Unser Italien-Korrespondent Heiko Koch interviewte am 26. September 2018 in Rom Stefania Zuccari, die Mutter von Renato Biagetti. Renato Biagetti wurde im August 2006 in Focene, einem Vorort von Rom, von einem Faschisten ermordet. Stefania Zuccari gründete darauf mit anderen Frauen das „Comitato Madri per Roma Città Aperta“ [„Komitee der Mütter für Rom Offene Stadt“] und engagiert sich seitdem grenzübergreifend gegen Polizeigewalt und Faschismus und für soziale Gerechtigkeit. Stefania Zuccari: „Wenn ich in meinem Kopf nur denjenigen sehen würde, der Renato getötet hat, dann wäre ich in meinem Kopf stehen geblieben. Mein Geist musste sich öffnen und dazu brauchst du Liebe.“
Heiko Koch: Guten Tag Signora Zuccari. Vielen Dank, das Sie zu einem Interview bereit sind. Sie sind die Mutter von Renato Biagetti, der im Jahr 2006 von einem Faschisten in Rom erstochen wurde. In Deutschland gibt es nur wenige Menschen, die von dem Schicksal ihres Sohnes wissen. Bitte erzählen Sie uns über Renato und die Ereignisse aus dem Jahr 2006.
Stefania Zuccari: Mein Name ist Stefania Zuccari. Ich bin die Mutter von Renato – Renato Biagetti. Renato war ein junger Mann von 26 Jahren. Er war wie viele andere jungen Leute im heutigen Italien. Mit einem Unterschied — er war ein Linker. Eine „Zecca comunista“ — eine „kommunistische Zecke“, wie man Linke hier in Italien von Rechts beschimpft. Wir sind eine ganz normale Familie. Ich war von Beruf Bankangestellte und habe als solche meine beiden Söhne — Dario und Renato — groß gezogen. Renato hat 2005 seinen Universitätsabschluss in Ingenieurwesen abgeschlossen, spezialisiert auf Robotertechnik. Im Sommer 2006, an einem sehr heißen Tag im August — Renato war damals sehr verliebt — wollte er mit seiner Freundin Laura ein Fußballspiel von AS Roma ansehen. Was ich nicht wusste — er hatte bei Laura geschlafen — das sie anschließend noch auf ein Konzert am Strand von Focene gehen wollten. Mit diesem Konzert hat sich alles geändert. Es war ein Reggae-Konzert. Eine Musik, die gerne von den jungen Linken gehört wird. Und in diesem Treff hing damals auch eine Fahne der Partei „Rifondazione comunista“. Renato war der Letzte der das Konzert verließ, denn er war sehr müde gewesen und dort eingeschlafen. Draußen wartete er auf Laura, die losgegangen war, um das Auto zu holen, um dann nach Hause zu fahren. Mit seinem Freund Paulo wartete er an einem Mäuerchen auf Laura, als ein Auto heranfuhr und sie quasi an die Mauer quetschte. Aus dem Auto heraus wurden sie angebrüllt, ob das Konzert zu Ende sei. Renato antwortete, dass das Konzert vorüber sei. Danach wurden sie angebrüllt „Scheißkerle, haut ab, hier ist kein Platz für Euch!“. Paulo hatte inzwischen gemerkt, dass die beiden Insassen des Autos Messer bereit hielten und sie gefährliche Absichten hatten. Daraufhin versuchte er eine Wagentür zu blockieren, damit der Insasse nicht aussteigen konnten. Auf der anderen Seite stieg der andere Insasse aus. Renato sah das Messer und rief „Sie haben Messer, sie haben Messer, schmeißt die Messer weg!“ Laura hatte die Schreie gehört und kam angerannt. Sie sah wie der Täter auf Renato einstach. Sie schmiss sich zwischen Renato und den Angreifer.
H.K.: Eine sehr mutige Reaktion.
