In Vorbereitung auf diesen Text gab ich «Empowerment» bei Google ein, um mich ein wenig inspirieren zu lassen, und erhielt 53.800.000 Ergebnisse. Viele akademische Texte habe ich gelesen, viele überflogen, einige nicht verstanden und einige sehr gut gefunden. Ehrlich gesagt, kann ich das Konzept trotzdem immer noch nicht richtig erfassen. Vielleicht, weil es nicht richtig planbar ist, zu «empowern» und konkret genug ist es auch nicht immer: Empowerment ist kein klares, durchsichtiges Konzept. Seit ein paar Jahren umgibt mich dieser mittlerweile in bestimmten politischen Kreisen zum Mainstream gewordene, in der politischen Arbeit unentbehrliche und vielschichtige Begriff.
Nun ist es bereits zwölf Jahre her, dass ich die Ausbildung zur Erzieherin absolvierte und anfing, in einer Kindertagesstätte im Berliner Bezirk Wedding zu arbeiten. Ich lese ab und zu immer noch gern mein Jahrgangsbuch zum Abschluss der Ausbildung, um mich immer wieder an die Tuğba von damals zu erinnern. Jede Person der Klasse bekam dort eine Seite zum Ausfüllen. Erzählt wird darin von schönen Erinnerungen während der Schulzeit, von guten und schlechten Eigenschaften, Träumen und es ist jeweils ein sehr vielsagendes individuelles Lebensmotto mitgegeben. Mein Traum: «Es besser machen als andere und eine der besten Erzieherinnen sein.» Beim Lebensmotto schrieb ich und konnte mich wie so oft nicht für einen Satz festlegen: «Behandele andere Menschen so, wie du behandelt werden willst!!!» und «Die, die nichts zu sagen haben, reden viel. Die, die was zu sagen haben, hingegen kaum!»
Heute denke ich hin und wieder darüber nach, woher das kam. Ich war mir vielem gar nicht bewusst zu diesem Zeitpunkt. Rassismus, Sexismus, Homophobie und Klassismus betraf nur andere Menschen, aber nicht mich. Glaubte ich. Ich war doch kein Opfer und schon gar nicht marginalisiert. Schwer vorstellbar, dass ich das glaubte. Ich ging in Berlin-Pankow zur Schule und war fast die einzige aus meiner Klasse, die den Bus in den «Westen» nahm und die einzige Woman of Color der Klasse. Warum wollte ich meine pädagogische Arbeit besser ausüben, als die, die ich bis zu dem Tage kannte? Warum wollte ich alle Menschen wertschätzend und – insofern es möglich und relevant ist – gleich behandeln? Wieso ging ich davon aus, dass einige Menschen nicht gehört werden und nicht zu Wort kommen?
Da stand ich also an meinem ersten Tag vor 30 Kindern im Alter von 6–11 Jahren und hatte Verantwortung. Nach einem Jahr mit vielen «Diversity»-Projekten, einem selbstverwalteten Theaterprojekt von Kindern und mir zum Thema Diskriminierung durch Sprache und vielen diskriminierenden/machtvollen Konflikten mit Eltern und Kolleginnen war es mir nicht genug, in einer Kita zu arbeiten. Ich wollte gehört werden und auf Dinge aufmerksam machen. Ich wechselte den Job und auch das reichte nicht. Ich wollte mehr Wissen, mehr Macht, mehr Möglichkeiten und wollte politischer arbeiten. Um mehr Anerkennung zu bekommen, musste ich an die Hochschule. Glaubte ich – und studierte soziale Arbeit…
Indessen arbeite ich seit vier Jahren bei der Initiative intersektionale Pädagogik (i‑PÄD) und unterrichte Klassen aus meiner ehemaligen Schule in Pankow. Und ich mache es besser. Ich bringe den Lehrkräften und den angehenden Erzieher_innen meine Vision einer Gesellschaft näher und berichte von meinen Erfahrungen. Ich sage ihnen, wie sie es besser machen können und bekomme sogar Geld dafür. Geld dafür, ihnen ihre Arbeit zu erklären. Für mich sehr empowernd.
Mein Bild von Pädagogik ist es, jeden Menschen so anzunehmen, wie er ist. Gleichberechtigt zu handeln und Menschen ihre Autonomie zu lassen. Menschen mit all ihren Identitätsmerkmalen wahrzunehmen und mit Respekt zu begegnen. Nach Ressourcen zu schauen, statt nach Defiziten. Identitäten, das Ich-Gefühl und jedes Individuum zu stärken und zu unterstützen. Ich versuche, meine Arbeit als Pädagogin so zu gestalten, dass alle Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, sich in diesen Räumen wohl, verstanden und respektiert fühlen. Ich versuche, mit ihnen zusammen Worte dafür zu finden, was in unserer Gesellschaft passiert. Gemeinsam finden wir einen, soweit es geht, machtkritischen und gewaltfreien Umgang.
