men­spek­trum mei­ner Behand­lung hat sich nach dem Atten­tat stark ver­scho­ben. Und weil es nötig war, wur­den aus zwei­wö­chi­gen Ter­mi­nen wöchent­li­che. Um Bei­stand zu haben.

Hagen: Bei mir in der klei­nen Grup­pe sind wir über unse­re Arbeit bei „Alarm Pho­ne“ mit dem Ster­ben auf See kon­fron­tiert. Das ist über Tele­fon natür­lich distan­zier­ter, aber den­noch sehr nah. Auch sind wir oft in vie­len Län­dern und bekom­men die Ver­wand­ten und Ange­hö­ri­gen schiff­brü­chi­ger Geflüch­te­ter mit. Eine unse­rer aktivs­ten Freun­din­nen ist sehr oft bei Gedenk­kund­ge­bun­gen in Grie­chen­land. Und wir waren selbst im Febru­ar noch in Marok­ko bei einer Gedenk­ver­an­stal­tung anwe­send. Dies ist unser Erfah­rungs­hin­ter­grund. Den konn­ten wir in die­ser Situa­ti­on hier nut­zen. Also … die­se Form, die­se Ver­su­che mit dem Unfass­ba­ren, mit dem Tod umzu­ge­hen … da haben wir ein paar wich­ti­ge Erfah­run­gen, die wir nut­zen konnten.

Und was gut bei uns in Hanau ist … Wir haben zwi­schen poli­ti­schen Netz­wer­ken und Freun­des­krei­sen auch Men­schen, die trau­ma-päd­ago­gisch geschult sind und bei denen wir uns – nicht for­mal und nicht im Sin­ne einer The­ra­pie – son­dern ganz freund­schaft­lich Rat holen kön­nen, mit denen wir reden kön­nen, wenn wir Fra­gen haben, wenn wir nicht klar kom­men oder wo …tja …. also das ist so mei­ne Art damit umzu­ge­hen. Wie gesagt die Betrof­fen­heit war schon krass. Jeden Mor­gen auf­zu­wa­chen und zu den­ken, ist das wirk­lich so? Also so etwas habe ich in einer sol­chen Inten­si­tät noch nicht erlebt…

Hei­ko: Wie geschah an den ers­ten Tage nach dem Atten­tat? Mit den Behör­den, der Poli­zei, den Medien?

Hagen: Am ers­ten Abend, also am 20. Febru­ar, gab es schon eine Trau­er­kund­ge­bung. Der Bun­des­prä­si­dent Stein­mei­er, der hes­si­sche Minis­ter­prä­si­dent Bouf­fier, diver­se Poli­ti­ker, der Bür­ger­meis­ter von Hanau usw. waren anwe­send. Wir hat­ten befürch­tet, das die­ser Auf­tritt sehr for­mal, sehr leer, sehr hohl bleibt. Und dass war auch so. Es war eher eine pein­li­che Ver­an­stal­tung. Aber man hat auch die Hilf­lo­sig­keit gese­hen, in der sie sel­ber agie­ren. Wo sie selbst nicht wuss­ten, wie sie damit umge­hen konn­ten und Angst hat­ten, viel Kri­tik zu bekom­men, wenn die Ange­hö­ri­gen sprechen.

Wir hat­ten uns ent­schie­den, den Auf­tritt der Poli­ti­ker nicht zu stö­ren. Und das obwohl der hes­si­sche Minis­ter­prä­si­dent Bouf­fier anwe­send war. Sei­ne Anwe­sen­heit und ihn dort reden zu hören, ist in gewis­ser Wei­se eine Ver­höh­nung all derer, die sich in Hes­sen anti­fa­schis­tisch enga­giert haben. Es gibt die hes­si­sche Vor­ge­schich­te mit den zurück­ge­hal­te­nen Akten im Fal­le des NSU-Mor­des an Halit Yoz­gat in Kas­sel 2006. Und die Ver­tu­schung all der Zusam­men­hän­ge und Ver­wick­lun­gen mit den Ver­fas­sungs­schutz­mann Andre­as Tem­me. Das war Bouf­fier. Bouf­fier hat sei­ne minis­ter­li­che Hand über all die Ver­stri­ckun­gen zwi­schen den Geheim­diens­ten und dem rech­ten Ter­ror­un­ter­grund gehal­ten. So jeman­den hier in Hanau Kro­ko­dils­trä­nen wei­nen zu sehen, dage­gen gab es star­ke Vorbehalte.

Wir haben gleich ver­stan­den, dass wir etwas Eige­nes machen müs­sen, um der Situa­ti­on gerecht zu wer­den. So haben wir für den nächs­ten Tag, den Frei­tag, direkt hier am Heu­markt zu einer Gedenk­kund­ge­bung ein­ge­la­den. Wo Ange­hö­ri­ge und Freun­de spre­chen konn­ten, wo die Namen der Opfer genannt wur­den – das „say their names“ war sehr schnell da. Dass the­ma­ti­siert wird, dass es ein ras­sis­tisch moti­vier­ter Anschlag war. Das mit dem Mas­sa­ker nicht alle Men­schen, son­dern Migrant*innen, getrof­fen wer­den soll­ten. Weil die­se Men­schen umge­bracht wur­den, weil sie ver­meint­lich nicht „deutsch“ genug, nicht „weiß“ genug waren. Um das in den Vor­der­grund zu stellen.

Es war für uns sehr wich­tig, damit einen selbst­or­ga­ni­sier­ten, unab­hän­gi­gen Ort zu schaf­fen. Etwas zu machen, was jen­seits von der Stadt, von den Minis­te­ri­en und ihren Opfer­be­auf­trag­ten kam. Das war für uns in Hanau sehr wich­tig. Und der ers­te Schritt etwas zusam­men mit Freun­den und Ange­hö­ri­gen der Opfer zu machen. Das hat sich spä­ter dann immer mehr ver­dich­tet. Wir haben hier am Heu­markt die ers­te Pres­se­kon­fe­renz und Kund­ge­bung gemacht, sind von hier aus mit meh­re­ren hun­dert Men­schen nach Kes­sel­stadt zum zwei­ten Tat­ort gelau­fen und haben dort eine zwei­te Pres­se­kon­fe­renz gege­ben. Und das war in Kes­sel­stadt auch das ers­te Mal, dass wir mit allen zusam­men die Namen der bis dato bekann­ten Ermor­de­ten laut aus­ge­spro­chen haben. Das „say their names“ hat dort das ers­te Mal kol­lek­tiv stattgefunden.

Hei­ko: Das waren die ers­ten Stun­den und Tage, die ers­ten Schrit­te in denen ihr Euch orga­ni­siert habt?

Gedenk­stät­te am 2. Tat­ort, der Are­na-Bar in Hanau-Kes­sel­stadt. (Foto: Hei­ko Koch)

Hagen: Genau. Und dann gab es schon den nächs­ten Schritt. Das war ein Resul­tat die­ser per­ma­nen­ten Tref­fen in und zwi­schen dem besetz­ten Haus in der Metz­ger­stra­ße und dem DGB-Haus, die in ver­schie­dens­ten Kon­stel­la­tio­nen statt­fan­den. Das Ergeb­nis war, das man sag­te, okay, wir machen an die­sem Frei­tag was Eige­nes und wir rufen am Sams­tag kurz­fris­tig zu einer bun­des­wei­ten Demons­tra­ti­on auf. Es war klar, das wir in der Kür­ze der Zeit kei­ne rie­si­ge Demons­tra­ti­on hin­be­kom­men. Aber wir woll­ten am Sams­tag mit einer Demons­tra­ti­on auf die Gescheh­nis­se reagie­ren. Schließ­lich haben wir die Demo mit Rou­te, Laut­spre­cher­wa­gen, Büh­ne und allem orga­ni­siert. Um die 6.000 Men­schen waren dann am Sams­tag auf dem Frei­heits­platz zu einer Auftaktkundgebung.

