Der große Nebel. Paradoxien para-staatlicher „Linksextremismus“-Verwaltung

Über­all lin­ke Mili­tanz: Vie­le Links­af­fi­ne befin­den sich in „schwie­ri­gen Lebenslagen“

Lin­ke Mili­tanz. Phä­no­men, Grund­la­gen, päd­ago­gi­sche Pra­xis“, das war der Titel einer zwei­tä­gi­gen Tagung am 13. und 14. Novem­ber, die im „Welcome“-Kongresshotel in Bam­berg statt­fand. Aus­rich­te­rin war die Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung zusam­men mit der „Bun­des­fach­stel­le Lin­ke Mili­tanz“ aus Göt­tin­gen. Unter­stützt wur­de das Gan­ze auch durch das Pro­gramm „Demo­kra­tie leben!“, das vom Bun­des­fa­mi­li­en­mi­nis­te­ri­um auf­ge­legt wird. Das Inter­es­se des Ver­fas­sers an die­ser Tagung ent­sprang aus der Neu­gier ein­mal staat­lich gespon­ser­te anti-lin­ke Ver­an­stal­tungs­for­ma­te und Dis­kur­se gewis­ser­ma­ßen live zu beob­ach­ten. Immer­hin han­delt es sich ja bei der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung um eine nach­ge­ord­ne­te Behör­de des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums, das seit sei­nem Bestehen diver­se Abtei­lun­gen und Sicher­heits­re­fe­ra­te immer auch mit der Ver­wal­tung  des  soge­nann­ten Links­extre­mis­mus beschäf­tigt.Eine Ver­an­stal­tung ähn­li­chen Zuschnitts mit einem ähn­li­chen Per­so­nal­ta­bleau hat­te bereits Ende Sep­tem­ber 2018 in Göt­tin­gen die Bun­des­fach­stel­le unter dem Titel: „Prä­ven­ti­ons­ar­beit und Dees­ka­la­ti­ons­stra­te­gien zu lin­ker Mili­tanz?“ orga­ni­siert. Zu die­ser Tagung liegt mitt­ler­wei­le auch eine Doku­men­ta­ti­on vor. Schon im Vor­feld hat­te ein Bünd­nis von Göt­tin­ger Grup­pen, unter ande­rem die Anti­fa­schis­ti­sche Lin­ke Inter­na­tio­nal (A.L.I.), die Redi­cal [M] und die Orts­grup­pe der Roten Hil­fe die Tagung harsch kri­ti­siert. Aus ihrer Sicht habe es sich bei der von der Bun­des­fach­stel­le ange­bo­te­nen Tagung „schlicht um Spit­ze­lei unter dem Deck­man­tel angeb­li­cher Forschung“.

Zufall, ob jemand Neonazi oder radikaler Linker wird“

Die­sem gra­vie­ren­den Vor­wurf ver­such­te die Bun­des­fach­stel­le sei­ner­zeit dadurch zu begeg­nen, dass sie die gegen ihre Tagung Pro­tes­tie­ren­den ein­lud, dar­an im Publi­kum teil­zu­neh­men. Wenigs­tens einer namens „Tom“ kam die­ser Ein­la­dung nach und ver­fass­te über sei­ne Ein­drü­cke in der Form eines von der A.L.I. ver­brei­te­ten Inter­views einen Bericht. Ihm war im Ver­lauf der Tagung auf­ge­fal­len, dass eine gan­ze Rei­he von Referent*nnen „Bezug auf die Extre­mis­mus­theo­rie nahm. So behaup­te­te bspw. eine Refe­ren­tin ‘phä­no­men­über­grei­fend’ Radi­ka­li­sie­rungs­prä­ven­ti­on betrei­ben [zu] kön­nen, da die Grund­me­cha­ni­ken in Radi­ka­li­sie­rung immer die­sel­ben sei­en, und es letzt­lich Zufall sei, ob jemand Neo­na­zi oder radi­ka­ler Lin­ker wird’“. Als „links­af­fin“ bezeich­ne­te Jugend­li­che – so Beob­ach­ter Tom — hät­ten als zu päd­ago­gi­sie­ren­des Pro­blem im Fokus der Tagung gestan­den. Als Bei­spiel dafür nann­te er den Work­shop „Mit poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Bil­dungs­me­tho­den Zugän­ge öff­nen – Her­aus­for­de­run­gen, Chan­cen und Erfah­run­gen aus der Pro­jekt­ar­beit mit links­af­fi­nen Jugend­li­chen“, der anstel­le der ursprüng­lich ange­kün­dig­ten Grit Fen­ner durch Katha­ri­na Wei­ner vom Ber­li­ner Pro­jekt­trä­ger „Minor“ ange­bo­ten wur­de. Die­ser in der Prä­ven­ti­ons­ar­beit im Bereich Links­extre­mis­mus enga­gier­te Pro­jekt­trä­ger tausch­te sich jüngst mit dem ver­fas­sungs­schutz­po­li­ti­schen Spre­cher der CDU im Ber­li­ner Abge­ord­ne­ten­haus, Ste­phan Lenz, über die wei­te­ren gemein­sa­men Per­spek­ti­ven der Arbeit aus. Auch das kann als Beleg für die The­se des Beob­ach­ters „Tom“ gel­ten, dass sei­tens der Göt­tin­ger Tagungsinitiator*nnen „zwar ver­meint­lich dif­fe­ren­zier­te Begriff­lich­kei­ten, also ‚links­af­fin’, ‚links­ra­di­kal’, ‚links­mi­li­tant’ ver­wen­det“ wür­den, doch eben genau damit „dieselbe(n) Akti­vis­tIn­nen und Struk­tu­ren (gemeint sei­en), die sonst als ‚links­extrem’ bezeich­net werden.“

