Vor 25 Jahren begann eine jüdische Einwanderung, wie sie nach dem Holocaust undenkbar schien. Die DDR war fast passé und die deutsche Einheit stand an, als im Februar 1990 der drei Monate alte Jüdische Kulturverein Berlin (JKV) am Zentralen Runden Tisch die bedingungslose Öffnung der DDR-Grenze für alle forderte, die sich in der Sowjetunion als Juden bedroht sahen.
«Jüdisch» war in der UdSSR eine von 126 Nationalitäten. Die «nationale Zugehörigkeit» war identisch mit der ethnischen und als «5. Punkt» auch im Inlandspass vermerkt. Das National-Ethnische einte, grenzte aber auch ab und aus. Die jüdische Bevölkerung wusste, welche Studienrichtungen und Arbeitsfelder für sie gesperrt waren, lebte zumeist in Großstädten. Familien tradierten die Bildungsideale, der Anteil an jüdischen Hochschul- und Universitätsabsolventen überstieg jede Quote. Sie galten pauschal als hochbegabt, geschickt und gut vernetzt, je nach politischer Lage als Weltverschwörer und Zionisten.
In der DDR gab es keine jüdische Nationalität. Jüdisch war, wer sich in der Religionsgemeinde angemeldet hatte. 1990 waren das weniger als 300 Menschen. Für Faschismus- und Holocaustforscher und für viele Literaten galt es lange nicht als opportun, in den Lebenserinnerungen von Sozialisten und Kommunisten nach deren «Jüdischkeit» zu suchen. Viele, die den Holocaust in Lagern, im Exil, illegal oder im Widerstand überlebt hatten, wollten zudem auch wegen der anti-zionistischen Ideologie nicht ans eigene Judentum erinnert werden. So nahm allmählich eine osteuropäische Stetl-Folklore den Platz des vernichteten deutsch-jüdischen Erbes ein. Die sowjetische Kategorisierung nach «Nationalität» und die Konfessionalisierung des DDR-Jüdischen schlossen sich aus, doch innerjüdisch wurden diese Fragen auch außerhalb der Gemeinden seit Anfang der 80er Jahre diskutiert. Ein jüdischer Aufbruch lag in der Luft.
Am 8. Februar 1990 hatten alle Vertreter von Parteien und Gruppen am Zentralen Runden Tisch für einen eindeutigen Aufruf des Jüdischen Kulturvereins Berlin gestimmt, in dem es hieß:
Seit Wochen hören wir von antijüdischen Pogromdrohungen in verschiedenen sowjetischen Städten. […] Eingedenk der Tatsache, dass bei der Judenverfolgung und ‑vernichtung durch den deutschen Faschismus die ganze Welt zugesehen hat, rufen wir auf, die deutsche Schmach der Vergangenheit nicht zu wiederholen. […] Deshalb fordern wir, dass die DDR Voraussetzungen zur sofortigen Aufnahme von sowjetischen Juden, die es wünschen, […] schafft.
Der Jerusalemer Rabbiner Tsevi Weinmann hatte diese Erklärung angeregt, DDR-Außenministerium und sowjetische Botschaft lehnten sie ab, ich stellte das Schreiben am Runden Tisch vor, die Regierung Modrow ignorierte dessen Beschluss, doch Nachfolger Lothar de Maizière (CDU) regelte die Einwanderung im Mai 1990, legitimiert durch die Volkskammer. Wer von nun an bis zum 31. Dezember 1990 bei der Volkspolizei oder in Aufnahmebüros die jüdische Herkunft durch ein sowjetisches Personaldokument bzw. die eigene oder elterliche Geburtsurkunde belegen konnte, hatte Anspruch auf eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, Krankenversicherung, Unterkunft, Verpflegung und Taschengeld. DDR-Finanzminister Romberg (SPD) ordnete unbürokratische Soforthilfe bei Versorgung und Unterbringung an, Abrüstungsminister Eppelmann (Bündnis 90) öffnete eine Kaserne in Ahrensfelde bei Berlin. Ich fuhr am 22. Mai mit einem britischen Journalisten dorthin, der um 13:55 Uhr in seiner Eilmeldung bei Reuters verkündete: «Die DDR öffnet sich für sowjetische Juden.»
Bis Oktober 1990 kamen etwa 2000 sowjetische Touristen, die bleiben wollten. Staatliche Stellen, protestantischer und katholischer Klerus sowie Privatpersonen, JKV und Israelitische Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel halfen ihnen dabei. Russischsprachige Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinden Ost und West organisierten auch die Verfahren. Der Beschluss zur jüdischen Einwanderung sollte in den Einigungsvertrag, doch der Parlamentarische Staatssekretär Günter Krause erklärte vor dem DDR-Ministerrat, er hätte das erfolglos versucht. Hans Misselwitz (SPD), Staatssekretär im DDR-Außenministerium, wurde weit vor Jahresende 1990 vom BRD-Staatssekretär Sudhoff ins Bonner Auswärtige Amt «einbestellt» und aufgefordert, die Einwanderung zu beenden, was er ablehnte. Der bundesdeutsche Zentralrat der Juden, SPD-Abgeordnete, Gewerkschafter und Kirchenführer verlangten nun die Fortsetzung. Den Kompromiss erbrachte im Februar 1991 die Bundesinnenministerkonferenz in Anlehnung an die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Die Regelung war verwaltungstechnisch aufwändig. Jüdische Flüchtlinge galten nicht als staatlich verfolgte ethnische Gruppe, und sie mussten nicht nach Konfliktende ausreisen. Sie wurden «Kontingentflüchtlinge» mit Sonderstatus, was bis 1. Januar 2005 galt und – zeitgemäß – durch einen Kompromiss von Bundesinnenministerium, Zentralrat der Juden und World Union for Progressive Judaism beendet wurde.
