Max Fuhrmann: Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, Nomos, Baden-Baden 2019. 353 S., broschiert, ISBN 978−3−8487−5744−2
Wehrhafte Demokratie und Antiextremismus, es sind zwei schillernde Begriffe, die den Kern des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland ausmachen. Beide gehen davon aus, dass sämtliche Formen von vermeintlichem politischen Extremismus mit seinen angenommenen Unterformen ‚Linksextremismus‘, Rechtsextremismus und dem später hinzugekommenen Islamismus, gleichermaßen demokratiegefährdend wären. Das erstgenannte Konzept fußt auf den Konsequenzen, die vermeintlich auf dem Scheitern der Weimarer Republik beruhen, während das zweite vor allem durch eine normative Extremismusforschung, die Bundeszentrale für politische Bildung sowie durch den Inlandsgeheimdienst ‚Verfassungsschutz‘ vertreten und popularisiert wird.Max Fuhrmann hat sich in seinem auf einer Dissertationsarbeit beruhendem Buch mit den hinter den Begriffen stehenden Konzepten und Akteur*innen und mit der Fragestellung befasst, wie sie in der Bundesrepublik eine bis heute nahezu unbestrittene Hegemonie erlangen konnten. Als theoretischer Rahmen dient Fuhrmann für seine Untersuchung das hegemonietheoretische Konzept von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie daran anschließend Martin Nonhoffs Ansatz zur Rekonstruktion von hegemonialen Strategien mit denen sich bestimmte diskursive Formationen durchgesetzt haben. Dementsprechend bildet die Rekonstruktion von politischen Diskursen über die politische Ordnung anhand von wesentlichen Personen und Institutionen der Bundesrepublik seit 1945 den Ausgangspunkt der Untersuchung. In zeitlich gegliederten Analysephasen geht die Analyse der Herausbildung und Stabilisierung des antitotalitären Konsens‘ als Grundlage der ‚wehrhaften Demokratie‘ nach. Diesem lag die Annahme einer Strukturgleichheit von als totalitär bezeichneten Systemen zugrunde, die der liberalen Demokratie gleichermaßen als äußere Bedrohung gegenüberstehen. Zugleich bot der Antitotalitarismus die Möglichkeit der Westintegration der BRD vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Bereits in der Gründungsphase der BRD hat sich also der Antitotalitarismus als Maßstab der Gefahrenbestimmung für die parlamentarische Demokratie durchgesetzt. Er war bereits 1952, gegen einen möglichen antifaschistischen Grundkonsens, hegemonial und »festigte sich in den Folgejahren durch die politische Justiz, den Eintritt des Verfassungsschutzes und der Bundeszentrale für Heimatdienste bzw. Bundeszentrale für politische Bildung in die Diskursformation« (S. 163) — eine bis heute weitgehend stabile Konstellation.
Fehldeutungen politischer Ereignisse
Fuhrmann geht im Verlauf der Arbeit seiner Grundthese nach, dass das Deutungsmuster des Extremismusansatzes »Fehldeutungen politischer Ereignisse provoziert und ein eingeschränktes Verständnis von Demokratie impliziert« (S.16). Angelegt sind solche Problemstellungen bereits in dem Verfassungsgrundsatz der sogenannten wehrhaften Demokratie, der den Demokratieschutz bereits präventiv in das Vorfeld möglicher oder angenommener Gewalttaten verlegt und der damit bereits auf politische Haltungen abzielt. In der Konsequenz ist die Grenzsetzung zwischen dem, was als legitime demokratische Positionen verstanden wird, und solchen, die bereits als verfassungs- und damit in der Logik des Extremismuskonzepts auch als demokratiefeindlich gelten, ein Thema, das die normative Extremismusforschung immer wieder aufs Neue bewegt. Die versprochenen deutlichen Demarkationslinien bleiben eher vage und orientieren sich an der Idee der freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO). Damit wird wie Fuhrmann aufzeigt Antiextremismus zu einem Containerbegriff unter dem sich, wie es auch der Praxis des Inlandsgeheimdienstes „Verfassungsschutz“ entspricht, alle möglichen abweichenden Vorstellungen von Demokratie subsummierend als „extremistisch“ und damit demokratiefeindlich behandeln lassen.
