Prelude
Als ich in den letzten Monaten gefragt wurde, wie es mir geht, konnte ich meistens nur «besser» sagen. Denn dieses «besser» war für mich existenziell wichtig. Es beschrieb im Kern, wie es mir ging. Es folgte meistens dieser merkwürdige Moment, in dem mir aufgrund der Reaktion meines Gegenübers klar wurde, dass meine Antwort nicht verständlich ist, solange ich nicht benenne, warum es mir denn vorher «schlecht» gegangen war. Es reichte nicht zu sagen, worin die Verbesserung bestand, nein. Ich war irgendwie gezwungen zu benennen, was mein Bezugspunkt war. Was eigentlich der Ausgangspunkt des «besser» war. Um diesen merkwürdigen Moment und die darauf folgende Erklärdynamik zu vermeiden, antwortete ich manchmal mit «gut». Doch das war eine Lüge. Und ich entschied mich für die Wahrheit. Ich entschied, das vorangegangene «Schlechte» offen zu benennen. Seitdem frage ich mich wieder: Ist es möglich, über Selbststärkung und ‑ermächtigung zu sprechen, ohne darüber zu sprechen, was mich schwächt und entmächtigt? Ist es eigentlich möglich, immer und immer wieder die Befreiung meines Körpers zu proben, ohne zugleich auch aufzuzeigen, wer oder was mir Freiheit raubt? Kann ich von meiner Heilung sprechen, ohne davon zu sprechen, was mich krank macht?
Ich kann es (noch) nicht. Ich will es auch zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Denn: Gäbe es nichts, was mich schwächt, entmächtigt, krank macht oder tötet, müsste ich nicht einen großen Teil meiner Lebensenergie darauf verwenden, mich zu ermächtigen, zu gesunden, zu überleben. Wie auch immer das alles aussieht: Es besteht nicht nur aus zurücklehnen, Tee trinken und abwarten. Es ist Arbeit. Es ist ein Prozess. Es verlangt Disziplin. Es verlangt Entscheidungen für mich und mein Wohlbefinden. Es braucht Entscheidungen für andere und ihr Wohlbefinden. Es braucht andere, die mich unterstützen. Es braucht Solidarisierung, Widerstand und Protest. Und es ist wichtig, aufmerksam dafür zu bleiben, was mich schwächt, entmächtigt, krank macht oder tötet. Wie schreibe ich einen Text, angesichts Eric Garners letzter Worte: «I can’t breathe»? Ich nenne ihn:
We can breathe
Rassismus begann damit, dass der Körper – besser: bestimmte und willkürlich ausgewählte Merkmale des Körpers – als «anders» markiert wurden. Der Bezugspunkt war übrigens weiß, männlich und europäisch und ist allgemein unter «wir» bekannt. Unter dem Deckmantel der Beschreibung wurden diese Merkmale sozusagen erfunden. Beispielsweise dunkle Hautfarbe, krause Haare, breite Nasen, dicke Lippen. Es wurde etwas benannt, was eigentlich nicht benennenswert ist. Dann wurden diese markierten Körper als Gruppe bezeichnet und es wurde gesagt, sie seien alle gleich. In jedem Fall anders als «wir». Dann wurde behauptet, diese Körper seien weniger wert. Denn es wurde diesen Körpern mit den erfundenen äußeren Merkmalen auch bestimmte «innere» (Wesens-) Eigenschaften zugeschrieben. Primitiv beispielsweise, dumm oder faul. So ganz das Gegenteil von «uns» also. Warum das alles? Um die weißen, europäischen Ausdehnungsbewegungen mit der damit einhergehenden Vertreibung, Versklavung, Ausbeutung oder Vernichtung dieser Körper zu rechtfertigen. Auch wenn das – an guten Tagen – in meinen Ohren einfach nur absurd klingt, dieses Projekt war für die weißen Erfinder_innen so vielversprechend und lukrativ (Land, Arbeitskräfte und Rohstoffe für Europa), dass alle Macht eingesetzt wurde, um diese ganzen monströsen Erfindungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen durchzusetzen. Und: Es wurde alle Macht eingesetzt, um diese Macht zu behalten. Die vehemente Benennung, Darstellung und Verteidigung der zu Beginn benannten Erfindungen, machte sie immer bedeutsamer. So bedeutsam, dass sie tatsächlich bis heute mehr oder weniger unhinterfragt darüber entscheiden, ob Körper (über-) leben können oder sterben müssen, ob Menschen ihre Würde behalten dürfen oder nicht.