Mat­thi­as Micus, der Lei­ter der Bun­des­fach­stel­le und Initia­tor der Tagung, repli­zier­te auf die­se Vor­wür­fe unter ande­rem, dass die besag­te „Äuße­rung der Refe­ren­tin bewusst aus dem Zusam­men­hang geris­sen und ver­fälscht wor­den“ sei. Und dar­über hin­aus „kön­ne die Aus­sa­ge einer ein­zel­nen Teil­neh­me­rin nicht als Posi­ti­on der gesam­ten Tagung wie­der­ge­ge­ben wer­den“. Micus beklag­te an der Kri­tik ein „unter­kom­ple­xes Schub­la­den­den­ken“. In einer ande­ren Nach­be­trach­tung zu die­ser Tagung macht die Göt­tin­ger Grup­pe „NoG20-Soli“ auf den Zusam­men­hang auf­merk­sam, dass einer­seits „immer­hin ein Vier­tel der Teil­neh­men­den (der Tagung) von ver­schie­de­nen Lan­des­äm­tern für Ver­fas­sungs­schutz, LKA und BKA“ gekom­men sei. Und es ander­seits zu den Auf­ga­ben der Bun­des­fach­stel­le gehö­re „mit dem Ziel der Prä­ven­ti­ons­ar­beit Infor­ma­tio­nen zusam­men­zu­tra­gen, aus­zu­ar­bei­ten und zur Ver­fü­gung zu stel­len“ Und das alles unter dem Ober­be­griff „lin­ke Mili­tanz“, unter dem eben „auch „links­af­fi­ne Jugend­li­che“ ver­stan­den wer­den, „wel­che sich zusam­men mit Geflüch­te­ten enga­gie­ren oder Neo­na­zis in den Weg stel­len“. Hier zei­ge sich, wie weit gefasst die­ser Begriff ver­wen­det wird und wor­auf die ent­spre­chen­den Pro­gram­me Ein­fluss neh­men sollen.“

Gewaltpornographischen Note

Soviel der Vor­ge­schich­te, nun zu mei­nem eige­nen Bericht von der jüngs­ten Tagung Mit­te Novem­ber: An der Eröff­nungs­ver­an­stal­tung der Tagung in Bam­berg nah­men etwa 220 Per­so­nen teil, dar­un­ter auch hier eine Viel­zahl von Mitarbeiter*innen der  der Sicher­heits­be­hör­den. In ihrer kur­zen Begrü­ßung mach­te die in der Bun­des­zen­tra­le als Lei­te­rin des Fach­be­reichs Extre­mis­mus amtie­ren­de Han­ne Wur­zel auf einen Anschlag mut­maß­li­cher auto­no­mer Aktivist*innen aus dem Leip­zi­ger Stadt­teil Con­ne­witz auf­merk­sam, die einer Immo­bi­li­en­mak­le­rin mög­li­cher­wei­se – so war es in einem auf de.indymedia gepos­te­ten Beken­ner­schrei­ben zu lesen — „ins Gesicht“ geschla­gen haben sol­len. Die­ses Beken­ner­schrei­ben steht mit der besag­ten For­mu­lie­rung „ … und haben wir der Immo­bi­li­en­mak­le­rin dort hin­ge­schla­gen, wo es weh tut: Ins Gesicht“ außer­halb der Begrün­dungs­kul­tur von Anschlä­gen links­ra­di­ka­ler Pro­ve­ni­enz. Es wur­de zwi­schen­zeit­lich auch nach viel­fäl­ti­ger Kri­tik aus der links­ra­di­ka­len Sze­ne von der Redak­ti­on de.indymedia gelöscht. Gleich­wohl nutz­te Frau Wur­zel die­sen Ein­stieg – „ins Gesicht schla­gen“ – der aus der Sicht des Ver­fas­sers nicht ganz frei von einer gewalt­por­no­gra­phi­schen Note ist, um damit die anhal­ten­de Bedeu­tung und wohl auch Gefähr­lich­keit des Links­extre­mis­mus zu unter­strei­chen und so auch auf die Dring­lich­keit sei­ner wei­te­ren Bear­bei­tung hin­zu­wei­sen. Bei einer sol­cher­ma­ßen her­ge­stell­ten Argu­men­ta­ti­on han­delt es sich um eine klas­si­sche Form der poli­ti­schen Rhe­to­rik, die das Phä­no­men, für das Auf­merk­sam­keit erreicht wer­den soll, auf die Erzäh­lung eines eben­so anschau­li­chen wie schlim­men Bei­spiel redu­ziert: Und zwar so, dass mög­lichst der Kra­ter, den der Sprung zur Ver­all­ge­mei­ne­rung des Phä­no­mens über­win­den muss, nicht in den Blick gerät. Genau­so könn­te man ver­fah­ren, um die anhal­ten­de Gefähr­lich­keit von Poli­zei­ge­walt im öffent­li­chen Raum zu „bewei­sen“: Ein­fach eine wah­re Geschich­te erzäh­len, wie die­se hier: Im Dezem­ber 2017 ver­dreh­ten Poli­zei­be­am­te wäh­rend einer Demons­tra­ti­on gegen den AfD-Par­tei­tag in Han­no­ver einem Gegen­de­mons­tran­ten in einer Wie­se das Bein, das er not­ope­riert wer­den muss­te. Wenn die­se Form des Extra­po­lie­rens im Hin­blick auf alle Gewalt­phä­no­me­ne logisch oder red­lich wäre, wäre es nur kon­se­quent, dass die Bun­des­zen­tra­le dem­nächst auch ein­mal eine Fach­ta­gung mit dem Titel „Poli­zei­ge­walt. Phä­no­men, Grund­la­gen, päd­ago­gi­sche Pra­xis“ aus­rich­ten würde.