Stefania Zuccari: Ja, aber Laura geht es bis heute – noch 12 Jahren nach den Ereignissen – nicht gut. Aus den Prozessakten ging hervor, dass schon die ersten Messerstiche, die Renato hier trafen, die tödlichen waren. Sie gingen in den Bauch und ins Herz. Dennoch schaffte er es, zu rufen: „Sie nicht! Lasst Sie in Ruhe! Sie nicht!“ und den Angreifer umzustossen. Da kam der andere Angreifer, der schon auf Paulo eingestochen hatte, um den Wagen herum und stach Renato mit seinem Messer in den Rücken und die Lunge. Wir — also ich, Dario, und all die Genossen aus dem Centro Social Acrobax, wo auch Renato verkehrte, haben damals schnell verstanden, dass es sich um einen faschistischen Angriff gehandelt haben musste. Diese Art und Weise zu agieren und Menschen anzugreifen, die von einem linken Konzert kommen. Aber wir konnten es nicht beweisen, dass die Täter Faschisten waren. Die Mörder waren mit dem Auto geflohen. Die Polizei erzählte mir, dass Renato noch fünf Stunden gelebt habe. Fünf Stunden bei vollem Bewusstsein. Und er soll Aussagen gemacht habe, deren Aufzeichnung aber als verschwunden gelten. Die Carabinieri [italienische kasernierte Bundespolizei] versicherten mir, sie würden alles unternehmen, um die geflohenen Angreifer zu finden. Durch eine Zeugenaussage kannten wir den Autotyp und die ersten beiden Ziffern des Auto-Kennzeichens. Die Carabinieri versicherten uns, sie würden das Fahrzeug suchen, fänden aber nichts. Nach einigen Tagen meldeten sich zwei Jugendliche bei der Polizei und gaben an, die Angreifer gewesen zu sein. Der ältere 19Jährige gab zu Protokoll, Renato erstochen zu haben.
H.K.: Die Täter haben sich selbst gestellt?
Stefania Zuccari: Ja. Es war eine Selbstanzeige. Warum? Die beiden Täter hatten sich in einer Reiseagentur nach dem ersten Flug in ein Land erkundigt, das kein Auslieferungsabkommen mit Italien hat. Zu dem fragten sie, ob man mit 70.000 Euro dort ein Haus kaufen kann. Sie kauften zwei Tickets nach Santo Domingo. Dabei war auch ein Mädchen. Das eine Ticket ging auf ihren Namen. Kurz bevor sie die Agentur verließen, sagte sie, dass wenn sie nicht reisen könne, einer der Jungs für sie fliegen würde. Der Angestellten der Reiseagentur kam das Verhalten der drei so merkwürdig vor, dass sie ihrem Ehemann von dem Vorgang berichtete. Dieser war aber nun Beamter der Finanzpolizei. Auch der fand ihr Verhalten merkwürdig. Er hat sich über die aktuellen Fahndungen informiert, ist fündig geworden und hat ihr gesagt, sie solle die Flüge annullieren. Im Folge dessen kam heraus, dass der 19jährige, der das Auto gefahren hat, der Sohn eines Offiziers der Carabinieri, des Kommandanten von Focene, war. Das Auto der Täter war das private Auto des Kommandanten gewesen und es war nach der Tat voll mit dem Blut meines Sohnes. Es wurde weiterhin bekannt, dass der Täter auf seinem Körper einen römischen Gladiator, den Spruch „Forza e Onore“ – „Kraft und Ehre“ und ein Keltenkreuz tätowiert hat. All das war uns eine Bestätigung, dass der Mord an Renato eine faschistische Tat war. Dann wurde hier, in der Nähe meiner Wohnung, an eine Häuserwand der Spruch gesprüht „Acrobax — meno uno“ — „Acrobax — einer weniger“. Der Vater des 19jährigen, der Carabinieri-Offizier, hatte seinen Sohn davon überzeugt, sich der Polizei zu stellen. Schließlich hatte man ja schon seinen Namen über die Reiseagentur.
H.K.: Wie ging es Laura?
Stefania Zuccari: Es ging Laura sehr schlecht. Sie wurde autoaggressiv und fügte sich immer wieder Wunden zu. Sie hat auch heute noch große psychische Probleme. Jetzt ist Laura mit einem der besten Freunde von Renato zusammen.
H.K.: Und wie geht es Paulo?
Stefania Zuccari: Auch Paulo wird von Schuldgefühlen geplagt. Paulo denkt, wenn er Renato schneller gewarnt hätte, hätte Renato sich retten können. Paulo hat eine lange Zeit nur geweint und sich in sich selbst verschlossen. Auch Laura ist bis heute darauf fixiert, dass sie Renato hätte retten können. Ihre psychischen Probleme haben mittlerweile dazu geführt, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann.
H.K.: Wie waren im Jahr 2006 die Reaktionen in der Öffentlichkeit? Was hat die Presse über den Mord geschrieben?