In die­sen zwei Tagen hat es sich als sehr wich­ti­ges Ele­ment erwie­sen, dass wir in Hanau aus unse­rem anti-ras­sis­ti­schen Initia­ti­ven her­aus bun­des­weit seit vie­len Jah­ren gut ver­netzt sind. In den letz­ten drei Jah­ren gehör­ten wir auch zu den Grup­pen, die „Wel­co­me united“ mit orga­ni­sier­ten, die ver­such­ten mit Demons­tra­ti­ons­pa­ra­den in Ber­lin, Ham­burg und dann Dres­den das Anti­ra-Spek­trum in sei­ner gan­zen Brei­te auf die Stra­ße zu brin­gen. In die­sem Rah­men sind auch enge Ver­bin­dun­gen zum Tri­bu­nal „NSU-Kom­plex auf­lö­sen“ ent­stan­den. Dies alles mit dem Schwer­punkt gegen ras­sis­ti­sche Gewalt, gegen ras­sis­ti­sche Über­grif­fe. Das war vor allem auf die Situa­ti­on im Osten der Bun­des­re­pu­blik bezo­gen, Dres­den, Chem­nitz, die ver­schie­de­nen Orte, wo es in den letz­ten zwei, drei Jah­ren immer wie­der zu hef­ti­gen Über­grif­fen bis hin zu Pogro­men gekom­men ist. In die­sen Tagen haben sich die­se Ver­bin­dun­gen schnell als ein Kon­text erwie­sen, in dem man das, was in Hanau pas­siert war, ver­or­ten konn­te und vie­le Leu­te z.B. aus Köln, Ber­lin, Ham­burg, die im Tri­bu­nal aktiv waren, auch nach Hanau kamen und uns unter­stütz­ten. Was bis heu­te so ist. Wir bekom­men viel Unter­stüt­zung für die gan­ze Hin­ter­grund­ar­beit. Was die Web­sei­te, die Spen­den, die gan­zen Netz­werk­ar­beit angeht. Die­se orga­ni­sa­to­ri­sche und inhalt­li­che Unter­stüt­zung von außer­halb war für uns und unse­re Arbeit sehr wich­tig, die wir hier in unse­rer Betrof­fen­heit und den Ver­su­chen etwas umzu­set­zen feststeckten.

Hei­ko: Du sprichst von schon exis­tie­ren­den poli­ti­schen Struk­tu­ren. Das ist ja ver­mut­lich für die betrof­fe­nen Fami­li­en anders, die nicht aus sol­chen gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren kom­men. Dies ist ja eine sehr gro­ße Grup­pe. Die Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen der neun Ermor­de­ten, die Freund*innen, Bekann­ten, die Über­le­ben­den, die Zeug*innen usw.. Wie orga­ni­sie­ren sich die­se Per­so­nen­krei­se? In unter­schied­li­chen pri­va­ten, sozia­len, sprach­li­chen, kul­tu­rel­len oder natio­na­len Zir­keln? Was pas­siert da?

Gedenk­stät­te für Vili Vio­rel Păun am Kurt-Schu­ma­cher-Platz in Hanau Kes­sel­stadt (Foto: Hei­ko Koch)

Seda: Der Raum hier hat ein mög­li­ches Zusam­men­kom­men für alle sehr erleich­tert. Wie die Ange­hö­ri­gen sich pri­vat orga­ni­sie­ren? Hagen kannst Du etwas dazu sagen?

Hagen: Es ist nicht ein­fach die­ses kom­ple­xe Bild zu zeich­nen. Die neun Ermor­de­ten kom­men aus sehr unter­schied­li­chen Zusam­men­hän­gen. Wenn die Fra­ge kam: „Was sagen die Ange­hö­ri­gen“, haben wir immer gesagt: “Lang­sam, es gibt nicht ‚Die Ange­hö­ri­gen‘“. Es gibt neun Opfer, wei­te­re Ver­letz­te und Über­le­ben­de und deren Ange­hö­ri­ge, die genau so unter­schied­lich sind, wie es Hanau auch ist. Und man kann nicht sagen, das ist ein Kreis.

Für uns waren die direk­ten Kon­tak­te gege­ben einer­seits durch den kur­di­schen Kul­tur­ver­ein, weil da Per­so­nen betrof­fen waren, mit denen wir schon seit lan­gen in dem Bünd­nis „Soli­da­ri­tät statt Spal­tung“ koope­rie­ren. Ande­rer­seits durch das Jugend­zen­trum, das JuZ in Kes­sel­stadt. Im JuZ arbei­ten seit rund 20 Jah­ren Freund*innen, die sehr enge Bezie­hun­gen zu fünf der ermor­de­ten Jugend­li­chen hat­ten. Sie kann­ten sie und hat­ten in den letz­ten Jah­ren die Ent­wick­lung im JuZ mit­be­kom­men. Dar­aus speis­ten sich schnell die direk­ten Kon­tak­te und Verknüpfungen.

Ich wür­de sagen, es war sehr unter­schied­lich, wo sich die Leu­te bewegt und getrof­fen haben. Des­we­gen war es auch gut, dass es die­se ers­te Demo gab und die Ver­su­che sich zu tref­fen. Da kam die Idee auf, dass wir einen Treff­punkt brau­chen, wo vor allem ein sozia­les Zusam­men­kom­men und Aus­tausch mög­lich ist. Und – da kom­men wir ja noch zu – das hier ein Ort gewach­sen ist, wo per­ma­nent Fami­li­en und Ange­hö­ri­ge der Ermor­de­ten anwe­send sind und das Zusam­men­sein in die­sem neu­en Treff­punkt mit orga­ni­sie­ren und mit entwickeln.

Wich­tig ist noch zu ver­ste­hen, dass wir ja kurz nach den Mor­den auf den Coro­na-Wahn­sinn zuge­steu­ert sind, der alles an Tref­fen ein­ge­schränkt bzw. ver­un­mög­licht hat. So wur­de das JuZ rela­tiv schnell geschlos­sen. Erst zurück­ge­fah­ren und dann ganz geschlos­sen, was ein dort arbei­ten­der Freund als „Kata­stro­phe in der Kata­stro­phe“ bezeich­ne­te. Dies war nach dem Mas­sa­ker für vie­le der Ange­hö­ri­gen und Freund*innen der wich­tigs­te Ort um zusam­men zu kom­men und sich aus­zu­tau­schen. Vie­le Fami­li­en waren daher dop­pelt ver­stört. Was ist jetzt noch mög­lich? Und sie haben neue Mög­lich­kei­ten und Räu­me zum Tref­fen gesucht. So haben sich in die­sem Pro­zess immer mehr Kon­tak­te erge­ben. Mit dem Ergeb­nis, dass wir die­sen Ort hier sehr schnell erschaf­fen haben.

Hei­ko: Wann war das?

Hagen: Unge­fähr eine Woche nach dem Mas­sa­ker ent­wi­ckel­te sich die Idee, das es einen neu­en Ort braucht. Und das mög­lichst nahe an einem der Tat­or­te. Am 29. Febru­ar, also 10 Tage nach der Tat, haben wir das ers­te Gespräch mit dem Mak­ler die­ser Räum­lich­kei­ten hier geführt und am 20. März beka­men wir den Schlüs­sel dafür.