Nach Wur­zels Begrü­ßung ver­wies der ehe­ma­li­ge Direk­tor des Anne-Frank-Bil­dungs­zen­trum in Frank­furt, der heu­te Refe­rats­lei­ter Demo­kra­tie­för­de­rung im Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Fami­lie, Senio­ren, Frau­en und Jugend (BMFSFJ) ist,  Tho­mas Hep­pe­ner in sei­ner Eröff­nungs­an­spra­che auf eine, für die Aus­rich­ter und das Publi­kum der Ver­an­stal­tung offen­bar wich­ti­ge Pro­ble­ma­tik, näm­lich, dass die viel­fäl­tig bereit gestell­ten Mit­tel zur Bewirt­schaf­tung „Lin­ker Mili­tanz“ nur unzu­rei­chend abge­ru­fen wor­den sei­en. In der letz­ten Pro­jekt­pha­se hät­ten sich auf die acht aus­ge­schrie­be­nen Pro­jek­te ledig­lich acht Antrag­stel­ler bewor­ben, die auch alle den Zuschlag erhal­ten hät­ten. Hepp­ner appel­lier­te hier an die Anwe­sen­den: „Mei­ne Damen und Her­ren, ich bin auch hier, um wei­te­re Ideen für dies­be­züg­li­che Pro­jek­te anzu­re­gen. Bit­te spre­chen sie mich nach­her in der Pau­se an, wenn ihnen etwas dazu ein­fällt“. Den nächs­ten Eröff­nungs­vor­trag hielt der Lei­ter der Bun­des­fach­stel­le Tho­mas Micus. Er ergriff die Gele­gen­heit, um zu grund­sätz­li­chen Defi­ni­ti­ons­fra­gen und Pro­ble­men der „Lin­ken Mili­tanz“ Stel­lung zu neh­men. Bereits in der Ankün­di­gung hat­te er die Fra­ge auf­ge­wor­fen, ob man nicht „bei der Gleich­set­zung radi­ka­ler bzw. mili­tan­ter Lin­ker mit eska­lie­ren­der Gewalt (…) ent­schei­den­de Dif­fe­ren­zen, Ambi­va­len­zen, Wider­sprü­che“ über­se­he. Hier sei zu fra­gen, „ob die wis­sen­schaft­li­che und öffent­li­che Dis­kus­si­on über das Phä­no­men über ange­mes­se­ne Begriff­lich­kei­ten“ ver­fü­ge. In die­sem Zusam­men­hang stütz­te sich Micus mehr­mals expli­zit auf die jüngst publi­zier­te Dis­ser­ta­ti­on des Pro­mo­ti­ons­sti­pen­dia­ten der Hans-Böck­ler-Stif­tung, Maxi­mi­li­an Fuhr­mann, „Anti­ex­tre­mis­mus und Demo­kra­tie“, um zu for­dern, sich von der Extre­mis­mus­dok­trin Backes-Jes­se­scher Pro­ve­ni­enz bei der Refle­xi­on des Gegen­stan­des zu verabschieden.

Micus ana­ly­ti­scher und infor­mier­ter Vor­trag, der auch auf älte­re Publi­ka­tio­nen wie die von Hans Man­fred Bock zum Links­ra­di­ka­lis­mus rekur­rier­te, erschien bemer­kens­wert, da er immer wie­der die (anwe­sen­de und abwe­sen­de) Poli­zei direkt adres­sier­te. Klar sei, dass die­se bei schwe­ren Straf­ta­ten ein­schrei­ten müs­se. Die­se Bemer­kun­gen waren eigent­lich über­flüs­sig. Einer­seits wegen ihrer Selbst­ver­ständ­lich­keit, ande­rer­seits aber auch, weil die Straf­ver­fol­gung ja nicht Sache sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher Erör­te­run­gen ist. Ange­sichts der gan­zen Staf­fel von Polizeibeamt*innen im Saal wirk­ten sie jedoch durch­aus pas­send. Und in der Tat, die Polizist*innen im Publi­kum haben sich ange­sichts der von Micus vor­ge­tra­ge­nen Kon­tex­tua­li­sie­rung lin­ker Mili­tanz sicher­lich immer mal wie­der gefragt, was ihnen die­se Ana­ly­se bei der Ergrei­fung von Straftäter*innen nüt­zen soll, und fühl­ten sich hier bestimmt „ein Stück weit mit­ge­nom­men“. Micus’ Über­le­gun­gen gin­gen in die­sel­be Rich­tung wie der Bei­trag von Peter Imbusch im Rah­men des Panels „Recht­fer­ti­gun­gen poli­ti­scher Gewalt“. Auch Imbusch stell­te – gegen die bekann­ten Posi­tio­nen von Backes und Jes­se — klar, dass poli­tisch Links mit sei­ner Ori­en­tie­rung an den Idea­len Gleich­heit, Frei­heit und Brü­der­lich­keit der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on und mit sei­nen kom­ple­xen Dis­kus­sio­nen zur Gegen­ge­walt nun mal ein­fach nicht mit poli­tisch Rechts gleich­zu­set­zen sei, wo bekannt­lich ohne Dis­kus­si­on zuge­schla­gen wer­de. Aus der Sicht von Imbusch dro­he der Demo­kra­tie aktu­ell durch die Gewalt von rechts Scha­den, und nicht von links.