Zwischen 1991 und 2005 waren etwa 230.000 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert. Rund 80.000 schlossen sich den Jüdischen Gemeinden in Stadt und Land an. Die Gemeinden verdreifachten ihre Mitgliederzahl. Nicht alle Eingewanderten waren jüdisch im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes. Über die «ethnischen» Juden (väterliche Abstammung) und nichtjüdische Angehörige scheint wenig bekannt. Generell erschwerten Arbeitslosigkeit, Wohlstandsgefälle, kulturelle Fremdheit, Konzeptionslosigkeit, Sprachmangel, religiöse Unvereinbarkeiten, der mangelnde Respekt vor Lebensleistungen in der UdSSR und das Unverständnis vor dem Spannungsverhältnis aus ethnischer und religiöser (Selbst-) Definition nicht nur den Älteren den Weg in Deutschlands Alltag. Nicht zu vergessen ist auch die Differenz zwischen europäischer Metropolen- und asiatischer bzw. orientalischer jüdischer Herkunft.
Die nächsten zwei Generationen profitierten vor allem vom nach Deutschland mitgebrachten Bildungs- und Kulturvorlauf der Altvorderen. Diese vermittelten dem Nachwuchs Naturwissenschaften, Mathematik, Schach‑, Sport- und Musik, Kunst und Tanz, und versuchten dadurch, die Frustration über den sozialen Abstieg, soziale und kulturelle Abhängigkeiten und lebensgeschichtliche Brüche zu mindern. Es ging um Integration statt Assimilation. Die Nachgewachsenen haben sich schulisch und beruflich durchgesetzt, sie leben mit oder ohne religiöse Identität, dafür traditionell mit dem alt-neuen ethnisch-jüdischen Bewusstsein, das offenbar nicht mit der deutschen Staatsangehörigkeit kollidiert.
Ältere Russischsprachige gründeten in den Gemeinden auch andere Klubs, oft nach «Landsmannschaften» differenziert, um gemeinsam ihre kulturellen, sozialen und wissenschaftlichen Interessen zu bedienen. 1990 waren von 29.000 Gemeindemitgliedern rund 1000 russischsprachig, 2005 schon 98.000 von 108.000 Mitgliedern. Heute sind die Gemeinden überaltert, aber für die jüdische Zukunft ist schon absehbar, dass sich das jüdische Leben differenziert und auf Großstädte konzentriert. Globale, jüdische, israelische Identitäten und Gemeindezugehörigkeiten sind nur unterschiedliche Seiten der gleichen Medaille. Neue jüdische Gruppen und Klubs ermöglichen vor allem eine altersrelevante und herkunftsbezogene Nähe, die kulturelle und politische Divergenz nicht ausschließt. In Berlin kann heute rekonstruktionalistisch, liberal, konservativ und orthodox gebetet werden. In den personell vernetzten jüdischen Selbstorganisationen stärkt sich die Identität. Jüdische Studentenvereinigungen, Schulen, Kindergärten, jüdische Feier- und Gedenktage, Filmfeste, Lerncamps, Cafés und eine junge Kreativszene sind daher unerlässlich, auch wenn sie außerhalb jüdischer Zusammenhänge kaum bekannt sind.
Seit 1990 ist dieser existentielle Kampf um Ankommen und Anerkennung fast unbeachtet geblieben. Dem 2009 aufgelösten JKV galt die jüdische Einwanderung als Migrationsthema. Im Verein waren die Lebensgeschichten der Eingewanderten präsent. Damit wurde auch auf den Reichtum an jüdischer Gegenwart hingewiesen. Heute wird Deutschlands jüdische Bevölkerung auf über 200.000 Menschen geschätzt. Zu beobachten ist diese teils typische Einwanderung, die zugleich eine eigene Logik und Dynamik besitzt.
Dr. Irene Runge gründete 1986 mit anderen unter dem Dach der Jüdischen Gemeinde Ostberlins die Gruppe Wir für uns – Juden für Juden, aus der im Dezember 1989 der Jüdische Kulturverein deentstand, dessen Vorsitzende sie bis zu dessen Auflösung im Jahr 2009 war. 2004 wurde sie in dieser Funktion Gründungsmitglied des Migrationsrats Berlin-Brandenburg (MRBB). Sie hat umfassend zu solchen Themen publiziert.
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