Hei­ko: Da sind wir im Inter­view an einem gutem Moment, dass Ihr Euren Laden mal genau­er beschreibt…

Die „Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau“ an der Krä­mer­stra­ße 24. (Foto: Hei­ko Koch)

Seda: Wir haben hier 140 wun­der­schö­ne Qua­drat­me­ter, direkt am Heu­markt. Sie lie­gen schräg gegen­über der Sisha-Bar „Mid­night“, einem der Tat­or­te. Man betritt einen sehr gro­ßen und hel­len Raum, der zur Stra­ßen­sei­te hin aus einer Fens­ter­front besteht. In der einen Ecke des Rau­mes haben wir einen Bereich für Geden­ken ein­ge­rich­tet. Da ste­cken wir aber noch in einem lau­fen­den Pro­zess und befin­den uns in einem stän­di­gen Dia­log mit den Ange­hö­ri­gen. Wie sie sich das Geden­ken vor­stel­len und wie sie die­sen Bereich ger­ne hät­ten. Ob sie ger­ne einen Vor­hang hät­ten, damit sie mehr Pri­vat­sphä­re haben, oder ob die­ser Bereich offen ein­seh­bar blei­ben soll. Es hän­gen dort Fotos von den neun Opfern an den Wän­den. Und es gibt einen klei­nen Sitz­kreis mit Blu­men und Ker­zen. Die­ser Bereich bleibt oft leer. Was heißt, wir set­zen uns nicht dort­hin um z.B. einen Kaf­fee zu trin­ken und zu bespre­chen. Man geht respekt­voll mit die­sem Bereich um und nutzt die ande­ren Berei­che des Rau­mes mit sei­nen Sitz­mög­lich­kei­ten. Dort gibt es meh­re­re Tische, wo man sich hin­set­zen, Inter­views füh­ren, am Lap­top arbei­ten kann usw. Dann haben wir noch ein gro­ße Couch und eine schö­ne gro­ße Sitz­ecke, wo die Men­schen sich unter­hal­ten kön­nen. Es ist uns wich­tig, dass ver­schie­de­ne Gesprä­che und Dia­lo­ge par­al­lel statt­fin­den kön­nen. Des­we­gen die ver­schie­de­nen Sitz­mög­lich­kei­ten, die auch für sich selbst ste­hen. Nach hin­ten hin und abge­trennt haben wir ein Büro, Toi­let­ten und ein gro­ße Küche. Eine Küche, die Tag und Nacht im Ein­satz ist.

Die „Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau“. (Foto: Hei­ko Koch)

Der Laden wur­de sehr schnell zu einem sehr leben­di­gen Raum. Für eini­ge Ange­hö­ri­ge ist dies fast wie ihr Wohn­zim­mer. Sie kom­men schon mor­gens zum Früh­stück, gehen dann auf den Fried­hof, erle­di­gen ihre Tages­ver­pflich­tun­gen, um dann am Abend noch ein­mal vor­bei zu kommen.

Hei­ko: Da stellt sich mir die Fra­ge nach den Öff­nungs­zei­ten Eures Treffpunkts…

Seda: Eigent­lich immer. Sie­ben Tage die Woche. Spä­tes­tens um zehn Uhr mor­gens ist einer von uns hier. Und wie sich das die letz­ten Wochen ent­wi­ckelt hat, sind wir auch nicht vor 23 Uhr raus. Das ist viel Zeit. Aber es ist auch schön hier zu sein. Wir sind ger­ne hier.

     

Hei­ko: Die Lage des Ladens am Heu­markt ist sehr zen­tral für Hanau. Dazu kommt die direk­te Nach­bar­schaft zu einem der Tat­or­te. Also von hier aus sieht man auf die Stra­ßen­ecke, wo der ers­te Angriff statt­fand. Habt ihr die­sen Ort direkt so gesucht oder ist es eher Zufall, dass ihr die­ses Laden­lo­kal gefun­den habt?

Hagen: Von Zufall kann man nicht reden. Wir haben gedacht, dass die Innen­stadt und die Nähe zum Tat­ort für einen Treff­punkt rich­tig wären. Zumal für den zwei­ten Tat­ort im Stadt­teil Kes­sel­stadt das JuZ exis­tiert. Und in der Innen­stadt gab es kei­ne Räum­lich­keit, die wir als Treff­punkt hät­ten nut­zen kön­nen. Also haben wir hier im Nah­be­reich gesucht und haben so nicht zufäl­lig die­ses lee­re Laden­lo­kal gefunden.

Die „Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau“. (Foto: Hei­ko Koch)

Ich möch­te kurz noch etwas zu der Coro­na-Zeit ergän­zen. Am 20. März beka­men wir den Schlüs­sel für den Laden. Und wir hat­ten Glück, dass der ers­te, gro­ße Raum mit rela­tiv ein­fa­chen Mit­teln schnell so her­ge­rich­tet wer­den konn­te, das er sofort für Tref­fen benutz­bar war. Das hieß für das Bun­des­land Hes­sen, das sich hier zunächst fünf Per­so­nen, dann nur noch zwei Per­so­nen in Ein­zel­ge­sprä­chen Tref­fen konn­ten. Die rich­ti­ge Reno­vie­rung hat zunächst im hin­te­ren, dann im vor­de­ren Bereich statt­ge­fun­den. Wir konn­ten zur Zeit der Reno­vie­rung, sozu­sa­gen in der Bau­stel­le, schon Bera­tun­gen geben. Das war sehr wich­tig, weil alle offi­zi­el­len Stel­len ihr Bera­tungs­an­ge­bot auf Tele­fo­na­te und Video­kon­tak­te redu­ziert hat­ten. Es gab kei­ne ein­zi­ge Stel­le in Hanau, wo Betrof­fe­ne von Ange­sicht zu Ange­sicht mit jeman­dem über ihre Pro­ble­me reden konn­ten. Das war qua­si nur hier mög­lich. Und des­we­gen kamen im März vie­le Ange­hö­ri­ge und Betrof­fe­ne hier­her. Und auch vie­le Men­schen aus der Nach­bar­schaft kamen in den Laden. Sie waren sehr froh, dass ein sol­cher Raum ent­steht. Vie­le hat­ten die Ereig­nis­se der Nacht selbst mit­be­kom­men, waren als Augen­zeu­gen von der Situa­ti­on betrof­fen. Sie waren froh sich hier dar­über aus­tau­schen zu können.

Die „Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau“. (Foto: Hei­ko Koch)

Die heu­ti­ge Situa­ti­on, in der der Laden seit sei­ner Eröff­nung am 5. Mai schon so ver­wur­zelt und ver­an­kert erscheint, hat sei­ne Vor­ge­schich­te in der Zeit seit Ende März. Als die Betrof­fe­nen zur Hoch­zeit der Coro­na-Pan­de­mie hier­hin kom­men und reden konn­ten, Bera­tung beka­men. Das war für die Ent­wick­lung des Ladens eine extrem wich­ti­ge Vorgeschichte.

Hei­ko: Ver­wur­ze­lung, wie soll ich die­ses Wort verstehen?