Anekdoten aus der Zeitgeschichte der Bundesrepublik

Nach Mat­thi­as Micus erhielt der seit den 1970er Jah­ren sehr umtrie­bi­ge Wolf­gang Kraus­haar das Wort. Damals als Akti­vist der Grup­pe SHI (Sozia­lis­ti­sche Hil­fe) in Frank­furt in den Jah­ren 197475 Vor­sit­zen­der des Asta, heu­te gründ­lich gewen­de­ter – laut Wiki­pe­dia — „Pro­test-Chro­nist der Acht­und­sech­zi­ger“ hielt er hier einen Vor­trag mit dem Titel „Zur Ästhe­tik lin­ker Mili­tanz“. Kraus­haar eröff­ne­te sei­nen Vor­trag mit einer, alles ande­re als wert­frei­en Beschrei­bung der Ran­da­le­nacht vom 7. auf den 8. Juli 2017 im Schan­zen­vier­tel wäh­rend des G20-Gip­fels. Dem Ein­satz­lei­ter der Poli­zei, Hart­mut Dud­de, beschei­nig­te er, zunächst ein Kon­zept der „Dees­ka­la­ti­on“ prak­ti­ziert zu haben, dass er dann aber wegen der „Über­grif­fe“ von Auto­no­men habe auf­ge­ben müs­sen. Dud­de habe sich gezwun­gen gese­hen, die außer Kon­trol­le gera­te­ne Situa­ti­on mit dem Ein­satz von Spe­zi­al­kräf­ten zu klä­ren, die dann mit Maschi­nen­ge­weh­ren im Anschlag die Stra­ßen im Schan­zen­vier­tel geräumt hät­ten. Dies war nur die ers­te einer Viel­zahl von Anek­do­ten aus der Zeit­ge­schich­te der Bun­des­re­pu­blik, die Kraus­haar im Fol­gen­den zum Bes­ten gab: die von Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl wäh­rend sei­ner Ver­hand­lun­gen zur deut­schen Ein­heit mit Michail Gor­bat­schow getra­ge­ne Stick­ja­cke kam eben­so vor wie eine Leder­ja­cke der soge­nann­ten „Leder­ja­cken­frak­ti­on“ aus der Frank­fur­ter Uni­ver­si­tät. Bei­de Klei­dungs­stü­cke, so infor­mier­te Kraus­haar das Publi­kum, wür­den mitt­ler­wei­le im Bon­ner Muse­um für die Deut­sche Geschich­te auf­be­wahrt. Der Refe­rent setz­te das Publi­kum auch dar­über in Kennt­nis, dass mili­tan­te SDS-Student*innen der Frank­fur­ter Uni­ver­si­tät Ende der 1960er Jah­re immer mal wie­der im Kino Italo-Wes­tern gese­hen haben sol­len. Kraus­haar zeig­te sich in sei­nem Vor­trag davon über­zeugt, dass, obwohl 1968 in der Bun­des­re­pu­blik kei­ne revo­lu­tio­nä­re Situa­ti­on bestan­den habe, sich den­noch danach eine Rei­he von „Exper­ten der Gewalt“, wie z.B. Andre­as Baa­der und Micha­el „Bom­mi“ Bau­mann, auf den Weg gemacht hät­ten, um ein, wie Kraus­haar for­mu­lier­te, „ins­ge­hei­mes Magnet­feld der Gewalt“ zu erkunden.

Auch in die­sem Zusam­men­hang habe kein gerin­ge­rer als der vor­ma­li­ge Akti­vist der PL/PI (Pro­le­ta­ri­schen Lin­ken / Par­te­i­nitia­ti­ve) und des „Revo­lu­tio­nä­ren Kamp­fes“, Tom Koe­nigs, bei einem Trai­ning der „Putz­grup­pe“ von einem Genos­sen das Nasen­bein gebro­chen bekom­men. Und so ging es wei­ter. Kraus­haars Vor­trag ent­hielt im Grun­de kei­ne The­se und kein Argu­ment, insi­nu­ier­te jedoch mit den Anek­do­ten, die er anein­an­der reih­te, eine zwi­schen komö­di­an­ti­schem Unsinn und Dämo­nie irr­lich­tern­de Geschich­te lin­ker Mili­tanz in der BRD, ohne im Gerings­ten auf die gesell­schafts­po­li­ti­schen Kon­tex­te der von ihm erzähl­ten Geschich­ten ein­zu­ge­hen. Fra­gen nach mög­li­cher Legi­ti­mi­tät lin­ker Mili­tanz oder ande­re Abwä­gun­gen hat­ten in die­sem reak­tio­när codier­ten Skript kei­nen Platz. Ganz im Geist der Extre­mis­mus­dok­trin wur­de hier beden­ken­los abge­spal­ten und exor­ziert. Wie – vor­sich­tig aus­ge­drückt – schwie­rig es offen­bar ist, mit einem sol­chen Blick noch die Rea­li­tät zu erken­nen, zeigt die oben zitier­te Ein­stiegs­er­zäh­lung, in der Kraus­haar der Ein­satz­lei­tung der Ham­bur­ger Poli­zei ein Kon­zept der „Dees­ka­la­ti­on“ beschei­nigt hat­te. Die­ses Kon­zept hat­te es beim G20 Gip­fel in Ham­burg näm­lich nicht gege­ben, wie schon zeit­ge­nös­sisch eine Stel­lung­nah­me des Aus­bil­ders des oben genann­ten Ein­satz­lei­ters Dud­de von der Deut­schen Hoch­schu­le der Poli­zei aus Hil­trup in einem Leser­brief an die Süd­deut­sche Zei­tung kritisiert.

Ein gebrochenes Nasenbein in 50 Jahren Protestbewegung

Dar­auf hin­ge­wie­sen ruder­te Kraus­haar zurück und räum­te ein, dass von Ein­satz­lei­ter Dud­de bereits im Vor­feld von G20 ein har­ter Ein­satz ange­kün­digt wor­den sei. Auch ein im Publi­kum sit­zen­der Poli­zei­be­am­ter wuss­te nichts von „Dees­ka­la­ti­on“, son­dern bestä­tig­te: „Bei den Ver­mumm­ten auf der auto­no­men ‚Wel­co­me to hell‘-Demonstration hat es sich um Straf­tä­ter gehan­delt, gegen die ein­ge­grif­fen wer­den muss­te!“ Ger­hard Han­lo­ser (Ber­lin) bedau­er­te in der dar­auf fol­gen­den Dis­kus­si­on den Man­gel an ana­ly­ti­schem Niveau in Kraus­haars Dar­le­gun­gen: „Sie haben in ihrem Vor­trag das ana­ly­ti­sche Niveau ihres Vor­red­ners [Micus, Anm. Verf.] weit unter­bo­ten!“ Er kri­ti­sier­te auch die Ein­sei­tig­keit sei­ner Gewalt­schil­de­run­gen. Han­lo­ser warf am Bei­spiel des von Kraus­haar als exem­pla­risch ein­ge­führ­ten gebro­che­nen Nasen­bei­nes von Tom Koe­nings die Fra­ge auf, ob eben die­ses womög­lich das ein­zi­ge gebro­che­ne Nasen­bein in der Geschich­te von 50 Jah­ren Pro­test­be­we­gun­gen und lin­ker Mili­tanz gewe­sen sei? Ob denn eigent­lich eine Geschich­te der lin­ken Mili­tanz und der Pro­test­be­we­gun­gen in der Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik in den letz­ten 50 Jah­ren erzählt und geschrie­ben wer­den kön­ne, die ohne die Wech­sel­wir­kung mit der Staats­ge­walt aus­kom­me, frag­te der Dis­ku­tant hier wei­ter. Han­lo­ser erin­ner­te dabei in leich­ter Abwand­lung an das Dik­tum von Max Hork­hei­mer, dass viel­leicht der­je­ni­ge von der Geschich­te eben die­ser Pro­test­be­we­gun­gen schwei­gen müs­se, der von ihrer Wech­sel­wir­kung mit der Staats­macht und ihrer Repres­si­on bewusst nicht spre­chen wolle.

