Erinnern ist Empowerment

Bênav lebt in Diyar­bakır, der kur­di­schen Metro­po­le im Süd­os­ten der Tür­kei. Er ist Video-Per­for­mance-Künst­ler. Er wirft mit Milch­pa­ckun­gen und Oran­gen um sich und wen­det sich um die lau­fen­de Nebel­ma­schi­ne hin und her, wäh­rend er von kur­di­schen Dör­fern erzählt, die in der Ver­gan­gen­heit dem Erd­bo­den gleich­ge­macht wur­den. In sei­nem wut­end­brann­ten Mono­log spricht er von ver­lo­ren­ge­gan­ge­ner Geschich­te und unter­drück­ter Iden­ti­tät, von gestoh­le­nen Namen und der Suche nach Gerech­tig­keit. Dafür steht Mely Kiyaks Figur im Thea­ter­stück «Auf­stand», das am 20. Novem­ber 2014 im Maxim-Gor­ki-Thea­ter in Ber­lin Pre­mie­re hat­te. Zum Ende des Auf­tritts spricht der Prot­ago­nist eine Wahr­heit des Wider­stan­des aus: «Erin­nern ist Auf­stand.» Bênav sucht nach Erzäh­lun­gen und Rea­li­tä­ten, die in hege­mo­nia­ler Geschichts­schrei­bung mund­tot gemacht wer­den. Sein Auf­stand ist einer der Erin­ne­rung. Erin­nern ist Auf­stand. Erin­nern ist aber auch Empower­ment. Dafür braucht es Geschich­ten über Ver­gan­ge­nes, Gegen­wär­ti­ges und Zukünf­ti­ges. Die­se legen die Basis für den Stoff, aus dem Iden­ti­tä­ten entstehen.

Wel­che Geschich­ten in einer Gesell­schaft erzählt und wel­che ver­ges­sen wer­den, hat des­halb eine ent­schei­den­de Rol­le dar­in, wie sich Grup­pen zuein­an­der in Bezie­hung set­zen. Her­kömm­li­che natio­na­le Geschichts­schrei­bung baut auf die­sem Prin­zip der Aus­wahl und Aus­gren­zung auf. Sie erzählt von heroi­schen Figu­ren der Zeit, die nach ihrem Ver­ständ­nis das Fun­da­ment einer Wer­te­ge­sell­schaft und Kul­tur leg­ten. Was jedoch die einen in einem neu­kon­stru­ier­ten Nati­ons­be­wusst­sein nach innen ver­bin­det, trennt ande­re nach außen. Wer gehört zu die­ser Geschichts­schrei­bung und wer nicht? Wel­che Geschich­ten ver­schwin­den von der Bild­flä­che und wie­so? Wie kann Geschich­te erzählt wer­den, um Mar­gi­na­li­sier­ten einer Gesell­schaft Teil­ha­be zu ermöglichen?

Die­se Fra­ge stellt sich nicht zuletzt im Hin­blick auf den 130. Jah­res­tag der soge­nann­ten Ber­li­ner Afri­ka-Kon­fe­renz. Am 15. Novem­ber 1884 lud Reichs­kanz­ler Otto von Bis­marck die Kolo­ni­al­mäch­te zur Auf­tei­lung des afri­ka­ni­schen Kon­ti­nents nach Ber­lin. Die heu­te gemein­hin als Togo, Kame­run, Tan­sa­nia, Burun­di, Ruan­da und Nami­bia bekann­ten Staa­ten gehör­ten zum deut­schen Kolo­ni­al­reich. Spä­ter kamen unter ande­rem auch Samoa und Neu-Gui­nea im Pazi­fik und Kiautschou im heu­ti­gen Chi­na hin­zu. In einem Zeit­raum von über 30 Jah­ren ent­wi­ckel­te sich das Deut­sche Reich zu einem der größ­ten Mäch­te des moder­nen Kolo­nia­lis­mus. Ras­sis­mus, Ent­eig­nung und Unter­drü­ckung bestimm­ten den All­tag in den kolo­ni­sier­ten Ter­ri­to­ri­en, wäh­rend Wis­sen­schaf­ten, Gesell­schaft und Poli­tik in der Metro­po­le mit ras­sis­ti­schen Meis­ter­er­zäh­lun­gen von euro­pä­isch-deut­scher Über­le­gen­heit die Legi­ti­ma­ti­on für ein Sys­tem der Aus­beu­tung lieferten.