Hagen: Nach­bar­schaft als ein Fak­tor. Also wir sind hier in der Krä­mer­stra­ße, Ecke Heu­markt – genau am Tat­ort. Und die Leu­te aus der Nach­bar­schaft kamen umge­hend auf uns zu und frag­ten uns: „Was macht ihr hier?“ Und wir beka­men die Reak­tio­nen: „Pri­ma!“ und „So einen Ort braucht es.“ Und sie erzähl­ten ihre eige­ne Geschich­te. Wie sie selbst kon­fron­tiert waren. Mehr oder weni­ger hef­tig. Also von Men­schen, die das Gesche­hen vom Rand aus mit­be­kom­men hat­ten, bis hin zu Per­so­nen, die mit dem Mör­der Auge in Auge kon­fron­tiert waren. Die­se Leu­te haben in dem Laden unmit­tel­bar einen Ver­trau­en schaf­fen­den Ort für sich gefun­den. Der Laden wur­de von der Nach­bar­schaft begrüßt, akzep­tiert und wird von ihr genutzt. Der Laden ist ver­wur­zelt in der Nach­bar­schaft. Par­al­lel lief die Ent­wick­lung mit den Ange­hö­ri­gen und Fami­li­en aus Hanau und Kes­sel­stadt. Sie kamen hier­her und haben den Laden zu ihrem eige­nen Wohn­zim­mer, zu ihrem eige­nen Treff­punkt, auch unter den Ange­hö­ri­gen, gemacht. Schnell war ihnen klar, dass sie hier viel ein­fa­cher mit den­je­ni­gen reden konn­ten, die das Glei­che erlebt haben, die sich in einer ähn­li­chen Situa­ti­on wie sie befin­den. Dass sie sich nicht erklä­ren müs­sen. Dass sie sich hier mit ande­ren Betrof­fe­nen bespre­chen und abspre­chen kön­nen. Das hat sich hier hin­ein ver­la­gert. Das alles ist hier mög­lich. Der Laden ist ver­wur­zelt bei den Fami­li­en, Ange­hö­ri­gen und Freund*innen der Ermordeten.

Hei­ko: Wenn ich hier auf die Pinn­wand schaue, dann sind dort vie­le Zet­tel mit Noti­zen wie „Tref­fen“, „Ple­num“, „Pres­se“ usw. Wie orga­ni­siert ihr Euch in dem Laden?

Seda: Ein­mal wöchent­lich haben wir ein gro­ßes Tref­fen mit allen Mit­glie­dern der Initia­ti­ve. Ein Tref­fen, bei dem auch Per­so­nen aus Ham­burg, Ber­lin, Frank­furt und Offen­bach per Video­kon­fe­renz teil­neh­men. Wir haben uns in unter­schied­li­che Arbeits­grup­pen ein­ge­teilt. Wir haben eine Pres­se­grup­pe, eine Recher­che­grup­pe usw.. Sehr vie­les läuft digi­tal über E‑Mails und Chat­grup­pen. So orga­ni­sie­ren wir unse­re Wochen­plä­ne, wer wel­che Auf­ga­ben über­nimmt, machen wir unse­re Ter­mi­ne usw.. Ana­log gibt es hier dann natür­lich die Pinn­wand und die White­boards. So ver­su­chen wir den Über­blick zu behalten

Hei­ko: Habt Ihr einen Ver­ein gegründet?

Geden­ken am 19.05.2020 auf dem Hanau­er Markt­platz (Brü­der Grimm Denk­mal) (Foto: Hei­ko Koch)

Hagen: Wir haben uns als unab­hän­gi­ge, offe­ne Initia­ti­ve gegrün­det und wol­len das auch so bei­be­hal­ten. Zur Anmie­tung des Rau­mes haben wir einen befreun­de­ten, gemein­nüt­zi­gen Ver­ein gefun­den, der das für und mit uns macht. Eben­so haben wir die Unter­stüt­zung für die Spen­den­ab­rech­nung an unse­re Initia­ti­ve von einem Köl­ner Ver­ein. So haben wir die not­wen­di­gen for­ma­len, insti­tu­tio­nel­len Rah­men­be­din­gun­gen auch über unser Netz­werk orga­ni­sie­ren kön­nen, ohne uns selbst einen Ver­eins­sta­tus zu geben. Wir wol­len als unab­hän­gi­ge Initia­ti­ve bestehen, die sich ent­spre­chend den Bedürf­nis­sen und Not­wen­dig­kei­ten fle­xi­bel ent­wi­ckeln kann. Wir haben von Anfang an die­sen Raum als Pro­zess begrif­fen und sind nicht mit einem fes­ten Kon­zept gestar­tet. Was dar­aus wird, wol­len wir so offen wie mög­lich hal­ten und gucken, wer ihn mit uns gestal­ten will. Das Alles soll mit den hier akti­ven Men­schen zusam­men lau­fen. Und ich glau­be, wir sind auf einen guten Weg, weil es in den letz­ten Wochen hier sehr beein­dru­cken­de Tref­fen gab. Ver­tre­ter der Opfer­fa­mi­li­en waren anwe­send und haben mit­dis­ku­tiert und ent­schie­den. Wie etwa sol­len die Gedenk­ta­ge zum 19. jeden Monats gestal­tet wer­den? Wie machen wir Öffent­lich­keits­ar­beit? Wie lässt sich poli­ti­scher Druck orga­ni­sie­ren, damit die For­de­run­gen nach lücken­lo­ser Auf­klä­rung Nach­druck ver­lie­hen wird? Denn die Pan­de­mie erscheint vie­len als ein vor­ge­scho­be­ner Grund, dass die Behör­den kei­ner­lei Ermitt­lungs­er­geb­nis­se, kei­ne Zwi­schen­er­geb­nis­se, ein­fach nichts ver­öf­fent­li­chen. Dass eine völ­li­ge Intrans­pa­renz sei­tens der Ermitt­lungs­be­hör­den besteht. Also wie kann man hier agie­ren? Und da haben wir gro­ße Fort­schrit­te gemacht. Wir sind zusam­men am 14. Mai zu der Innen­aus­schuss-Sit­zung im Hes­si­schen Land­tag nach Wies­ba­den gefah­ren und haben dort qua­si die Poli­ti­ker zur Rede gestellt. Dann haben wir in den letz­ten zwei Wochen viel Medi­en­ar­beit gemacht. Wo es beein­dru­ckend war zu sehen, wie die Ange­hö­ri­gen in die Sprech­po­si­ti­on gegan­gen sind. Wie sie gefragt haben. Wie sie aber auch ange­klagt und gefor­dert haben. Das hängt natür­lich damit zusam­men, das wir uns in die­sem kom­mu­ni­ka­ti­ven Pro­zess der gemein­sa­men Tref­fen, des Aus­tau­sches und Über­le­gun­gen befinden.

Geden­ken am 19.05.2020 auf dem Hanau­er Markt­platz beim Brü­der-Grimm-Denk­mal (Foto: Hei­ko Koch)

Hei­ko: Könnt Ihr noch was zu die­ser Intrans­pa­renz sagen?

Hagen: Die­se Intrans­pa­renz betrifft eigent­lich alle Ebe­nen. Nach den aller­ers­ten Infor­ma­tio­nen, die unmit­tel­bar nach der Tat bekannt wur­den, mau­er­ten die ent­spre­chen­den Behör­den zu allen Berei­chen. Sei es der Tat­her­gang oder die Tat­hin­ter­grün­de. Über nichts wur­de infor­miert. Die Anwäl­te der Opfer­fa­mi­li­en haben die­se Infor­ma­ti­ons­po­li­tik eben­so kri­ti­siert. Sie haben bis vor kur­zem kei­ner­lei Akten­ein­sicht bekom­men. Auch Infor­ma­tio­nen nicht, von denen man nicht den lei­ses­ten Ver­dacht hegen kann, sie könn­ten die wei­te­ren poli­zei­li­chen Ermitt­lun­gen gefährden.