Stefania Zuccari: Die Medien berichteten über eine „Rissa tra Balordi“ – eine „Schlägerei zwischen Dummköpfen“. Da fing es an, dass ich mich das erste Mal dafür einsetzte, das dies richtig gestellt wurde. Ich habe dann mit Walter Veltroni, dem damaligen sozialdemokratischen Bürgermeister Roms von der Partido Democratico (PD) gesprochen. In seiner Jugend war er Mitglied der kommunistischen Jugend gewesen. Als er verstand, dass Renato kein jugendlicher Rabauke war, fragte er mich, ob sich die Stadt Rom an dem Prozess gegen die Mörder beteiligen soll. Und ob die Stadt Rom eine Straße oder eine Piazza nach meinen Sohn benennen soll. Ich habe ihm gesagt, dass eine Mutter für ihren Sohn kein Straßenschild will. Er solle vielmehr die rechten Besetzungen von CasaPound in der via Napoleone III und das „Foro 753“ in der Via Beverino räumen lassen. Darauf antwortete er, dass dies nicht möglich sei. Die Linke hätte viele besetzte Centri Sociali in Rom, die Rechten aber nur diese. Ich habe ihm gesagt, dass ich nichts von der Stadt Rom will, außer das sie die besetzten Zentren der Faschisten räumt. Das war, was in den ersten zwei Monaten nach der Tat passierte. Ungefähr acht Monate später habe ich bei einem Sit In für Wahrheit und Gerechtigkeit vor der Kirche Santa Maria Maggiore darüber gesprochen, dass man Menschen töten kann, nicht aber ihre Ideen. Dort entstand die Idee, sich ähnlich zu organisieren wie die Madres de Plaza di Mayo in Buenos Aires in Argentinien. Ich entschied mich diese Mütter in Italien zu finden und eine Organisation zu gründen. Ich fand diese Mütter und gründete mit ihnen das „Comitato madri per Roma Città Aperta“. Das war im Jahr 2007. Wir haben angefangen Veranstaltungen zu machen. Nicht nur um an Renato zu erinnern. Auch an die anderen durch Faschisten und durch Staat und Polizei Ermordeten. Wir setzen uns zudem für das Recht auf Wohnen, auf Arbeit und auf soziale und medizinische Versorgung ein – sprich ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben.
H.K.: Von welchen staatlichen Opfern sprecht ihr?
Stefania Zuccari: Von Personen, die von der Polizei kontrolliert oder verhaftet und dann ermordet wurden. Als besonders gravierender Fall wäre Federico Aldovandi aus Ferrara zu nennen. Der 18jährige wurde im September 2005 auf seinem Weg nach Hause morgens früh von vier Polizisten angehalten. Sie hielten ihn für einen illegalen Migranten oder eine Kommunisten und schlugen ihn mit ihren Schlagstöcken zusammen. Man zählte bei einer späteren Untersuchungen seines Leichnams 54 Verletzungen mittels Schlagstöcken. Selbst seine Herzkammern waren zusammengefallen. Federico war Sohn eines Verkehrspolizisten. Es gab eine Gerichtsverhandlung, in der die Richter befanden, dass die vier Polizeibeamten übertrieben agiert hätten. Aber die Beamten sind weiterhin im Polizeidienst. Und so wie Federico gibt es zahlreiche andere Fälle von Polizeiübergriffen und staatlichen Morden. Wie etwa Stefano Cucci, der 2009 im Gefängnis starb, und viele andere mehr. Auch gibt es viele Fälle von langer Inhaftierungen, nachdem Jugendliche auf Demonstrationen verhaftet wurden. Dies sind die Sachen, um die wir Mütter uns kümmern. In den letzten Jahren ist unser Komitee gewachsen. Und auch in anderen Teilen Italiens sind ähnliche Gruppen entstanden, mit denen wir zusammen arbeiten. So zum Beispiel auf die Aktivitäten von Haidi Giuliani hin. Haidi ist die Mutter von Carlo Giuliani, der 2001 in Genua von einem Carabiniere während der G8-Proteste erschossen wurde. Und Rosa Piro, die Mutter von Davide Cesare – Dax genannt –, der ähnlich wie Renato von einem Faschisten in Mailand im Jahr 2003 erstochen wurde. Wir haben auch damit begonnen ins Ausland zu gehen und dort Kontakte zu suchen. So sind wir nach Madrid zu der Erinnerung an Carlos Palomino gefahren, der 2007 von einem Falangisten [spanische Faschisten] ermordet wurde, und haben zu den Genossinnen in Madrid Kontakte aufgebaut. Und wir sind nach Paris gegangen und haben den Kontakt zu den Eltern von Clement Meric gesucht, der 2013 von einem Nazi erschlagen wurde. Und nach Athen sind wir gegangen. Mit all diesen Müttern haben wir eine Deklaration verfasst und dieses Jahr Anfang September veröffentlicht. Wir haben auch tatsächlich Kontakt zu den „Madres de la Plaza de Mayo“ in Buenos Aires aufgebaut und waren im letzten Jahr in Argentinien. Die „Madres de la Plaza de Mayo“ demonstrieren noch immer jeden Donnerstag vor dem Präsidialpalast, der Casa Rosada, mit ihren weißen Kopftüchern. Viele sind schon verstorben. Aber es demonstrieren immer noch 90- bis 95-jährige Frauen auf der Plaza de Mayo für die Menschenrechte. Die Madres haben uns mit unserem Banner in der ersten Reihe in Buenos Aires demonstrieren lassen.