Im Ver­lauf der Tagung konn­te der Ver­fas­ser noch Ein­drü­cke aus ein paar Work­shops gewin­nen. Bemer­kens­wert erschien dabei das State­ment eines Beam­ten der Ber­li­ner Poli­zei am Ende der Ver­an­stal­tung der bei­den Mit­ar­bei­ter der Bun­des­fach­stel­le Micha­el Lüh­mann und Juli­an Schen­ke unter dem Titel: „Rote Flo­ra bleibt! Eine Milieu­stu­die zu auto­no­men Sze­nen in Ham­burg“. Als die­ser gefragt wur­de, was er von dem Pro­jekt der Bun­des­fach­stel­le hal­te, gab er in einem dem Ver­fas­ser außer­or­dent­lich gut ver­trau­ten gut­tu­ra­len Ber­li­ner Sound kurz und tro­cken zu Pro­to­koll: „Es exis­tie­ren Sze­ne­kon­tak­te zwi­schen Ber­lin und der Roten Flo­ra und da ist es für uns gut, mehr dar­über zu erfah­ren, wie das genau aus­sieht.“ Was auch immer an der Theo­rie wie Pra­xis der Ber­li­ner Poli­zei berech­tig­ter­wei­se aus­zu­set­zen sein mag: Es wäre völ­lig halt­los ihr den Vor­wurf zu machen, sie hät­te sich bei ihrer schwe­ren Arbeit der kon­ti­nu­ier­li­chen Obser­vie­rung und Straf­ver­fol­gung von Linksextremist*innen jemals mit dem Dre­schen von immer umständ­lich zu hand­ha­ben­den sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Phra­sen aufgehalten.

Schwierige Lebenssituation“ durch „Linke Militanz“

In dem von Lau­ra Adri­an vom Ver­ein „Kie­ler Anti­ge­walt- und Sozi­al-Trai­ning“ (KAST e. V.) aus Neu­müns­ter gestal­te­ten Work­shop zum Pro­jekt „Lin­ke Mili­tanz in Schles­wig-Hol­stein“ bemüh­te sich die­se, einen, wie es in der Ankün­di­gung hieß, „Pra­xis­ein­blick“ zu geben. Eben die­ser bestand dar­in, dass der Ver­ein irgend­wann ein­mal von den Sicher­heits­be­hör­den ange­fragt wor­den war, ob man nicht auch mal etwas zum The­ma „Lin­ke Mili­tanz“ machen wol­le. Ent­spre­chen­de För­der­mit­tel dazu stün­den bereit. Dar­über hat­te der Ver­ein vor­her gar nicht nach­ge­dacht, denn dies­be­züg­lich war auch nie­mals ein Bedarf von wem auch immer an ihn her­an­ge­tra­gen wor­den. „Nein“ moch­te er aber zu dem in Aus­sicht gestell­ten staat­li­chen Geld­sack auch nicht sagen, griff auf die För­der­mit­tel zu und bemüht sich seit­dem dar­um, dies­be­züg­li­che Fort­bil­dun­gen „für den Voll­zug, die Bewäh­rungs­hil­fe und ande­re in die­sen Arbeits­fel­dern täti­ge Per­so­nen“ zu orga­ni­sie­ren. Auch eine Aus­stiegs­be­ra­tung wür­de, so führ­te Frau Adri­an wei­ter aus, für „Men­schen“ ange­bo­ten, „die durch eige­ne Akti­vi­tä­ten im Kon­text lin­ker Mili­tanz in schwie­ri­ge Lebens­si­tua­tio­nen gera­ten sind“. Auf Nach­fra­ge erklär­te sie, dass sich hier aber bis­lang noch nie­mand gemel­det habe. Gleich­wohl ste­he man auch wei­ter­hin mit der kon­kre­ten Aus­stiegs­be­ra­tung von Links­mi­li­tan­ten Gewehr bei Fuß, gel­te doch hier alle­mal, so das von der Refe­ren­tin froh gelaunt ver­kün­de­te Mot­to: „Aus­stei­gen heißt Kar­rie­re!“ Die dar­auf gestell­te Fra­ge des Ver­fas­sers, der durch die von der rot-grü­nen Schrö­der-Fischer-Regie­rung umge­setz­te Arbeits­markre­for­men – wie Mil­lio­nen ande­re auch – finan­zi­ell wahr­lich in eine „schwie­ri­ge Lebens­si­tua­ti­on“ gera­ten ist, ob er denn von dem Ver­ein gutes Geld dafür bekom­men kön­ne, wenn er sich end­lich ein­mal dazu ent­schei­den wür­de, aus dem Links­extre­mis­mus aus­zu­stei­gen, wur­de von Frau Adri­an aber freund­lich-lächelnd ver­neint. Frau Adri­an hat sich unter­des­sen schon mal nach Ablau­fen des Bewil­li­gungs­zeit­raums ihres Pro­jek­tes beim Job­cen­ter arbeits­los gemel­det, hofft aber auf eine Wei­ter­be­wil­li­gung der För­der­mit­tel im Bereich „Lin­ke Mili­tanz“, um auch so ihre Arbeit fort­set­zen zu kön­nen. Das ist ihr unbe­dingt zu gön­nen. Denn nichts wird in die­sem Land bes­ser, wenn nun auch Frau Adri­an durch die Arbeits­lo­sig­keit davon bedroht ist, selbst in eine „schwie­ri­ge Lebens­si­tua­ti­on“ zu gera­ten. Auch das zeigt, dass man in Deutsch­land zwar auch durch die Sicher­heits­be­hör­den unter­stützt aus der „Lin­ken Mili­tanz“ aus­stei­gen kann, aber nun mal nicht aus dem Kapitalismus.