Es gibt ver­schie­de­ne Fra­gen zum Tat­her­gang, die unbe­dingt geklärt wer­den müs­sen. Wo Poli­zei und BKA etwas sagen müss­ten. Aber statt des­sen mau­ern sie. Durch unse­re Öffent­lich­keits­ar­beit haben wir sie sozu­sa­gen dazu gezwun­gen, Infor­ma­tio­nen raus­zu­ge­ben. Das betrifft z.B. den Tat­her­gang, der zum Tod von Vili-Vio­rel Păun geführt hat. Wir haben sehr früh recher­chiert, das der jun­ge Mann aus Rumä­ni­en aller Wahr­schein­lich­keit nach hier am ers­ten Tat­ort beschos­sen wur­de. Und dann, offen­sicht­lich um den Täter zu stop­pen, die­sen ver­folg­te und mehr­mals die Poli­zei anrief, dort nicht durch­ge­kom­men ist und am zwei­ten Tat­ort von dem Täter über­rascht und erschos­sen wur­de. Also Umstän­de und Fak­ten, bei denen klar ist, dass die­se kei­ne wei­te­ren Ermitt­lun­gen gefähr­den wür­den. Die­ses zu erklä­ren. Und das vor allem der Fami­lie Păun, der es gut tun wür­de zu ver­ste­hen, wo ihr Sohn in die­ser Nacht hin­ein­ge­ra­ten ist. Für die Fami­lie steht mitt­ler­wei­le fest, dass ihr Sohn sein Leben ver­lo­ren hat, als er ver­such­te den Täter auf­zu­hal­ten. Sie sehen in ihrem Sohn einen Hel­den. Zu die­sen Abläu­fen in der Tat­nacht sagen die Behör­den nichts.

Geden­ken am 19.05.2020 auf dem Hanau­er Markt­platz (Brü­der Grimm Denk­mal) (Foto: Hei­ko Koch)

Und dann sol­che Sachen. Da taucht in einer Toten­ak­te der Ver­merk auf, die Todes­zeit einer Per­son lege bei unge­fähr 3 Uhr mor­gens. Der Über­fall auf die Are­na-Bar war aber kurz nach 22 Uhr. Was heißt das für die Eltern? Müs­sen sie davon aus­ge­hen, dass ihr Kind noch meh­re­re Stun­den mit dem Tod gerun­gen hat? Auch dazu kommt nichts von den Behörden.

Oder die Obduk­tio­nen der Erschos­se­nen. Meh­re­re Eltern hat­ten dar­um gebe­ten, dass kei­ne Obduk­tio­nen statt­fin­den sol­len. Dass die Kör­per ihrer Kin­der nicht zer­stü­ckelt wer­den. Ihren Wün­schen wur­de nicht nach­ge­ge­ben. Es kann natür­lich gute Grün­de geben, Obduk­tio­nen durch­zu­füh­ren. Aber es hat nicht einen Ver­such gege­ben, den Eltern ein War­um, Was und Wie der Obduk­tio­nen zu ver­mit­teln. Statt des­sen wur­den den Eltern die Kör­per ihrer Kin­der in einem Zustand zum Waschen über­las­sen, wo ein­zel­ne Kör­per­tei­le nur not­dürf­tig zusam­men geta­ckert waren. Hier fand eine wei­te­re Trau­ma­ti­sie­rung von Men­schen statt, die mit einem gro­ßen Schmerz leben müs­sen. Es war unglaub­lich zu sehen, wie igno­rant und unsen­si­bel die Behör­den mit der gan­zen Situa­ti­on der Opfer­an­ge­hö­ri­gen umgingen.

Und es war bit­ter zu sehen, wie hier von Poli­ti­kern auf den offi­zi­el­len Trau­er­kund­ge­bun­gen in Hanau gro­ße Reden gehal­ten und Ver­spre­chun­gen gemacht wur­den und die Hoff­nung auf­kam, dass sich etwas ändern wür­de. Und danach mit einer Rea­li­tät kon­fron­tiert zu wer­den, in der von Sen­si­bi­li­tät, Trans­pa­renz und Ver­mitt­lung kei­ner­lei Spur war. Aber da ist auch der Punkt, an dem die Fami­li­en began­nen sich zu weh­ren. Als sie das behörd­li­che Ver­sa­gen in den Mit­tel­punkt stell­ten, kri­ti­sier­ten und anklag­ten. Wie hat es zu die­ser Tat kom­men kön­nen? Was pas­sier­te in der Tat­nacht? Und was pas­sier­te in den Wochen danach?

Hei­ko: Ich habe auch eine Fra­ge zu dem Täter. In den Medi­en wur­de berich­tet, dass die­ser meh­re­re Aus­lands­fahr­ten gemacht hat, auch um dort Schieß­übun­gen zu machen. Könnt ihr dazu mehr erzählen?

Hagen: Das kann man auch zu die­ser Intrans­pa­renz zäh­len. Es gibt zu sei­nen Rei­sen kei­ne Infor­ma­tio­nen sei­tens der Behör­den. Nun kann man auch hier sagen, dass all die­se Infor­ma­tio­nen zum Aus­land auf Mit­tä­ter, Mit­wis­ser und orga­ni­sa­to­ri­sche Zusam­men­hän­ge hin­wei­sen könn­ten und des­halb die ermit­teln­den Behör­den sich mit Infor­ma­tio­nen bedeckt hal­ten. Trotz­dem könn­te es nach über drei Mona­ten eine Art Zwi­schen­be­richt geben. Das pas­siert aber nicht. Es waren Spie­gel-Jour­na­lis­ten, die im April auf­ge­deckt haben, dass zwei der Aus­lands­rei­sen im letz­ten Jahr in ein Trai­nings­camp für Gefechts­schie­ßen in die Slo­wa­kei führ­te. Also, wo Eli­te-Sol­da­ten Schüt­zen anbie­ten, sie im soge­nann­ten Com­bat-Schie­ßen aus­zu­bil­den. Die­ses Trai­ning war ein paar Mona­te vor den Angrif­fen in Hanau. Da hat er sich im Trai­ning anschei­nend dar­auf vor­be­rei­tet schnell und eis­kalt Men­schen hin­zu­rich­ten, sich tak­tisch zu bewe­gen, sich zu decken und auch jeden, der ihm bei sei­nem Vor­ha­ben zu nahe kommt, zu erschie­ßen. Wir wer­den in den nächs­ten Mona­ten sehen, was die offi­zi­el­len Ermitt­lungs­be­rich­te dazu ver­laut­ba­ren wer­den. Wir den­ken nur, dass es gera­de­zu unmög­lich ist, dass die Teil­neh­mer an die­ser Art von Schieß­trai­ning in sol­chen Trai­nings­camps den Sicher­heits­be­hör­den und Geheim­diens­ten unbe­kannt sind.

Hier sagen wir, dass dies einen wei­te­ren Mosa­ik­stein im behörd­li­chen Ver­sa­gen im Vor­feld des Mas­sa­kers dar­stellt. Ein Ver­sa­gen, dass an vie­len Fra­gen sicht­bar wird: War­um hat­te der Täter einen Waf­fen­schein bekom­men? Wie hat er ihn immer wie­der ver­län­gert bekom­men? Es hat 2017 und 2018 ekla­tan­te Vor­fäl­le ras­sis­ti­scher und bewaff­ne­ter Bedro­hun­gen in Hanau-Kes­sel­stadt gege­ben. Exakt vor Ort, ganz nah am Tat­ort, ganz nah am Wohn­ort des Täters. War das schon der spä­te­re Atten­tä­ter gewe­sen? Wel­che Vor­fäl­le gab es noch, dass jemand hier in Kes­sel­stadt mit schar­fen Waf­fen unter­wegs war und Men­schen ras­sis­tisch bedroh­te? Der Hanau­er Mör­der bekam 2013 das ers­te mal eine Erlaub­nis Waf­fen zu tra­gen. So etwas wird ja alle drei Jah­re über­prüft. 2019 bekam er das letz­te Mal die­se Erlaub­nis. Da hat­te er es sogar geschafft, die Erlaub­nis auf eine euro­päi­sche Erlaub­nis aus­zu­wei­ten, also das Recht, sei­ne Waf­fen durch Euro­pa zu tra­gen, und die­se Erlaub­nis bekam er exakt zwi­schen den bei­den Trai­nings­ein­hei­ten in der Slo­wa­kei. Das wirft für uns vie­le Fra­gen auf, was dort los war. Wer in den Behör­den hat da ver­sagt? Hat das Ver­sa­gen wie­der ein­mal Sys­tem? Also das „wie­der ein­mal“ sage ich im Blick auf den NSU-Kom­plex. Wie­der mal ein Sys­tem des Weg­schau­ens oder der Tole­ranz. War­um hat die­ser Mann sei­ne Waf­fen behal­ten dürfen?