Der dem bundesdeutschen politischen Selbstverständnis zugrunde liegende Begriff der ‚wehrhaften Demokratie‘, auch als ‚streitbare Demokratie‘ bezeichnet, setzt sich aus einer »Trias aus Wertgebundenheit, Abwehrbereitschaft und Vorverlagerung des Demokratieschutzes« (S.92) zusammen. Fuhrmann macht darauf aufmerksam, dass die Wehrhaftigkeit in eine Abwehrbereitschaft nach oben und nach unten ausdifferenziert werden muss. In der Praxis spielt die Wehrhaftigkeit nach oben in Form von »plebiszitäre(n) Elemente(n) wie die Richterwahl, Volksentscheide oder ein verankertes Widerstandsrecht« (S.93) keine Rolle. An dieser Stelle kann darauf verwiesen werden, dass der radikale Humanist und hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer das Widerstandsrecht aus gewichtigen Gründen als vorstaatlich aus dem Naturrecht ableitete. Das grundgesetzlich in Artikel 20 Abs. 4 verankerte Widerstandsrecht »wenn andere Abhilfe nicht möglich ist«, lief für Bauer vor dem Hintergrund der Machtfülle des 1968 gerade legitimierten Notstandsstaates ins Leere. Einen nachhaltigen Eingang in den Diskurs fanden Bauers Überlegungen zu einem weitgehenden nach oben ausgerichteten Widerstandsrecht nicht. Durchgesetzt hat sich vielmehr die bereits dem Grundgesetz eingeschriebene Wehrhaftigkeit nach unten, also gegen reale oder vermeintliche »antidemokratische Entwicklungen in der Bevölkerung« (S.100). Als eigentlicher Garant für die parlamentarische Demokratie wird so der Staat betrachtet. Einen Hintergrund des Konzepts der ‚wehrhaften Demokratie‘ bildet die Deutung der Frage nach der richtigen Lehre aus der Weimarer Republik, die sich die politischen Akteure in der unmittelbaren Nachkriegszeit stellten. Deren zentrale und zugleich hegemonial gewordenen Argumentationen, dass der Weimarer Demokratie die notwendigen Schutzmechanismen gefehlt hätten und die NSDAP legal an die Macht gekommen sei, sehen davon ab, dass sich die politischen und juristischen Eliten wenig mit der Demokratie identifizierten. Die Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik waren vielschichtiger als der hegemoniale Diskurs bis heute besagt. Dennoch hält sich hartnäckig die Erzählung Weimar sei hauptsächlich aufgrund der rechten und linken politischen Ränder zugrunde gegangen.
Radikalenerlass: Hegemoniale Feindbestimmung
Fuhrmann zeigt die Veränderung der hegemonialen Struktur in den frühen 1970er-Jahren hin zum Kitt des Antiextremismus. Eine Veränderung, begleitet von einer phasenweisen Liberalisierung, vom Autor als »Vernähungsstrategie« bezeichnet, die aufgrund von Rissen der Hegemonie als Erscheinung der 68er-Bewegung in Gang kam. Die Neue Linke war, vor ihrer teilweisen Regression in autoritäre, sich marxistisch-leninistisch oder auch als maoistisch bezeichnende Gruppen und Kleinparteien, eine politisch heterogene Strömung in der anarchistische, situationistische, rätedemokratische und der Kritischen Theorie folgende Ansätze sich vom alten Arbeiterbewegungsmarxismus und der DDR abgrenzten und fügte sich nicht in das Muster des Totalitarismuskonzepts ein. Zudem wurden durch den außenpolitischen Wandel der sozialliberalen Koalition seit 1969 gegenüber den Staaten des Warschauer Vertrages die Feindbilder des Kalten Krieges infrage gestellt. Damit passte auch »die strikte Abgrenzung gegenüber der DDR und ihren Sympathisant_innen im Innern nicht mehr.