Ein Interview mit Nina und Songül
Nina und Songül, ihr habt 2012 die Ausstellung «Lux like Comic – (Un)Mögliche Bildungswege» erstellt. Wie seid ihr auf die Idee gekommen?
Unser Bildungsauftrag im Rahmen der Stiftung war ein Konzept zu entwickeln, dass die Bildungssituation von Menschen, die keinen akademischen Hintergrund haben, thematisiert und in die Öffentlichkeit bringt. In einem kleinen Rahmen konnten wir Studienstipendien für diese Zielgruppe vergeben und somit Einzelpersonen über eine Finanzierung und Begleitung den Zugang zu Hochschulen ermöglichen. Unsere Projektzielgruppe waren Menschen ohne akademischen Bildungshintergrund, das bedeutet Menschen, deren Elter_n nicht studiert haben und die sich im Übergang von Schule/Praktikum ins Berufsleben/Studium befinden.
Die finanziellen Rahmenbedingungen waren in diesem Projekt ziemlich gut. Da konnten wir unsere Ideen und Kreativität gut entfalten. Was uns etwas Druck bereitet hat, war, dass wir nur eine sehr begrenzte Zeit hatten, dieses Projekt umzusetzen. Und wir wollten das Projekt ja über einen linken Kreis von Interessierten hinaus in die Öffentlichkeit bringen – und zwar mit Berücksichtigung von strukturellen Machtverhältnissen, die bei Diskursen rund um PISA meistens aus dem Blick geraten. Daher wollten wir das Thema so angehen, dass es alle angeht und alle interessiert. Dazu bedurfte es auch, dass wir das Thema aus den akademischen Kontexten rausholen und barrierefreier gestalten.
Wie seid ihr das konkret angegangen?
Uns ist es sehr wichtig, mit den Menschen gemeinsam zu arbeiten, statt unsere Köpfe ausschließlich in Bücher zu vergraben und vermeintlich schlaue Dinge über andere Menschen zu erzählen. Wir haben uns dafür entschieden, die Menschen und ihre Erfahrungen in den Mittelpunkt zu stellen und von da aus zu gucken, an welche strukturellen Verhältnisse wir anschließen können bzw. wie diese miteinander zusammenhängen. So sind wir auf die Idee gekommen, biografisch zu arbeiten. Uns war auch sehr wichtig, dass wir möglichst mehrdimensional und ‑perspektivisch arbeiten.
Wir entschieden uns, kritische Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Stimmen, die gehört werden wollen und sollen. Wir wollten einen Raum schaffen, in dem Beteiligte über sich und ihre Erfahrungen, über ihre Widerstände, Hindernisse und ihre persönlichen Erfolge sprechen konnten: Un_mögliche Bildungswege. «Lux like Comic» was born. Die Ausstellung sollte und soll Anstoß sein, über Machtverhältnisse nach- und weiterzudenken, ohne dabei die Menschen aus dem Blick zu verlieren. Wir wollten einen Zugang jenseits von gähnend leeren Worten, müde auf Tisch sinkenden Köpfen und Selbstdarsteller_innen schaffen, indem das Verhältnis von Individuum und Struktur thematisiert und die Mehrdimensionalität von Ungleichheiten aufgezeigt wird.
Ihr sprecht neben anderen Formen der Diskriminierung auch von Klassismus und Klassendiskriminierung. Was versteht ihr darunter?
Wie in anderen Diskriminierungsformen auch, ist auch die Klassen_diskriminierung die Benachteiligung und Ungleichbehandlung von einzelnen oder von einer Gruppe aufgrund tatsächlicher oder zugeschriebener/angedichteter gruppenspezifischer Merkmale. In diesem Fall sind es die soziale Herkunft und die ökonomische Situation. Diskriminierungen finden auf unterschiedlichen Ebenen statt.