Dann, im Hin­sicht auf das Mani­fest „Bot­schaft an das gesam­te deut­sche Volk“. Wann war das eigent­lich online? Hät­te da nicht schnell von staat­li­cher Sei­te aus inter­ve­niert wer­den kön­nen? War­um hat es wegen sei­nes Trak­tats mit den ras­sis­ti­schen und faschis­ti­schen Ver­nich­tungs­phan­ta­sien kei­ne Durch­su­chung bei ihm gegeben?

Das alles ver­dich­tet sich für uns zu einem Bild, dass es an vie­len Stel­len mög­lich gewe­sen wäre, den Täter früh­zei­tig zu stop­pen. Das ist zur Zeit ein Kom­plex, wor­an die Recher­che­grup­pe arbei­tet. Um mit den sich dar­aus ent­wi­ckeln­den Fra­gen die Behör­den zu kon­fron­tie­ren. Also mit der zen­tra­len Fra­ge: „Hät­ten die Mor­de ver­hin­dert wer­den kön­nen?“ Das ist die zen­tra­le Fra­ge, die die Ange­hö­ri­gen umtreibt. Wer hat wo ver­sagt? Die­je­ni­gen sol­len die Ver­ant­wor­tung für ihr Ver­sa­gen übernehmen.

Das ist von zen­tra­ler Bedeu­tung. Denn alle Ange­hö­ri­gen sagen, es hät­te sie nicht schlim­mer erwi­schen kön­nen, als dass sie ihre eige­nen Kin­der begra­ben müs­sen. Aber was kön­nen sie tun, das so etwas nicht wie­der pas­siert? Des­we­gen die Fra­gen. Wie konn­te es dazu kom­men? War­um konn­te es nicht ver­hin­dert wer­den? Und das ist das, wo die Ange­hö­ri­gen wei­ter­hin Fra­gen haben und Ant­wor­ten ver­lan­gen. Wo sie for­dern und sich auch immer mehr artikulieren.

Hei­ko: Also die For­de­rung an die Behör­den, den Tat­her­gang lücken­los zu rekon­stru­ie­ren, damit es kei­ne „blin­den Fle­cken“ für die Hin­ter­blie­be­nen mehr gibt, die sie in schmerz­haf­ter Unkla­ren und Unwis­sen­heit belas­sen. Und die For­de­rung, fest­zu­stel­len inwie­fern der Täter im Vor­feld der Tat hät­te gestoppt wer­den kön­nen, damit dar­aus Leh­ren für die Zukunft gezo­gen wer­den kön­nen… Wel­che For­de­run­gen erhe­ben die Ange­hö­ri­gen noch?

Seda: Die Ange­hö­ri­gen wol­len, dass der Staat tätig wird und das Mas­sa­ker und sei­ne Hin­ter­grün­de auf­klärt. Sie wol­len von den Behör­den, dass der Tod ihrer Kin­der, dass sie und ihr Schmerz, dass der Ras­sis­mus in die­sem Land end­lich ernst genom­men wird, und etwas dage­gen pas­siert. Lei­der sieht es zur Zeit nicht so aus. Und das ver­stärkt natür­lich den Schmerz, den Frust und die Wut. Gera­de die­se Nicht-ernst-genom­men-wer­den tor­pe­diert alle Gefühle…

Hagen: Um das behörd­li­che Ver­sa­gen noch mal zu ver­deut­li­chen. Im Juli 2019 gab es in Wäch­ters­bach, hier bei uns im Main-Kin­zig-Kreis, einen ras­sis­ti­schen Anschlag auf einen Mann aus Eri­trea. Dem 26jährigen Mann wur­de aus einem Auto her­aus in den Bauch geschos­sen. Der Täter war auch ein Mann, der sei­ne Waf­fen über einen Schüt­zen­ver­ein hat­te. Er hat­te die Tat in sei­ner Stamm­knei­pe ange­kün­digt und war angeb­lich nicht ernst genom­men wor­den. Dann ist der Mann los­ge­fah­ren, hat nach einem schwar­zen Mann Aus­schau gehal­ten und auf die­sen geschos­sen. Danach erschoss sich der 55-jäh­ri­ge Täter. Das war im Juli ver­gan­ge­nen Jah­res. Und man soll­te doch jetzt von den zustän­di­gen Behör­den in unse­rem Main-Kin­zig-Kreis erwar­ten kön­nen, dass sie dar­über nach­den­ken, wie jemand, der einen ras­sis­ti­schen Mord­an­schlag ver­übt, an einen Waf­fen­schein und in den Besitz meh­re­rer lega­ler Waf­fen kommt. Statt­des­sen muss man sehen, dass er von der­sel­ben Behör­de sei­nen Waf­fen­schein erneut erhält und auf einen euro­päi­schen Feu­er­waf­fen­pass erwei­tern kann. Wie seri­ös wer­den also die not­wen­di­gen Zuver­läs­sig­keits­prü­fun­gen und der Bedürf­nis­nach­weis für einen Waf­fen­schein gehand­habt? Es drängt sich also die Fra­ge auf, nach wel­chen Kri­te­ri­en wird hier vor­ge­gan­gen? Was läuft bei den Behör­den schief? Oder sind die Geset­ze so, dass Ras­sis­ten legal Waf­fen erste­hen und behal­ten kön­nen? Es ist nicht ansatz­wei­se erkenn­bar, dass die­se Vor­ereig­nis­se zum Mas­sa­ker in Hanau irgend­ei­ne Kon­se­quenz haben. Und des­halb die For­de­rung: Ent­waff­net die Ras­sis­ten. Ent­waff­net die Nazis. Es muss auf den Prüf­stand, unter wel­chen Bedin­gun­gen in Deutsch­land Men­schen die Erlaub­nis bekom­men, Waf­fen mit sich zu füh­ren. Wer in Schüt­zen­ver­ei­nen an Waf­fen aus­ge­bil­det wird. Da muss unbe­dingt etwas passieren.

Hei­ko: Ich kom­me noch ein­mal auf die Situa­ti­on der Hin­ter­blie­be­nen zurück. Über die zahl­rei­chen Mor­de sind sehr vie­le Men­schen von Ver­lust, Schmerz, Angst und Trau­er betrof­fen. Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge, Freund*innen, Bekann­te und Augenzeug*innen. In wie weit erfah­ren sie Hil­fe­stel­lung im All­tag und psy­cho­lo­gi­schen Bei­stand durch die Behörden?

Seda: Zum einen wur­den finan­zi­el­le Sofort­hil­fen an die Ange­hö­ri­gen aus­ge­zahlt. Aber was eine Finan­zie­rung einer Lang­zeit­be­treu­ung angeht, sind wir immer noch am kämp­fen. Eigent­lich soll­te es selbst­ver­ständ­lich sein, dass Men­schen, die in die­sem Land Opfer eines ras­sis­ti­schen Gewalt­ver­bre­chens gewor­den sind, finan­zi­ell abge­si­chert sind. Aber dem ist nicht so.