« (S. 165) So stand die bisherige »hegemoniale Feindbestimmung« (Ebda.) infrage. Um sie und die Bestimmung darüber, was als demokratisch legitim gilt zu dominieren, entwickelten sich zwei Strategien. Die konservative Vernähungsstrategie, bei Fuhrmann repräsentiert durch den Soziologen Helmut Schelsky, dessen akademischer Aufstieg im Nationalsozialismus begann, sowie durch die CDU/CSU, setzte auf einen repressiveren Gebrauch der Instrumente der wehrhaften Demokratie und auf die Einschränkung von Freiheitsrechten zu deren Sicherung, um eine befürchtete Unterwanderung der Demokratie, sprich des Staates, durch radikale Linke in Form eines Marsches durch die Institutionen zu verhindern. Komplizierter und ambivalenter gestaltete sich das sozialliberale Bestreben nach Diskurshegemonie. Während die Koalition aus SPD und FDP im sozialen und im Bildungsbereich reformerische Vorhaben anschob, integrierte sie Teile der Protestbewegungen. Gleichzeitig stand die Regierung vonseiten der Opposition wegen ihrer Ostpolitik unter massivem Druck. Hinzu kam die zunehmende Militanz von Segmenten der außerparlamentarischen Opposition bis hin zur Gründung bewaffneter Gruppen als Motivation der sozialliberalen Abgrenzung nach links. Zwei wesentliche Bausteine bildeten der Abgrenzungsbeschluss des SPD-Bundesvorschlags, der Parteimitgliedern die Zusammenarbeit mit Mitgliedern von DKP und SDAJ verbot, sowie der sogenannte Radikalenerlass, mit dem reale oder vermeintliche Gegner*innen der parlamentarischen Demokratie aus dem Staatsdienst ferngehalten werden sollten. Mit ihm wird der Demokratieschutz weiter nach vorne verlegt, indem von Beamt*innen das »Eintreten für die fdGO als Voraussetzung zur Einstellung in den Staatsdienst« (S.181) gefordert wird. Der Bezug des Radikalenerlasses auf die Definition der fdGO durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1952 lässt keine alternativen Demokratievorstellungen zu und greift über seine repressiven Elemente stark in die politische Meinungsbildung ein. Verbunden mit dem Erlass wurde eine Regelanfrage über Bewerber*innen für den öffentlichen Dienst beim „Verfassungsschutz“. Während in der sozialliberalen Ära zwar Protest und politische Kritik zunehmend als legitim galten, wurden die heterogenen Protestbewegungen von links unter einen vage gehaltenen Extremismusbegriff subsummiert. Mitte der 1970er Jahre war die antiextremistische Abgrenzung bereits hegemonial und wurde durch politische Justiz, den „Verfassungsschutz“, dessen jährliche Berichte »als Beitrag zur politischen Bildung und präventiven Auseinandersetzung mit antidemokratischen Strömungen verstanden« (S. 202) werden, und durch Institutionen staatlicher politischer Bildung stabilisiert. Dabei zeigen sich deutliche Überschneidungen zu einer sich als normativ verstehenden Extremimusforschung für die beispielhaft Namen wie Hans-Gerd Jaschke, Eckhardt Jesse und Uwe Backes stehen; Stammautoren auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Von Backes stammt das sogenannte Hufeisen-Modell mit dem das politische System der Bundesrepublik veranschaulicht werden soll. In diesem Modell stehen sich die angenommenen linken und rechten Extremismen an den Enden des Hufeisens deutlich nahe, während die politische Mitte in der Rundung ihnen gegenüber steht. Sie erscheint so als Gegensatz zu allen „Extremismen“. Allein wegen seiner Unterkomplexität steht dieser Ansatz immer wieder in der Kritik, wie insgesamt die Extremismusforschung sozialwissenschaftlich hoch umstritten ist. Insbesondere in der Rechtsextremismusforschung – wobei der Begriff Rechtsextremismus dort nicht nur vielfach mit kritischer Distanz betrachtet wird, sondern auch unterschiedlich definiert wird – werden vielmehr Einstellungsmuster und Phänomene wie völkischer Nationalismus in ihren Dynamiken untersucht, während sich die Extremismusforschung statisch an dem verfassungsgebenden Grundsatz der fdGO orientiert. Im Gegensatz zur Untersuchung der extremen Rechten kann dem angenommen „Linksextremismus“ alleine aufgrund der Heterogenität linker Strömungen kein »konsistentes soziales Phänomen zugeordnet werden« (S.259). Als problematisch bezeichnet Fuhrmann zuvorderst nicht die Setzung der fdGO als Zentrum der Demokratie, sondern vielmehr »ihre Auslegung dahingehend, dass andere Vorstellungen von Demokratie als potenziell extremistisch und damit antidemokratisch eingestuft werden.« (S. 260)
Eingeengtes Diskursfeld