Zwar ver­lor Deutsch­land mit dem Ende des Ers­ten Welt­krie­ges sei­ne Kolo­nien an die Sie­ger­mäch­te, nichts­des­to­trotz hat das kolo­nia­le Pro­jekt sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen. Ein Spa­zier­gang durch die Haupt­stadt der Bun­des­re­pu­blik zeugt von die­ser Ver­gan­gen­heit. Stra­ßen­na­men im «Afri­ka­ni­schen Vier­tel» sind ver­kör­per­te Erin­ne­run­gen, die, benannt nach deut­schen Kolo­nia­lis­ten und Über­see­ter­ri­to­ri­en, Nost­al­gi­en einer unter­ge­gan­ge­nen Kolo­ni­al­macht wach­ru­fen. Sie machen Ver­gan­ge­nes all­täg­lich leben­dig, ent­fa­chen Bil­der der Gewalt und gren­zen nicht-wei­ße Deut­sche aus. Die­se Domi­nanz­ver­hält­nis­se wer­den auf viel­fäl­ti­ge Wei­se in Muse­en, Schu­len und Main­stream-Medi­en auf­ge­grif­fen, wenn Geschich­te die Hier­ar­chie zwi­schen einem «Wir» und «dem Rest» auf­recht­erhält und domi­nan­te Akteure_innen in Wis­sen­schaft, Poli­tik, Medi­en und Gesell­schaft weiß sind. Die his­to­ri­sche und gesell­schaft­li­che Zuge­hö­rig­keit von nicht-wei­ßen Deut­schen wird hin­ge­gen in Fra­ge gestellt. Natio­na­le Nar­ra­ti­ve ver­stär­ken die­se Form all­täg­li­cher Mar­gi­na­li­sie­rung, wenn ande­ren das Recht auf Geschich­te und Teil­ha­be abge­spro­chen wird. Denn die Zuge­hö­rig­keit zu einem wei­ßen, christ­li­chen und «urdeut­schen» Iden­ti­täts­be­wusst­sein grenzt «den Rest» aus.

Geschichts­schrei­bung bewegt sich also nicht im macht­frei­en Raum. Im Gegen­teil, die Mensch­heits­ge­schich­te ist gefärbt. Sie wird von Bil­dern euro­pä­isch-west­li­cher Zivi­li­sa­ti­on als Motor einer sich wan­deln­den Welt bestimmt. Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te, Frie­den und Ent­wick­lung gehö­ren in die­sem euro­zen­tri­schen Geschichts­ver­ständ­nis zu den Errun­gen­schaf­ten eines glo­ba­len Nor­dens. Außer­halb die­ser Linie lie­gen Erzäh­lun­gen von Dik­ta­tur, Kor­rup­ti­on, Krieg und Bar­ba­rei. «Das Ande­re» ist fremd, unzi­vi­li­siert und unter­ent­wi­ckelt. Es ist all das, was das Eige­ne nicht ist – eine Anti­the­se zu west­li­cher Moder­ne. Die­se Bil­der rei­chen bis ins 15. Jahr­hun­dert zurück und spie­geln Pro­zes­se euro­päi­scher Expan­si­on und Kolo­ni­sie­rung wider. Sie bil­den eine Norm, die nicht-wei­ße Prä­senz im Schat­ten kon­stru­ier­ter Wahr­hei­ten verdrängt.

Die Ant­wort auf die­ses begrenz­te Kon­zept von Welt­ge­schich­te ist Empower­ment. Dafür braucht es Räu­me zur Selbst­iden­ti­fi­ka­ti­on und Stär­kung. Wahr­hei­ten zu hin­ter­fra­gen, ist der ers­te Schritt eines sol­chen Pro­zes­ses zur poli­ti­schen Stär­kung von Men­schen, die struk­tu­rell benach­tei­ligt wer­den. Was gemein­hin unter dem Schlag­wort «Empower­ment» gefasst wird, ent­stand im Kon­text der US-ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­rechts­be­we­gung im 20. Jahr­hun­dert und ist eine Form der Selbst­er­mäch­ti­gung von Peo­p­le of Color (PoC). Dabei han­delt es sich um eine Selbst­be­zeich­nung von Men­schen, die von Ras­sis­mus betrof­fen sind und in einer wei­ßen Mehr­heits­ge­sell­schaft zum «Ande­ren» gemacht wer­den. Sie wer­den zum Spie­gel­bild wei­ßer Fan­ta­sien und ver­in­ner­li­chen Bil­der der Anders­ar­tig­keit. So wird Selbst­wahr­neh­mung von Fremd­bil­dern bestimmt. Empower­ment steht des­halb für Eman­zi­pa­ti­on in Spra­che, Kul­tur, Poli­tik und Wis­sen­schaft. Das wird durch alte und neue Geschich­ten möglich.