Was die psy­cho­lo­gi­sche Betreu­ung angeht, so ist es im Moment schwer Psy­cho­the­ra­peu­ten zu fin­den. Das liegt zum einen dar­an, dass die meis­ten Therapeut*innen zur Zeit nur Video-Sit­zun­gen und kei­ne Face-to-Face-Ter­mi­ne ver­ge­ben. Die­se Art von Online-Gesprä­chen wol­len vie­le Ange­hö­ri­ge nicht. Zum ande­ren kom­men sie mit der not­wen­di­gen Tech­nik nicht zurecht.

Bei vie­len Jün­ge­ren herrscht auch eine Ver­är­ge­rung über die Behör­den wegen der Schlie­ßung des JuZ in Kes­sel­stadt vor. Die Coro­na-Ein­schrän­kun­gen wur­den schritt­wei­se zurück­ge­fah­ren. Dies scheint aber nur Berei­che der Öko­no­mie zu erfas­sen. Die­se wer­den als rele­vant begrif­fen. Nicht aber sozia­le Treff­punk­te. Und das JuZ war der Treff­punkt für die Jugend­li­chen. Ein zwei­tes zu Hau­se für die Opfer des Atten­tats und all ihren Freund*innen und Bekann­ten. Kurz nach dem 19. Febru­ar hat dort eine Grup­pen­the­ra­pie für die betrof­fe­nen Jugend­li­chen ange­fan­gen, die aber nach der ers­ten oder zwei­ten Sit­zung direkt wie­der wegen Coro­na abge­bro­chen wur­de. Mit den ange­bo­te­nen Video­kon­fe­ren­zen konn­te aber kei­ner der Jugend­li­chen etwas anfan­gen. Es herrscht ziem­li­ches Unver­ständ­nis dar­über, war­um Fri­sö­re jetzt auf­ma­chen kön­nen, aber so wich­ti­ge Treff­punk­te wei­ter­hin geschlos­sen bleiben.

Von Sei­ten der Behör­den… Naja, ich weiß von einer Frau, die eine The­ra­peu­tin gestellt bekam und mit die­ser nicht zurecht kommt. Wenn sie die­se aber ableh­nen wür­de, müss­te sie sich unter die­sen schwie­ri­gen Umstän­den selbst um eine neue The­ra­peu­tin küm­mern. Hil­fe für Trau­ma­ti­sier­te eines Mas­sa­kers sieht anders aus. Es ist ziem­lich hart zur Zeit eine adäqua­te psy­cho­lo­gi­sche Betreu­ung für die Betrof­fe­nen zu finden.

Hagen: Ich wür­de sagen, das die­se insti­tu­tio­nel­len Ange­bo­te ziem­lich ambi­va­lent waren. Die­se Opfer­so­fort­hil­fen sind ja nach dem Breit­scheid-Platz-Atten­tat das ers­te Mal ein­ge­führt wor­den. Und das stimmt und ist durch­aus sinn­voll, wenn Eltern 30.000 Euro und Geschwis­ter 15.000 Euro bekom­men. Aber es hat bei den Fami­li­en gera­de ein­mal gereicht, die Beer­di­gun­gen und die not­wen­digs­ten Sachen zu finan­zie­ren. Es ist mit­nich­ten eine Dau­er­ab­si­che­rung. Erst Recht nicht, wenn Men­schen über die Trau­ma­ti­sie­rung arbeits­un­fä­hig gewor­den sind und sich nicht mehr in der Lage sehen ihre Arbeit zu ver­rich­ten. Da stellt sich die Fra­ge, wie sie über die Run­den kom­men sol­len. Es hat in ein­zel­nen Fäl­len schnel­le unbü­ro­kra­ti­sche Hil­fe gege­ben, neue Woh­nun­gen zu fin­den. Weil sie dort, wo sie mit ihren getö­te­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen gewohnt haben, nicht mehr woh­nen konn­ten oder woll­ten. Aber es gibt auch Fäl­le, wo dies nicht pas­siert ist. Wo ein Vater nach wie vor 50 Meter vom Tat­ort ent­fernt in sei­ner Woh­nung leben muss und offen­sicht­lich für ihn nichts gefun­den wur­de. Vor etwa 10 Tagen war die finan­zi­el­le Unter­stüt­zung der Hin­ter­blie­be­nen The­ma in den hie­si­gen Medi­en. Da hieß es ziem­lich ver­stö­rend, dass 1 Mil­lio­nen Euro Sofort­hil­fe an die Hin­ter­blie­be­nen aus­ge­zahlt wor­den sei­en. Und das klang so, als ob jede Fami­lie 1 Mil­lio­nen Euro bekom­men hät­te. Das war mit­nich­ten der Fall. Es geht um unge­fähr 60 Per­so­nen, die nach den Kri­te­ri­en der Opfer­be­ra­tungs­stel­le anspruchs­be­rech­tigt waren. Die­ses Geld wur­de unter ihnen auf­ge­teilt. Es gab vie­le Über­le­ben­de, die zum Zeit­punkt der Angrif­fe in den Bars waren, nicht ange­schos­sen wur­den und mit gro­ßem Glück über­leb­ten. Auch ande­re, die die Angrif­fe haut­nah mit­be­kom­men haben. Die­se Per­so­nen wur­den nicht bedacht. Es ist nicht so, dass hier allen Betrof­fe­nen finan­zi­ell gehol­fen wird. Das zwei­te ist die behörd­li­che Selbst­dar­stel­lung. Als wir im Wies­ba­de­ner Land­tag waren und der hes­si­sche Innen­mi­nis­ter Beuth dort Bericht erstat­te­te, kam es den Ange­hö­ri­gen wie eine Ver­höh­nung vor. Beuth war voll des Lobes für die Ein­satz­kräf­te. Alles wäre bes­tens gelau­fen. Vom unmit­tel­ba­ren Ein­satz der Poli­zei bis hin zum Ein­satz der Ret­tungs­kräf­te. Es wur­de dem Par­la­ment in einem wun­der­schö­nen Bild prä­sen­tiert, wie gut die Behör­den sich um die Betrof­fe­nen geküm­mert hät­ten. Das steht natür­lich im kras­sen Gegen­satz zu dem was die Betrof­fe­nen zu der Nacht und der Fol­ge­zeit zu berich­ten wissen.

Gene­rell gesagt. Es gab punk­tu­el­le Hil­fen, die wirk­sam waren. Aber im Gro­ßen und Gan­zen hat es an sehr vie­len Stel­len an Hil­fen gefehlt. Und die Aus­wir­kun­gen der Coro­na-Pan­de­mie haben bei der man­gel­haf­ten psy­cho­lo­gi­schen Ver­sor­gung der Trau­ma­ti­sier­ten dem Gan­zen noch die Nega­tiv-Kro­ne auf­ge­setzt. Dazu der völ­li­ge Man­gel an Sen­si­bi­li­tät. Ich ver­wei­se da nur auf die alb­traum­haf­te Obduk­ti­ons­ge­schich­te, von der ich schon sprach.