Wenn wir uns anschauen, wie in Schulen in Lehrplänen, durch die unterschiedlichen Schulformen und die An- bzw. Abwertungen von Leistungen und Abschlüssen Diskriminierungen verankert werden, dann zeigt uns das beispielhaft, wie auf institutioneller Ebene durch Strukturen und Gesetze Ungleichheiten verstärkt werden. Auch in der Herkunft der Lehrer_innen (von Schulleiter_innen ganz zu schweigen), wird Diskriminierung deutlich. Denn benachteiligte Gruppen sind oft auch deutlich weniger repräsentiert in bestimmten Jobs und Funktionen – ein Kreislauf, da der Zugang ja wiederum erschwert ist. Daran knüpft auch eine kulturell/gesellschaftliche Ebene an. Diskriminierungen auf der kulturellen Ebene sind sehr subtil und finden sich vor allem in Normen, Werten und Diskursen wieder, die von der Dominanzgesellschaft hergestellt und als «Wahrheit» angesehen werden. Als klassendiskriminierend können Bilder und die damit einhergehenden Be- oder Abwertungen gesehen werden, beispielsweise Bilder über Hartz-4-Empfänger_innen oder über Schüler_innen, die Mesut oder Mandy heißen. Ganz konkret erfahrbar wird dann Diskriminierung (also auch Klassismus) auf einer individuellen Ebene – weshalb die betroffenen Personen oftmals denken, es liege tatsächlich an ihnen individuell, oder es sei etwas falsch an ihnen. Diskriminierung kann in Form von schrägen Blicken, abwertenden Bemerkungen oder schlechten Noten erfolgen und bis hin zu psychischer und körperlicher Gewalt reichen.
Diskriminierungen finden auf unterschiedlichen Ebenen parallel statt und oftmals lassen sich diese nicht treffen. Der Versuch einer analytischen Trennung, ermöglichtes jedoch, passende Strategien gegen Diskriminierung auf den jeweiligen Handlungsebenen zu entwickeln. Ein erster Schritt ist es, die verschiedenen Ebenen von Diskriminierung überhaupt erst mal bewusst und damit sichtbar zu machen.
Was habt ihr im Rahmen von Lux like Studium noch gemacht?
Es ist ein umfangreiches Stipendien-Programm entstanden, welches schon im Bewerbungsverfahren die Achtsamkeit auf strukturelle Ungleichheiten gelegt hat. Über das konkrete Programm hinaus haben wir festgestellt, dass sich unsere Arbeit auch in den anderen Stipendienprogrammen innerhalb der Rosa Luxemburg Stiftung ausgewirkt hat, so dass sich vermehrt Menschen ohne akademischen Bildungshintergrund und Menschen, die von anderen strukturellen Ungleichheiten betroffen sind, für Studien- und Promotionsstipendien bewerben.
Die im Projekt entstandene Ausstellung wird über das Projektende hinaus auch in unterschiedlichen Bundesländern und Institutionen, Schulen oder Universitäten genutzt. Das freut uns sehr! Und damit die Ergebnisse auch über die Ausstellung hinaus festgehalten werden, haben wir zum Abschluss des Projekts ein Buch herausgegeben, das die Erfahrungen aus der Ausstellung mit Erfahrungen von weiteren Expert_innen ergänzt – in Prosaform, Essays oder in Fachtexten. Das Spannende in diesem Buch ist, dass alle Autor_innen angehalten waren, aus ihrer persönlichen Perspektive zu schreiben, sodass die individuellen Erfahrungen auch in Fachtexten sichtbar werden.
Das Lux like Studium-Programm ist mittlerweile zwar ausgelaufen, aber das Thema bleibt für uns erhalten. Im nächsten Jahr wollen wir einen besonderen Fokus auf Coachings und Supervisionen von Stipendiat_innen richten, in denen sich aus unserer Perspektive die individuellen Erfahrungen immer auch mit strukturellen Machtverhältnissen zusammengedacht werden müssen.
Was hat eurer Meinung nach Lux like Studium mit Empowerment zu tun?