Rassismus ist eine Erfahrung der grundsätzlichen Entwürdigung des Körpers. Körper wurden nicht nur markiert, charakterisiert und hierarchisiert, sondern auch in Besitz genommen, ausgebeutet, gefoltert, vergewaltigt und ermordet.
Die Ausdehnung der weißen ist die Einschränkung der Schwarzen Körper. Auf einer körperlichen Ebene ist Gefahr (im Sinne von Gewalterfahrung, Unterdrückung) immer mit zusammenziehen, verkleinern, erstarren und verhärten verbunden. Der Fluchtimpuls lässt die Muskeln der Schwarzen Körper zusammenziehen, um in eine Fluchtbewegung kommen zu können. Wenn der Fluchtimpuls aufgrund tatsächlich drohender Bewegungseinschränkung wiederholt nicht ausgeführt werden kann, werden die Muskeln zunehmend hart. Die Muskeln des Schwarzen Körpers lernen schließlich mehr und mehr zu verhärten. Der Überlebensimpuls lässt uns mitunter unsere Schwarzen Körper aufrichten. Doch wenn Groß-Sein als Bedrohung für die bestehende Ordnung gesehen wird, weil diese auf Unterordnung der Schwarzen Körper unter die weißen Körper basiert, wird Groß-Sein immer wieder bestraft. Der Schwarze Körper lernt schließlich, sich klein zu machen. Unser Überlebensimpuls sorgt dafür, dass wir uns um die Wunden kümmern, wenn wir verletzt wurden. Doch wenn die Entfremdung vom eigenen Körper so stark ist, dass ich kaum die Verletzung, geschweige denn die Wunden spüre, bleiben sie unbehandelt und unverheilt. Der Schwarze Körper verlernt schließlich, sich um seine Wunden zu kümmern. Der (Über-) Lebenswille lässt uns auch intensiver atmen, um Kraft für das zu sammeln, was es braucht, um zu überleben (flüchten, verteidigen etc.). Doch wenn all das nicht möglich ist, wird der Atem nur immer weniger. So wenig, dass sich der Schwarze Körper kaum mehr bewegt. Denn ein Schwarzer Körper der überleben will, möchte in der weißen Unterdrückungslogik nicht gefährlich wirken. Die wiederholte Entwürdigung des Schwarzen Körper durch Rassismus führt schließlich dazu, dass dieser die Verbindung zur Grundbewegung des Lebens mehr und mehr einschränkt: zum Atem.
Die nahezu unendliche Lernfähigkeit des Körpers ließ den Schwarzen Körper über die Jahrhunderte lernen, was er tun muss, um zu überleben. Er erlernte und verinnerlichte das «richtige» Verhalten in der rassistischen Dynamik – nicht nur auf einer kognitiven Ebene, sondern auch auf der physischen. Der Körper diente dem Überleben und der Aufrechterhaltung einer rassistischen Dynamik zugleich. Denn die Unterdrückung ist schon längst Teil von uns…
Die nahezu unendliche Lernfähigkeit unserer Schwarzen Körper ermöglicht es uns, seine Macht als zentrales Medium von Widerstand und Befreiung, Dekolonisierung und Heilung (wieder-) zu entdecken. Dabei riskieren wir vieles. Wir riskieren die Wiederholung all dessen, was in den letzten Jahrhunderten gegen den Schwarzen Körper exekutiert wurde. Deshalb ist auch das (wieder-) erlernen von Ausdehnen, Großwerden, Geschmeidigwerden, Sprechen, Lautwerden, Bewegen, Heilen und Atmen das Widerständigste, Irritierendste und Transformativste, das wir tun können. Wir werden uns weiterhin ausdehnen. Wir werden uns weiterhin aufrichten. Wir werden noch geschmeidiger werden. Wir werden weiterhin sprechen. Wir werden noch lauter werden. Wir werden uns weiterhin bewegen. Wir werden heilen. Wir werden weiteratmen.
Pasquale Virginie Rotter ist Erziehungswissenschaftlerin und bundesweit als Empowerment‑, Critical Whiteness und Diversity-Trainerin tätig. Sie arbeitet außerdem als Moderatorin, Mediatorin und Körper-Coach. In Ihrer Arbeit verknüpft sie kognitive Methoden mit Methoden der Körperarbeit und Bewegungsimprovisation und forscht und schreibt zum Thema «Körper in rassistischen Machtverhältnissen».
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