Das Pra­xis­for­schungs­pro­jekt «Erin­ne­rungs­or­te. Ver­ges­se­ne und ver­wo­be­ne Geschich­ten» der Ali­ce-Salo­mon-Hoch­schu­le setzt genau hier an. In Koope­ra­ti­on mit der Hoch­schu­le für Tech­nik und Wirt­schaft Ber­lin (HTW) wird his­to­risch-poli­ti­sche Bil­dung an kon­kre­ten Erin­ne­rungs­or­ten in Ber­lin erfahr­bar gemacht. Das Pro­jekt, das durch das Insti­tut für ange­wand­te For­schung (IFAF) geför­dert wird, for­dert Gren­zen natio­na­ler Geschichts­schrei­bung her­aus und wird zum Sprach­rohr jener Berliner_innen, deren «ande­re» Geschich­ten unsicht­bar blei­ben. Dadurch wer­den ver­ges­se­ne Geschich­ten in ihrer Ver­knüp­fung mit­ein­an­der und mit deut­scher Geschich­te in einem glo­ba­len Kon­text begreif­bar; so wie Deutsch­lands Rol­le am Völ­ker­mord an den Armenier_innen im Osma­ni­schen Reich, Schwar­ze Deut­sche Geschich­te in Ber­lin oder der kolo­nia­le Geist in der Wei­ma­rer Repu­blik und im Natio­nal­so­zia­lis­mus. Ber­lin, als poli­ti­sches Macht­zen­trum, wird zur Schnitt­stel­le von Ver­skla­vung, Kolo­nia­lis­mus und Wider­stand. Das Ziel ist, die­se Geschich­ten zu einem Teil eines kol­lek­ti­ven urba­nen Gedächt­nis­ses in Ber­lin zu machen und Erin­ne­rungs­or­te für eth­ni­sche und reli­giö­se Min­der­hei­ten zu schaf­fen. Die Ergeb­nis­se der Recher­chen wer­den medi­en­päd­ago­gisch auf­be­rei­tet und kön­nen von der all­ge­mei­nen Öffent­lich­keit und in der Bil­dungs­ar­beit täti­gen Orga­ni­sa­tio­nen genutzt wer­den. Durch das Auf­de­cken ver­ges­se­ner Geschich­ten wird der öffent­li­che Raum ein Ort der Erinnerung.

Es geht aber nicht nur dar­um, an Ver­ges­se­nes zu erin­nern. Gleich­zei­tig wird Geschichts­schrei­bung als sol­che in Fra­ge gestellt, dekon­stru­iert und rekon­stru­iert. Empower­ment bedeu­tet des­halb nicht nur, ein Teil des Gan­zen zu sein, son­dern zu irri­tie­ren und in Fra­ge zu stel­len. Peo­p­le of Color füh­ren dadurch die Begrenzt­heit von natio­na­len Iden­ti­tät vor. Sie geben Impul­se, sich mit glo­ba­len, hybri­den und ambi­va­len­ten Iden­ti­täts­kon­zep­ten aus­ein­an­der­zu­set­zen und erzäh­len gleich­zei­tig Geschich­ten, die in offi­zi­el­ler His­to­rio­gra­phie und Gedenk­kul­tur kei­nen Platz fin­den. So gestal­tet sich Empower­ment auf den Spu­ren «eige­ner» Geschichte.

Alte Geschich­ten kom­men zum Vor­schein, neue wer­den erschaf­fen. Geschich­te ist in die­ser Hin­sicht ein kon­flikt­haf­ter und umkämpf­ter Pro­zess, der auch von «Ande­ren» par­ti­zi­pa­tiv und wider­stän­dig geprägt wird. Erin­nern ist ein Akt poli­ti­scher Befrei­ung und Selbst­be­stim­mung. Wie die Thea­ter­fi­gur Bênav sagt: «Erin­nern ist Auf­stand.» Erin­nern ist auch Empowerment.

 

Ozan Kes­k­in­kılıç ist Mit­ar­bei­ter im Pra­xis­for­schungs­pro­jekt «Erin­ne­rungs­or­te. Ver­ges­se­ne und ver­wo­be­ne Geschich­ten» der Ali­ce-Salo­mon-Hoch­schu­le. Er forscht zu deut­scher Kolo­ni­al­ge­schich­te und Schwar­zen Widerstandsformen.

 

Wei­te­re Bei­trä­ge im Dos­sier «Empower­ment?!»:

Mar­wa Al-Rad­wany und Ahmed Shah: Mehr als nur ästhe­ti­sche Korrekturen

Pas­qua­le Vir­gi­nie Rot­ter: We can breathe

Isi­do­ra Rand­jelo­vić: Rech­te statt Fürsorge

Nata­scha Salehi-Shah­ni­an: Power­sha­ring: Was machen mit Macht?!

Mona El Oma­ri und Sebas­ti­an Flea­ry: «If you can’t say love…» – Ein Empower­ment-Flow zu Indi­vi­du­um, Dia­spo­ra-Com­mu­ni­ty und päd­ago­gi­scher Reflexion

Tuğ­ba Tanyıl­maz: Päd­ago­gin 2.0

Doro­thea Lin­den­berg und Eli­sa­beth Nga­ri: Von per­sön­li­chen Pro­ble­men zu poli­ti­schen Forderungen

Tahir Del­la: Schwar­ze Men­schen zwi­schen Fremd­wahr­neh­mung und Selbstbestimmung

Nuran Yiğit: Empower­ment durch Recht

Ire­ne Run­ge: Gemein­de­zu­ge­hö­rig­keit oder jüdi­sche Iden­ti­tät? Wie Eth­nie und Reli­gi­on sich ergänzen

Žakli­na Mam­uto­vič: Empower­ment ist ein poli­ti­scher Begriff

Fatoş Ata­li-Tim­mer und Paul Mecher­il: Zur Not­wen­dig­keit einer ras­sis­mus­kri­ti­schen Sprache

Son­gül Bitiș und Nina Borst: Gemein­sam könn­ten wir das Haus rocken!