Wir sehen Empowerment in der Tradition und historischen Entwicklung der 60er-Jahre durch die Schwarze Bürgerrechtsbewegung (Civil Rights Movement) in den USA und damit als ein Menschenrechtsbegriff im Sinne der Gruppen- und Selbst-Ermächtigung. Mit dem Programm «Lux like Studium» versuchen wir, eine individuelle und gemeinschaftliche Selbstbemächtigung, Selbstbestimmung, Vernetzung und die Stärkung der gesellschaftspolitischen Teilhabe von Menschen ohne akademischen Bildungshintergrund zu unterstützen. Hierbei ist für uns sehr wichtig, auch weitere Diskriminierungsformen/strukturelle Ungleichheiten wie Rassismus, Heterosexixmus etc. zu berücksichtigen, damit es zu keiner weiteren Schieflage kommt. Denn eine Ungleichheit kommt selten allein und meist wirken verschiedene Ungleichheiten ineinander verschränkt, gleichzeitig und zusammen.
Was wir in diesem Projekt vor allem versucht haben, ist die Beteiligung von Menschen. Wir haben versucht, den paternalistischen Touch, den Projekte immer schon von dem Moment an haben, dass Projektmitarbeitende «für» andere Personen arbeiten, so gering wie möglich zu halten. Der Ansatzpunkt war, Menschen zum Sprechen zu bewegen – sowohl als ermächtigende Erfahrung für die Person selbst als auch für andere Menschen, denen so vielleicht erst bewusst wird, dass sie selbst auch von strukturellen Machtverhältnissen betroffen und eben nicht «selbst schuld» an der eigenen Lage sind. Wir verstehen das Teilen von Erfahrungen eher als solidarisches Moment, aus dem Handlungsstrategien entstehen können. Uns ist jedoch auch klar, dass wir einen sehr begrenzten Rahmen hatten, diese Bestärkung zu ermöglichen – und auch nur ganz kleine Punkte versuchen konnten anzustoßen. Die Kritik, dass unser Projekt viele Punkte eben auch nicht berücksichtigt, sehen wir als berechtigt an – trotzdem finden wir nicht, dass wenn nicht «alles» möglich ist, die Konsequenz «nichts» heißt.
Können andere Bereiche der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus euren Erfahrungen für ihre Arbeit lernen?
Auf jeden Fall! Die Stiftung will ja schon seit Längerem neue Zielgruppen – insbesondere die aus den «bildungswieauchimmerentfernten Schichten» – erschließen. Wir arbeiten bereits mit diesen Zielgruppen zusammen und könnten gemeinsam das Haus rocken und unsere Erfahrungen teilen. Im Rahmen von übergreifenden Arbeitsgruppen versuchen wir das auch immer wieder – in Form von unterschiedlichen Veranstaltungen oder Publikationen. Allerdings erfordert eine Arbeit, die strukturelle Ungleichheiten mit einbezieht, oftmals außerordentlich viel Zeit, Reflexionsraum und Ressourcen, die in einem Arbeitsalltag, in dem alle ohnehin oft überarbeitet sind, nicht immer da sind. Wir sind und bleiben jedoch optimistisch, im Rahmen der Stiftung und gemeinsam mit Stipendiat_innen weiter an diesen Themen zu arbeiten und möglichst viele Personen mit einzubeziehen.
Songül Bitiș und Nina Borst leben beide in Berlin und widmen sich nicht nur im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Rosa-Luxemburg-Stiftung dem Thema Bildungsungleichheiten. Die beiden engagieren sich als politische Bildnerinnen und Aktivistinnen für eine feministische, antirassistische und solidarische Gesellschaft, in der sich alle Menschen an gesellschaftlichen Ressourcen und Prozessen beteiligen können. Mit diesen Anliegen werden sie gemeinsam mit vielen anderen vermutlich noch eine Weile beschäftigt sein.
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Tahir Della: Schwarze Menschen zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbestimmung
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