Die Refe­ren­ten Alex­an­der Dey­cke von der Bun­des­fach­stel­le Lin­ke Mili­tanz und Richard Rohr­mo­ser von der Uni­ver­si­tät Mann­heim mach­ten sich in ihrem Work­shop zur „Anti­fa“ auf eine, wie sie ankün­dig­ten, „Spu­ren­su­che.“ Dabei nah­men sie für ihre Über­le­gun­gen zunächst ein­mal das Gene­ral­ver­dikt der Sicher­heits­be­hör­den und der Extre­mis­mus­for­schung auf, dem zufol­ge die Anti­fa als poten­ti­ell „kri­mi­nell“ gilt, inso­fern sie für die Eska­la­tio­nen „bei Pro­tes­ten und gewalt­tä­ti­ge Über­grif­fe auf ihre poli­ti­schen Geg­ner“ ver­ant­wort­lich sei. Für ande­re wie­der­um stel­le die Anti­fa immer­hin einen „legi­ti­men und wich­ti­gen Akteur gegen Rechts­extre­mis­mus und Neo­na­zis­mus“ dar. Von bei­den Refe­ren­ten wur­de die Gene­ral­fra­ge, um was es sich eigent­lich bei der Anti­fa genau han­de­le, im Grun­de genom­men in einer Wei­se beant­wor­tet, die inte­gra­tiv links­li­be­ral genannt wer­den kann. In der Anti­fa tum­mel­ten sich zwar bedau­er­li­cher­wei­se die­se und jene Straftäter*innen, sie sei aber letzt­lich doch durch vie­le jun­ge sym­pa­thi­sche Men­schen getra­gen, deren fried­li­ches Enga­ge­ment gegen Nationalsozialist*innen letzt­lich in eine Stär­kung der Zivil­ge­sell­schaft umge­münzt wer­den kön­ne. Im Grun­de ein in der Staats­ar­chi­tek­tur der Bun­des­re­pu­blik auf die all­seits begehr­te poli­ti­sche Mit­te hin zen­trier­ter Zugriff. Und den­noch erschien das von bei­den Refe­ren­ten ver­tre­te­ne For­schungs­de­sign ihres Pro­jek­tes auf die The­ma­tik ver­kürzt zu sein. Ist es denn nicht so, dass seit Jah­ren gera­de die Theo­rie und Pra­xis der Sicher­heits­be­hör­den und der Extre­mis­mus­for­schung dar­in besteht, der heu­ti­gen Poli­tik der Par­tei „Alter­na­ti­ve für Deutsch­land“ (AfD) zen­tra­le Stich­wor­te für die im Brüll-Modus exe­ku­tier­te Kam­pa­gne „Anti­fa ist Ter­ro­ris­mus!“ zu liefern?

Reicht das Wissen?

Am Ende wur­de mit Ulrich Ball­hau­sen der Vor­sit­zen­de des Arbeits­krei­ses Deut­scher Bil­dungs­stät­ten um einen Kom­men­tar zum Ver­lauf der Tagung gebe­ten. Im Jahr 2010 hat Ball­hau­sen, damals Lei­ter der Euro­päi­schen Jugend­bil­dungs- und Jugend­be­geg­nungs­stät­te Wei­mar (EJBW), trotz öffent­li­cher Kri­tik 800.000 Euro Pro­jekt­mit­tel aus dem ers­ten, von der Fami­li­en­mi­nis­te­rin Kris­ti­na Schrö­der im Jahr 2010 auf­ge­leg­ten Pro­gramm gegen Links­extre­mis­mus ange­nom­men. Die­se Ent­schei­dung hat­te er damals so ver­tei­digt: Links­extre­mis­mus, so Ball­hau­sen, sei „ein schil­lern­der, offe­ner, unkla­rer Begriff“, der gera­de „im Ver­gleich mit dem ver­meint­li­chen Par­al­lel­be­griff Rechts­extre­mis­mus (…) eher Miss­ver­ständ­nis­se“ erzeu­ge. Um den „Links­extre­mis­mus“ herr­sche ein „rie­sen­gro­ßer Nebel“. Er ver­wah­re sich ent­schie­den dage­gen, als „Kron­zeu­ge“ für den Kampf gegen den Links­extre­mis­mus in Anspruch genom­men zu wer­den: „Ich blei­be bei mei­ner Mei­nung, dass wir in Thü­rin­gen zwar ein Pro­gramm gegen Rechts­extre­mis­mus, aber nicht gegen Links­extre­mis­mus brau­chen.“ Doch nun sei er durch eben die­ses neu auf­ge­leg­te Bun­des­pro­gramm in einen, wie er for­mu­lier­te „neu­en Kom­mu­ni­ka­ti­ons­zu­sam­men­hang“ gebracht wor­den, und kün­dig­te schon damals „eine wis­sen­schaft­li­che Beglei­tung und eine inten­si­ve Aus­wer­tung“ der in die­sem Zusam­men­hang durch­ge­führ­ten Ver­an­stal­tun­gen an. Viel­leicht wer­de auch dadurch, so Ball­hau­sen „deut­lich, wo Bedar­fe und Pro­blem­la­gen sind und wo kei­ne und wel­ches die rich­ti­gen Reak­tio­nen dar­auf sind.“