Oder der Fall des poli­zei­li­chen Vor­ge­hens gegen die Hin­ter­blie­be­nen in Form einer Gefährder*innen-Ansprache. Bana­li­sie­rend könn­te man das auch eine ver­un­glück­te Kon­takt­auf­nah­me nen­nen. Der Vater des Täters hat­te die Gescheh­nis­se in sei­nem Haus über­lebt. Er wird jetzt offi­zi­ell als Zeu­ge geführt, ist aber zu kei­nen Aus­sa­gen bereit. Der Mann war nach eini­gen Wochen wie­der in das Haus zurück­ge­kehrt, was in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft zum zwei­ten Tat­ort und den Wohn­or­ten eini­ger Opfer­fa­mi­li­en liegt. Auf Grund des­sen hat die Poli­zei wohl gedacht, dass es eine gute Idee ist, die Opfer­fa­mi­li­en über die­sen Umstand zu infor­mie­ren. Das wur­de aber in einer Art und Wei­se gemacht, wie man im Poli­zei­all­tag so genann­te Gefähr­der anspricht. Also zu war­nen, bis hin zu dro­hen, ja die­sen Vater des Mör­ders in Ruhe zu las­sen, auf ande­re Per­so­nen ein­zu­wir­ken, dass der Mann nicht ange­grif­fen wird, usw.. Hier wur­de aus den Opfern poten­ti­el­le Täter gemacht. Mit Sen­si­bi­li­tät hat das nichts zu tun. Und von einem geschul­ten und pro­fes­sio­nel­len Umgang mit Opfern kann hier nicht die Rede sein. Natür­lich war es sinn­voll und rich­tig die Fami­li­en dar­über zu infor­mie­ren. Aber die Art und Wei­se… da kann man nur drü­ber ver­zwei­feln. Vor die­sem Hin­ter­grund die Schön­ma­le­rei des Minis­ters zu sehen. Das war sehr bit­ter für die Ange­hö­ri­gen und an die­sem Umgang mit ihnen und ihrer Situa­ti­on haben sie sehr viel Kritik.

Hei­ko: Dan­ke für die­se Hin­wei­se. Auf eurer Web­site ist zu erfah­ren, das ihr die­ses Pro­jekt, die­sen Laden drei Jah­re lang betrei­ben wollt. Stimmt das?

Die „Initia­ti­ve 19. Febru­ar Hanau“ an der Krä­mer­stra­ße 24. (Foto: Hei­ko Koch)

Seda: Min­des­tens drei Jahre.

Hagen: Im Moment den­ken wir schon dar­über nach wie es wei­ter­ge­hen könn­te, soll­te. Aber ob wir auf fünf Jah­re und län­ger gehen wol­len, das wer­den wir erst in einem Jahr ent­schei­den. Aber wir den­ken jetzt schon über die Opti­on nach. Zur Zeit ist die Per­spek­ti­ve drei Jahre.

Hei­ko: Ein kost­spie­li­ges Unter­neh­men. Allein die Laden­mie­te beträgt für einen Monat 2500 Euro. Glaubt ihr, dass ihr die­se und ande­re lau­fen­de Kos­ten stem­men könnt?

Seda: Seit der Eröff­nung Anfang Mai haben wir vie­le Spen­den bekom­men. So gut, dass wir für das ers­te Jahr schon das Geld für die Mie­te haben. Die Zuwen­dung wird natür­lich wie­der abflau­en. Aber dann heißt es, für uns bei kom­men­den Spen­den­kam­pa­gnen krea­tiv zu sein. Unse­re obers­te Prio­ri­tät heißt auch hier das wir unab­hän­gig blei­ben wol­len. Zunächst geht es vor­an in klei­nen Schritten.

Hei­ko: Dar­un­ter fal­len auch die immer wie­der­keh­ren­den Kund­ge­bun­gen und Ver­an­stal­tun­gen zu jedem 19. im Monat?

Seda: Genau. Wir machen immer zu jedem 19. Tag des Monats eine Akti­on der Erin­ne­rung. Also wir pfle­gen gemein­sam die Geste­cke, Blu­men, Ker­zen und Bil­der an den Tat­or­ten und am Grimm-Denk­mal auf dem Markt­platz. Wir legen dort Gegen­stän­de und Brie­fe ab, die wir zuge­schickt bekom­men haben. Und wir geden­ken in Stil­le der neun Ermor­de­ten. Wegen Coro­na hat dies in den letz­ten Wochen immer in einem klei­ne­ren Rah­men statt­ge­fun­den. Also, es fand in einem sehr ver­trau­ten, pri­va­ten und ruhi­gen Kreis statt. Jetzt sit­zen wir mit den Fami­li­en zusam­men und dis­ku­tie­ren wel­che ande­ren For­men des Geden­kens und des Erin­nern es noch geben kann. Wie der Raum hier ist auch die Gestal­tung die­ser Erin­ne­rungs­ta­ge ein lau­fen­der Pro­zess. So kön­nen sich alle dar­in ein­brin­gen und ihre Wün­sche und Vor­stel­lun­gen äußern. So war vor kur­zem der Geburts­tag von Sedat Gür­büz, der hier gegen­über in der Shi­sa-Bar „Mid­night“ erschos­sen wur­de. Zusam­men mit der Fami­lie und den Freund*innen haben wir sei­ner am ers­ten Tat­ort gedacht. Wir ver­su­chen neue Vor­stel­lun­gen, Wün­sche und Bedürf­nis­se auf­zu­grei­fen und umzu­set­zen. Aber Coro­na hat schon vie­les an Akti­vi­tä­ten gedämpft.

Hagen: Also ein öffent­li­ches Pro­gramm für den Laden haben wir noch nicht. Eine ers­te Ver­an­stal­tung hat­ten wir aber schon im Laden. Ein Ver­tre­ter der Initia­ti­ve aus der Köl­ner Keup­stra­ße, Kut­lu Yurts­even, war hier und hat über die Erfah­run­gen der dor­ti­gen Initia­ti­ve berich­tet. Es war eine klei­nes Tref­fen, da wir wegen Coro­na natür­lich limi­tiert sind und nicht groß ein­la­den kön­nen. Aber es ist unser Plan, das wir um jeden 19. eines Monats her­um, eine Initia­ti­ve aus dem Bun­des­ge­biet ein­la­den und uns von ihren Erfah­run­gen berich­ten las­sen. Wir wol­len den Raum auch zu einer bun­des­wei­ten Ver­net­zung nut­zen. Wir kön­nen uns viel an Ver­an­stal­tun­gen, Aus­stel­lun­gen, Film­prä­sen­ta­tio­nen und Tref­fen vor­stel­len. Aber das ist natür­lich auch abhän­gig von den Locke­run­gen, die die Pan­de­mie zulässt.

Eine wei­te­re, noch sehr vage Idee ist es, dass Kon­zept des NSU-Tri­bu­nals für Hanau auf­zu­grei­fen. Denn der Fall in Hanau liegt so, dass dadurch das der Täter tot ist, es auch kei­nen Gerichts­pro­zess zur Auf­ar­bei­tung geben wird. Man kann davon aus­ge­hen, dass die Lan­des­re­gie­rung die Akten schnell schlie­ßen und alles mit einem Schluss­be­richt vom Tisch bekom­men möch­te. In Form eines sol­chen Tri­bu­nals könn­te man die Ket­te des behörd­li­chen Ver­sa­gens, die behörd­li­che Igno­ranz gegen­über Opfern ras­sis­ti­scher Gewalt, den Ras­sis­mus in den Behör­den und vie­les mehr the­ma­ti­sie­ren. Dies wür­de man in einen bun­des­wei­ten Rah­men stel­len und ver­mut­lich auch mit einer ent­spre­chen­den Groß­de­mons­tra­ti­on beglei­ten wol­len. Wir über­le­gen dies viel­leicht im Herbst zu machen.

Hei­ko: Dann wün­sche ich Euch und Eurem Pro­jekt viel Erfolg. Und dan­ke für die­ses Interview.