In der dritten Analysephase zeigt Fuhrmann den Ausbau des hegemonialen Konzepts der wehrhaften, antiextremistischen Demokratie anhand der Verstetigung von pädagogischen Präventionsmaßnahmen seit dem Jahr 2000 auf. Das Datum steht in Verbindung mit dem durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ausgerufenen „Aufstand der Anständigen“, nachdem bei einem Rohrbombenanschlag auf zum Teil jüdische Aussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion am Bahnhof Düsseldorf Wehrhahn am 27. Juli 2000 zehn Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden. Eine Frau verlor ihr ungeborenes Baby. Entsprechend dem Anlass und der Problemlage richteten sich die ersten staatlichen Förderprogramme gegen Rechtsextremismus. Fuhrmann hat jene Programme untersucht, die, finanziell am stärksten ausgestattet, dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zugeordnet wurden. Die »Forderung nach Prävention gegen alle Formen des Extremismus (…) drang erst später in den Präventionsbereich vor«. (S.263). Diese Verschiebung vollzog sich unter einer Koalition von CDU und FDP ab 2009, die sich in ihrem Koalitionsvertrag vornahm gegen jegliche »Extremismen, (…) seien es Links- oder Rechtsextremismus, Antisemitismus oder Islamismus« (S.277) vorzugehen. In die Praxis wurde dieses Vorhaben mit dem Bundesprogramm „Initiative Demokratie Stärken“ umgesetzt, dass auch Projekte in den Bereichen „Linksextremismus“ und „islamischer Extremismus“ förderte. Bereits früh stieß die nun auf alle vermeintlichen Extremismen zielende Ausrichtung auf Kritik aus der Wissenschaft. Auch hier kommt erneut die Vagheit des Begriffs „Linksextremismus“ zum Tragen. In Maßnahmen wie der als „Extremismusklausel“ bezeichneten „Demokratieerklärung“, mit welcher Projektträger seit 2001 ein Bekenntnis zur fdGO unterschreiben sollten, kam staatlicherseits zudem ein Misstrauen gegenüber den sich als Zivilgesellschaft verstehenden Trägern zum Vorschein. Die Klausel wurde nach anhaltender Kritik 2014 eher halbherzig wieder abgeschafft. »Das Vordringen der antiextremistischen wehrhaften Demokratie in den Präventionsbereich« (S.290) bleibt nicht unwidersprochen und bietet bei Fuhrmann die Möglichkeit, aufgrund der relativen Eingegrenztheit des Diskursfeldes Hegemonien infrage zu stellen. Es wäre die Aufgabe sich zivilgesellschaftlich verstehender Träger sich anhaltend gegen die Vereinnahmungen gegenüber staatlichen Interessen zu stellen und sich gegen einengende Diskussionen über den Demokratiebegriff zu positionieren. Nicht nur die Abhängigkeit der Träger von staatlicher Finanzierung kann einer kritischen Positionierung entgegenstehen. Wenn sich beispielsweise ein zivilgesellschaftlicher Akteur wie Matthias Quent, Direktor des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, in seinem Buch „Deutschland rechts außen“ dem Konzept der wehrhaften Demokratie weitgehend unkritisch verschreibt, dann zeigt sich, wie ein eng gefasster Demokratieschutz, der sich nicht zugleich „nach oben“ richtet, leicht zu einer Interessens-Identität von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Seite führen kann.
Max Fuhrmann ist für ein wichtiges Buch zu danken. Und auch wer sonst dem hegemonietheoretischen Konzept nicht zugeneigt ist, kann seine Arbeit mit Gewinn lesen. Fuhrmann rekonstruiert prägnant, wie das Konzept der erst antitotalitären, später antiextremistischen wehrhaften Demokratie hegemonial wurde und wie es, durch die umfassende Denunziation alternativer Demokratievorstellungen als extremistisch, durchgesetzt wurde. Um der aktuell stattfindenden autoritären Formierung entgegenzuwirken, sind aber gerade Diskussionen um alternative Demokratiekonzepte notwendig, soll das Problem der anhaltenden Rechtsdrift grundsätzlich bekämpft werden, ohne den Völkischen und anderen extrem Rechten Raum zu geben.
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