Fast zehn Jah­re spä­ter mach­te Ball­hau­sen in sei­nem Abschluss­kom­men­tar zur hier ver­han­del­ten Tagung zunächst dar­auf auf­merk­sam, dass „je näher die For­schung dem Kern­the­ma der Tagung zur Lin­ken Mili­tanz kam“, des­to häu­fi­ger sei­en Begrif­fe „wie ’Such­be­we­gun­gen’, ‘Ver­mu­tun­gen’, ‘schwer ran­zu­kom­men“ auf­ge­taucht. Die „zen­tra­le Grund­fra­ge“ sei hier: „Reicht das Wis­sen über das, wor­über wir zu reden glau­ben – ein flui­des Phä­no­men -, tat­säch­lich für sozi­al­wis­sen­schaft­lich fun­dier­te Bil­dungs­pro­zes­se in der poli­ti­schen Bil­dung aus?“ Hier monier­te Ball­hau­sen die Unschär­fe, wenn wahl­wei­se von Links­ra­di­ka­lis­mus und Gewalt oder eben von einer Lin­ken Mili­tanz gespro­chen wer­de, die „eher etwas los­ge­löst vom Gewalt­be­griff“ ver­stan­den wer­de. Wenn man eben das mit einer Bil­dungs­pra­xis ver­bin­den wol­le „und dies noch im Rah­men eines Bun­des­pro­gramms“, dann sei hier alle­mal noch eini­ges an Ver­stän­di­gung und Klä­rung zu leis­ten. Das gel­te in beson­de­rer Wei­se auch des­halb, weil es bei die­ser The­ma­tik weder eine „Her­aus­for­de­rungs­per­spek­ti­ve für die Demo­kra­tie“ noch „ein­fach“ inter­es­sier­te Ziel­grup­pen gebe. In sei­nen wei­te­ren Aus­füh­run­gen leg­te Ball­hau­sen ein kla­res Bekennt­nis zur Auto­no­mie der poli­ti­schen Bil­dung gegen­über den For­de­run­gen der Prä­ven­ti­on ab. Gera­de weil hin­ter der Prä­ven­ti­ons­lo­gik immer auch „eine Logik des Ver­dachts und eine Stig­ma­ti­sie­rungs­pro­ble­ma­tik“ ste­he, dür­fe sie kei­nes­wegs auf den Bereich der poli­ti­schen Bil­dung und dem Bereich der außer­schu­li­schen poli­ti­schen Jugend- und Erwach­se­nen­bil­dung über­tra­gen wer­den. Ball­hau­sen stell­te die Fra­ge, was von den im Lauf der Tagung ver­han­del­ten Phä­no­me­nen „Lin­ker Mili­tanz“ eigent­lich in wel­chen „Zustän­dig­keits­be­reich“ gehö­re: Um was gehe es denn? Um „den Bereich der Straf­ver­fol­gung oder der sozia­len Arbeit (sozia­le Trai­nings­pro­gram­me) oder gar der Sozi­al­po­li­tik?“ Ball­hau­sen mahn­te hier, so sei­ne For­mu­lie­rung, eine „deut­li­che Zurück­wei­sung an poli­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger“ an. Er expli­zier­te die­se Aus­sa­ge am Bei­spiel sei­ner Pra­xis­er­fah­rung mit dem oben genann­ten Links­extre­mis­mus­pro­gamm, das er im Jahr 2010 ein­ge­wor­ben hat­te. Es sei zwar sehr leicht zu akqui­rie­ren gewe­sen, es habe sich jedoch gezeigt, dass es für die­ses Pro­gramm schlicht kei­ne Ziel­grup­pe gab. Des­we­gen wer­de man auch die­se Arbeit nicht mehr fort­set­zen und kei­ne wei­te­ren Anträ­ge stellen.

Ball­hau­sen hob nicht nur her­vor, dass die Demo­kra­tie in Deutsch­land durch die lin­ke Mili­tanz nicht gefähr­det sei, son­dern führ­te auch wei­ter aus: „Der offen aus­ge­tra­ge­ne Kon­flikt – auch in sei­ner Mili­tanz und Gewalt­be­reit­schaft – ist ein Lern­feld für die Demo­kra­tie; gut, dass die­se Kon­flik­te über Gren­zen des Wachs­tums, Kapi­ta­lis­mus­kri­tik, Wohn­raum auch gesell­schaft­lich sicht­bar sind!“ Dar­über hin­aus mach­te er unter Hin­weis auf die dies­be­züg­li­che Dis­kus­si­on aus dem Eröff­nungs­pa­nel deut­lich, dass es aus der Per­spek­ti­ve der Poli­ti­schen Bil­dung unmög­lich sei über lin­ke Gewalt bzw. Mili­tanz zu dis­ku­tie­ren, ohne über staat­li­che und struk­tu­rel­le Gewalt zu reden. Poli­ti­sche Bil­dung müs­se unbe­dingt „sen­si­bel dafür sein, dass kei­ne grund­sätz­li­che Dis­kre­di­tie­rung gesell­schaft­li­cher Pro­test­be­we­gun­gen statt­fin­det.“ Am Ende sei­ner Aus­füh­run­gen warf Ball­hau­sen noch die Fra­ge auf, ob die Poli­ti­sche Bil­dung anstatt eines finan­zi­ell üppig aus­ge­stat­te­ten Schwer­punkt­the­mas „Lin­ke Mili­tanz“ ange­sichts der aktu­el­len Her­aus­for­de­run­gen nicht sehr viel mehr „Men­schen­rechts­bil­dung, mehr öko­lo­gi­sche Bil­dung, mehr Demo­kra­tie­bil­dung, mehr glo­bal citi­zen­ship edu­ca­ti­on und ein Mehr an kri­ti­scher Medi­en­bil­dung“ brau­che. Die­se von Ball­hau­sen freund­lich vor­ge­tra­ge­ne Bilanz zeig­te: „Links­extre­mis­mus“, „lin­ke Gewalt“ und lin­ke Mili­tanz sind auch nach 10 Jah­ren staat­li­chen För­der­en­ga­ge­ments kein gro­ßes gesell­schaft­li­ches Problem.