Wir sagen, dass alle von Repression Betroffenen unsere Söhne und Töchter sind. Nicht deine Tochter oder mein Sohn, sondern unsere Töchter und Söhne. Und so versuchen wir jetzt Kontakt zu den Müttern in Chiapas in Mexiko aufzubauen, deren Söhne und Töchter ermordet wurden. So geht unsere Arbeit jeden Tag weiter. Mit unseren Veranstaltungen an den Schulen, an den Universitäten, mit den Demonstrationen usw.. Wir sind freie Frauen. Wir sind nicht mit irgendwelchen Parteien assoziiert, weil wir in unseren Entscheidungen frei und unabhängig sein wollen. Wir finanzieren uns selber. Zum Beispiel über den Verkauf von Kuchen und Lebensmitteln auf Festen in Centri Sociali, auf Kulturveranstaltungen, Kundgebungen usw.. Mit dem Buch „Prossimo Fermata“ von Zerocalcare über den Tod von Renato haben wir zum Beispiel die Eröffnung einer Schule in Palästina unterstützt. Eine Schule für traditionellen palästinensischen Tanz für Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Aber auch für Kinder, deren Eltern in israelischen Gefängnissen sitzen. Sowie einen kleinen Bus, der die Kinder von zu Hause abholt, sie zur Schule bringt und später wieder zu Hause absetzt. Der Druck des Buches wurde von einem Vater eines unserer Gruppenmitglieder finanziert. Wir wollen in Zukunft hier in Rom eine musikalische Initiative gründen. Denn das ist, woran ich mich gerne erinnere: An Renatos Liebe für und Freude an der Musik. Das ist mehr für mich ein privates Erinnern. Die jährliche Gedenk-Veranstaltung am Strand von Focene im August und das große Konzert zu Beginn jeden Septembers in einem Park in Rom stellen ein öffentliches Erinnern dar. Zu dem Konzert im Parco Schuster kommen jedes Jahr ein paar Tausend Personen. Es ist eine gute Gelegenheit auf den Konzerten mittels Musik und Reden antifaschistische Inhalte zu verbreiten. Aber auch über den Kampf gegen die Trasse für den Hochgeschwindigkeitszug „Treno ad Alta Velocitá“ (TAV) zwischen Turin und Lyon, der im Val di Susa tobt, zu sprechen. So sind zwei Mütter aus dem Val di Susa auch in unserem Komitee. Es gibt eine Menge an brutalen Realitäten in Italien, die wie im Val di Susa sind, sich kaum ändern und mit denen unsere Kinder konfrontiert sind.
Es hat in Italien die Resistenza und den Befreiungskampf gegen den Faschismus gegeben. Aber der Faschismus war nie weg. Und heute ist alles erlaubt und der Faschismus wird wieder gesellschaftsfähig. Dieses Jahr habe ich die Kinder unserer Kinder — unsere Enkel — auf die Bühne im Park geholt, weil sie vielleicht diejenigen sind, die eine anderes Italien erleben werden. So auch meine Enkelin, die Tochter von Dario. Sie beginnt mit ihren fünfeinhalb Jahren langsam Zusammenhänge zu verstehen und meinte neulich „Siamo tutti antifascisti“ – “Wir sind alle Antifaschist*innen“. Das macht mir Hoffnung für die Zukunft.