Ich erkläre Jungen, dass sie auch mal weinen und, wenn sie wollen, Jungen lieben können, auch wenn es nicht alle Menschen immer gut finden werden. Mädchen wissen, dass sie auch die Dinge machen können, die Jungs machen und umgekehrt. Menschen lernen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Dass sie sich nicht immer mit dem Geschlecht identifizieren müssen, das ihnen nach der Geburt zugeordnet worden ist. Kemal weiß, dass er sich selbst einen Namen bzw. eine Bezeichnung geben kann – oder nicht. Dass er sich selbst definieren kann. Und wenn er sich nicht als «behindert» sieht, dann ist es so. Nora lässt sich nicht mehr von allen Menschen in die Haare fassen und beantwortet keine Fragen mehr über den Kontinent Afrika.
In meiner pädagogischen Arbeit öffne ich manchen Menschen den Blick für verschiedene Identitäten und Lebensrealitäten. Wir teilen Erfahrungen und Wissen. Wir lernen in einem teils schmerzhaften Prozess, dass Diskriminierung, Gewalt und Rassismus niemals aufhören werden, wir aber nicht einfach alles über uns ergehen lassen müssen. Wir lernen, uns zu wehren, auf unterschiedlichste Arten und Weisen. Wir erlernen partizipieren und uns eine Stimme geben, auch wenn andere Menschen das nicht immer wollen. Manchen von uns geht es danach gut – und manchen nicht. Einige gewinnen an Erkenntnis und Kraft. Einigen geht es schlechter, weil sie diese Machtverhältnisse nicht sehen wollen und eben nicht akzeptieren können, dass sie zu den weniger privilegierten Menschen gehören. Denn es gibt nie eine Garantie dafür, dass «Empowerment» immer alle von uns bestärkt. Doch allen wird bewusst, dass eben nicht alle Menschen gleich behandelt werden und die gleichen Zugänge und Chancen in unserer Gesellschaft haben.
Wenn das alles zu Empowerment gehört, dann mache ich wohl auch «Empowerment-Arbeit». Wieso es diesen Namen dazu braucht, verstehe ich nicht immer. Ich bin Pädagogin. Vielleicht eine Pädagogin 2.0, updatefähig, aber dennoch eine von vielen.
Wenn wir unser Augenmerk auf Machstrukturen, Vorurteile, Selbstdefinitionen, verschiedene Rollen in der Gesellschaft, Unterstützung, Power-Sharing, Empathie, Wertschätzung und Respekt lenken, dann könnten viele Menschen mehr, empowernde Menschen sein. Und falls es einigen nicht gelingt, kommt zu der Initiative intersektionale Pädagogik – i‑PÄD, wir zeigen euch unsere Vision einer Gesellschaft und unterstützt mich dabei, mich weiter zu empowern und Geld zu verdienen.
Tuğba Tanyılmaz ist zurzeit als psychosoziale Beraterin/Sozialarbeiterin in einem Frauenhaus tätig. Als selbständige Bildungsreferentin bietet sie Workshops und Lehrveranstaltungen für Lehrer_innen, Eltern, Studierende, (angehende) Pädagog_innen, Erzieher_innen und anderen Multiplikator_innen aus sozialen Berufen zu den Themen: diskriminierungsfreie und machtkritische Erziehung, Intersektionalität, Gender, Homo- und Transdiskriminierung, Sexualität, Identität, Rassismus- und Krisenintervention sowie Konfliktmanagement an. Tuğba Tanyılmaz ist Mitbegründerin der Initiative intersektionale Pädagogik (i‑PÄD).
Weitere Beiträge im Dossier «Empowerment?!»:
Marwa Al-Radwany und Ahmed Shah: Mehr als nur ästhetische Korrekturen
Pasquale Virginie Rotter: We can breathe
Ozan Keskinkılıç: Erinnern ist Empowerment
Isidora Randjelović: Rechte statt Fürsorge
Natascha Salehi-Shahnian: Powersharing: Was machen mit Macht?!
Mona El Omari und Sebastian Fleary: «If you can’t say love…» – Ein Empowerment-Flow zu Individuum, Diaspora-Community und pädagogischer Reflexion
Dorothea Lindenberg und Elisabeth Ngari: Von persönlichen Problemen zu politischen Forderungen
Tahir Della: Schwarze Menschen zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbestimmung
Nuran Yiğit: Empowerment durch Recht
Irene Runge: Gemeindezugehörigkeit oder jüdische Identität? Wie Ethnie und Religion sich ergänzen
Žaklina Mamutovič: Empowerment ist ein politischer Begriff
Fatoş Atali-Timmer und Paul Mecheril: Zur Notwendigkeit einer rassismuskritischen Sprache
Songül Bitiș und Nina Borst: Gemeinsam könnten wir das Haus rocken!
Sehr interessant! Und mir fällt sofort etwas sehr Konkretes zu „Empowerment“ und Sozialer Arbeit ein: Das relativ neue und innovative Verfahren Familienrat, hier ein Fallbeispiel dazu:
https://schicksalederrepublik.wordpress.com/2014/11/21/justin-hat-die-schnauze-voll-ein-fallbeispiel-zum-familienrat-das-techniken-und-grenzen-erklart/
Liebe Grüße