Als ich die Leiche meines Sohnes gesehen habe, bleich und tot – auf fürchterliche Art ermordet – in diesem zerreißenden Schmerz, habe ich mir gedacht, dass all die Freundinnen und Freunde, Bekannten, Genossinnen und Genossen alle meine Kinder sind. Es entstand eine Art Beschützerinnenrolle in mir und ich dachte man muss mit Liebe arbeiten. Denn nur die Liebe kann etwas aufbauen. Wenn ich in meinem Kopf nur denjenigen sehen würde, der Renato getötet hat, dann wäre ich in meinem Kopf stehen geblieben. Mein Geist musste sich öffnen und dazu brauchst du Liebe. So erkläre ich es den Schülerinnen und Schülern in den Mittelschulen und Gymnasien, wo ich über Renato erzähle. Ich nehme meine große Wut und meinen Hass gegen faschistische Ideen – jenen Ideen, die nur vom Tod sprechen und nicht von dem, was die Menschen brauchen. Es gibt nur eine Rasse, und das ist die menschliche Rasse. Das Leben muss würdig für alle Menschen sein – mit einer Wohnung, einer Arbeit und Zugehörigkeit. Wir sind anders – wir gehören nicht diesen Ideen des Todes und der Unterdrückung an. Und erst Recht wir Frauen haben ein Recht auf Freiheit – Freiheit von dieser Mentalität eines faschistischen Maskulinismus.
H.K.: Ich habe von einem Musikprojekt namens „Renoize“ gehört, was in Namen ihres Sohnes in dem Centro Soziale „Acrobax“ gegründet wurde? Was macht dieses Projekt?
Stefania Zuccari: Zum einen veranstaltete „Renoize“ Musikabende, Konzerte und dergleichen. Und „Renoize“ hat im Centro Sociale „Acrobax“ einen Probe- und Aufnahmeraum für junge Bands eingerichtet.
H.K.: Ähnlich wie CasaPound mit seinem „Bunkernoise Academy“, das sie 2010 in der Via Napoleone III einrichteten.
Stefania Zuccari: CasaPound übernimmt vieles von der Linken. Und sie bewegen sich in den sozialen Feldern, wo denen sich die Linke seit langem zurückgezogen hat.
H.K.: Könnte man sagen, dass CasaPound eine Form der Diskurspiraterie betreibt?
Stefania Zuccari: Ja, CasaPound hat auch schon Rino Gaetano und Che Guevara als Propaganda für sich eingesetzt. Sie sprechen in einer Sprache, die der der Linken ähnelt, und treffen auf ein tiefes soziales Unbehagen in der italienischen Gesellschaft, das in der steigenden Armut und Entrechtung wurzelt. An genau diesem Unbehagen knüpfen sie an. Mit den bekannten Argumenten, wie z.B. „Die Ausländer bekommen eine Wohnung – ich nicht“ usw. Genau die sozialen Themen und Probleme, um die sich die Linke seit Jahren nicht kümmert, werden von CasaPound aufgegriffen. So verteilt CasaPound Essenspakete an Italienerinnen und Italiener, die es als Arbeitslose oder bei ihrer kleinen Rente sehr schwer haben.
H.K.: Noch einmal zurück zum Mord an Renato: Wie verlief der Prozess gegen die zwei Angreifer?
Stefania Zuccari: Bei dem Prozess interessierte mich nicht die Länge der Haftstrafe für den Mörder meines Sohnes. Ich glaube nicht, dass ein Gefängnisaufenthalt eine Art Erziehung oder eine „Wiedereingliederung“ sein kann. Egal wie viele Jahre die Schuldigen bekommen. Was mich – was uns – interessierte, war der Umstand, das in dem Urteil stand, das Renato ermordet wurde, weil er ein Linker, ein Antifaschist, war. Der eine Täter fiel unter das Jugendstrafrecht. Er war zur Tatzeit siebzehneinhalb Jahre alt. Und in dem Jugendgerichtsurteil stand, dass die Tat begangen wurde, weil der Jugendliche das Territorium für sich beansprucht hätte. Für den Sohn des Polizeioffiziers galt das Erwachsenenstrafrecht. In seinem Urteil stand, dass das gewalttätige Delikt aus niederen Beweggründen begangen wurde. Es hat mich nie interessiert, ob Renatos Mörder noch im Gefängnis sitzt, oder nicht. Aber vor einiger Zeit bekam ich einige Facebook-Fotos geschickt. Hier, sieh‘ selbst auf meinem Smartphone, es sind viele Fotos. Vittorio Emiliani, der Sohn des Carabiniere, zeigt sich hier auf Facebook, wie er ganz entspannt bei einer Unterwassermassage in einem Whirlpool sitzt. Hier schreibt er, was ihm gefällt: Boxen, Mussolini, Natur, Treue, Frauen und „Forza e Onore“. Vielleicht war er neun Jahre im Gefängnis. Wie Du siehst, haben diese Jahre in Haft nichts genützt.
Der jüngere Täter gilt als nicht vorbestraft. Während wir alle wegen dieser Tat und des Traumas lange Zeit in Therapie gewesen sind und über die Jahre auch viel Geld dafür bezahlen mussten, hat er sein Leben normal weiter geführt. Er war für seine Tat keinen Tag in Haft oder in Hausarrest. Er bekam keine Sozialauflagen, nichts. In dem Prozess ging der Richter von 14 Jahren auf 7 Jahre Haft herunter, bis er sich auf eine Maßnahme in der Stadt L‘Aquila für den Täter entschied. Heute hat der Täter sozusagen eine „reine Weste“ und schreibt auf Facebook über die positive Bewertung, die sein Fußballtrainer über ihn abgibt. Er sei ein „bravo ragazzo“ – ein guter Kerl. Er soll darauf erwidert haben, dass er nur einmal in seinem Leben ein „bravo ragazzo“ gewesen sei. Das bezog sich auf die Tat in Focene.
Für uns war das damals so. Als wir das „Comitato madri per Roma Città Aperta“ gründeten, bekamen ich und Dario jede Menge anonyme Bedrohungen, pornographische Bilder usw. zugesandt. Und mein Telefon wurde von der Polizei überwacht. Als ich meinen Anwalt fragte, warum ich überwacht würde, antwortete er, weil ich nicht ruhig zu Hause sitzen, dass das an meinen politischen Aktivitäten liegen würde. Und als im Jahr 2008 Fabio und zwei weitere Genossen nach dem Konzert im Parco Schuster von einer Gruppe Rechter mit Messern angegriffen wurde, postete CasaPound auf Youtube ein Video. Darin zeigte man das Rugby-Team „All Reds“ von Acrobax – wo Dario Trainer war – und beschimpft sie und verspricht ihnen: „Siamo arrivando“ — „Wir kommen!“ Aber wir haben uns nicht einschüchtern lassen und unsere Aktivitäten fortgesetzt. Je mehr ich bedrängt wurde meine politischen Aktivitäten einzustellen, um so mehr habe ich sie weiter verfolgt.
H.K.: Ich hätte noch eine letzte Frage. Das „Comitato madri per Roma Città Aperta“ betreibt in Italien, wie auch transnational, politische Aktivitäten. Haben Sie für ihr weiteres Vorgehen eine Art Road Map?
Stefania Zuccari: Natürlich werden wir mit unseren internationalen Kontakten weiter machen. Und so merkwürdig es auch klingt, aber hier in Italien ist es schwieriger für uns Veranstaltungen zu machen. Wir dürfen nämlich an Schulen immer nur auf Einladung der Schülerinnenschaft erscheinen. Die Direktorinnen und Direktoren wollen meistens nicht, dass wir Vorträge an ihren Schulen halten. In diesem römischen Stadtteil hat bei den letzten Wahlen „Mitte-Links“ gewonnen. Ich habe jetzt bei dem Bezirksbürgermeister beantragt, dass hier im Stadtteil an die Resistenza – an den antifaschistischen Widerstand – mehr erinnert wird. Aber nicht nur an den historischen Widerstand, sondern auch an den aktuellen Widerstand gegen den Faschismus. Es gibt die „Nuovi Partigiani“, die neuen Partisan*innen, das sind die, die auf die Demonstrationen gegen die Faschisten gehen. Und die auch wieder Opfer des Faschismus werden. Das sind die „Nuovi Partigiani“.
H.K.: Dann hoffe ich, das Sie mit ihrer Intervention im Stadtteil und mit dem „Comitato madri per Roma Città Aperta“ viel Erfolg haben. Vielen Dank für das Interview.
Stefania Zuccari: Gern geschehen.
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Comitato madri per Roma città aperta — https://madrixromacittaperta.noblogs.org
Centro Sociale Acrobax — http://acrobax.org
Renoize 2018 — http://radiosonar.net/renoize-2018–12-anni-di-renato-roma-non-dimentica
All Reds Rugby Roma — http://www.allreds.it/allreds_new
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