Geist und Inten­ti­on die­ses bilan­zie­ren­den Kom­men­tars wichen weit ab von dem vom Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Fami­lie gemein­sam mit dem BMI im Som­mer 2016 vor­ge­leg­ten „Berichts zur Extre­mis­mus­prä­ven­ti­on und Demo­kra­tie­för­de­rung“. Nach­dem er geen­det hat­te, brei­te­te sich im Saal Stil­le aus. Man­che Verantwortungsträger*nnen aus der Bun­des­zen­tra­le wirk­ten rat­los. Die Fra­ge stand im Raum: „Wie soll es denn nun bloß mit den zum Abruf berei­ten För­der­gel­dern in Sachen Kampf gegen den Links­extre­mis­mus weitergehen?“

Aspekte der Reliabilität und Validität bundesdeutscher Staatsraison der Innerer Sicherheit

Durch die Vor­trä­ge einer Rei­he von Refe­ren­ten war zu beob­ach­ten, mit wel­cher Ver­ve aber auch argu­men­ta­ti­ven Digni­tät die Extre­mis­mus­dok­trin, umgangs­sprach­lich for­mu­liert – „in die Ton­ne getre­ten“ – wur­de und das in den hei­li­gen Hal­len der Bun­des­zen­tra­le, die bekannt­lich eine nach­ge­ord­ne­te Behör­de im Geschäfts­be­reich des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums ist! Der Ver­fas­ser, der selbst ein­mal im Jah­re 2010 gegen die­sen die gesell­schaft­li­che Frei­heit wie Plu­ra­li­tät bedro­hen­den Unsinn ein Buch her­aus­ge­ge­ben hat, hat hier zunächst ein­mal das Recht, dass mit einer gewis­sen spä­ten Genug­tu­ung zu ver­mer­ken. Auf der ande­ren Sei­te funk­tio­niert eben die­se gesell­schafts­theo­re­tisch schon lan­ge erkenn­bar unter­tou­ri­ge Dok­trin wie eine Art Gum­mi­baum, der immer wie­der umge­tre­ten wer­den kann — und auch um getre­ten wer­den darf! – und der sich dann doch eigen­tüm­li­cher Wei­se immer wie­der auf­rich­tet. War­um ist das so? Hier erbrach­te der prak­ti­sche Ver­lauf der Tagung für den Ver­fas­ser neue Hin­wei­se, vor allem durch die spür­bar hohe Anwe­sen­heit von Polizeibeamt*innen und ande­ren Mitarbeiter*innen von Sicher­heits­be­hör­den auf die­ser Tagung. Wäh­rend noch ein jede*r Sozialwissenschaftler*in, der oder die etwas auf sich hält, immer wei­ter in Bezug auf die Fort­exis­tenz von Gesell­schaft reflek­tie­ren und damit auch kon­tex­tua­li­sie­ren muss, sind alle Agent*innen der Staats­si­cher­heit sogar gesetz­lich ver­pflich­tet stets dro­hen­de Gefähr­dun­gen zu wit­tern, um dann bei dem Ver­dacht auf Straf­ta­ten umge­hend zuzugreifen.

Schlägt also hier durch die Her­aus­for­de­rung von Mili­tanz aus sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher Sicht gewis­ser­ma­ßen und erst recht die Stun­de der Demo­kra­tie (Ball­hau­sen), so ist es aus der Per­spek­ti­ve der Sicher­heits­be­hör­den völ­lig plau­si­bel, dass im Fal­le eines mut­maß­li­chen Ver­bre­chens immer erst­mal die Stun­de der Inne­ren Sicher­heit schlägt. Zuge­spitzt for­mu­liert: Bei der Straf­ver­fol­gung hat die Demo­kra­tie erst­mal Pau­se zu machen, und über­haupt erschwert noch jede Form irgend­ei­nes womög­lich auch noch poli­ti­schen Ver­ständ­nis­ses für das von den Sicher­heits­be­hör­den als straf­ver­fol­gungs­wür­dig erach­te­te Ver­bre­chens, das Ziel, die ergrif­fe­nen Delin­quen­ten einer gerichts­fes­ten Ver­ur­tei­lung zuzu­füh­ren. Jeden­falls bie­tet die Extre­mis­mus­dok­trin für die Sicher­heits­be­hör­den auch in Zukunft eine gut zu hand­ha­ben­de 0/1‑Codierung an, mit der sich zwar defi­ni­tiv nicht auf die Tota­li­tät von Gesell­schaft reflek­tie­ren, gleich­wohl sich ein poli­zei­li­cher Zugriff auf ent­spre­chend mar­kier­te Delin­quen­ten imma­nent plau­si­bel legi­ti­mie­ren lässt.

Anhaltendes Skandalon erster Güte

Trotz allem sind natür­lich die im Kor­sett der inne­ren Sicher­heit geführ­ten Dis­kus­sio­nen in Bam­berg, eine Trans­for­ma­ti­on von der Begriff­lich­keit „Links­extre­mis­mus“ hin zu dem der „Lin­ken Mili­tanz“ zu bewerk­stel­li­gen, auch für die Sicher­heits­be­hör­den kei­nes­wegs ohne Hand­lungs­re­le­vanz. Aktu­ell wird in Ham­burg die juris­ti­sche Auf­ar­bei­tung der Gescheh­nis­se im Zusam­men­hang mit der poli­zei­li­chen Zer­schla­gung der Demons­tra­ti­on vom Ron­den­barg wäh­rend des G20-Gip­fels wei­ter­ge­führt. Nach­dem ein ers­tes Ver­fah­ren gegen den ita­lie­ni­schen Demons­tran­ten Fabio V., dem in der Ankla­ge ledig­lich vor­ge­wor­fen wor­den war, sich an die­ser Demons­tra­ti­on betei­ligt zu haben, abge­bro­chen wer­den muss­te, wur­den nun von der Staats­an­walt­schaft Ham­burg 30 wei­te­re Ankla­gen erho­ben. Aus Anwalts­krei­sen war zu erfah­ren, dass die Wahr­schein­lich­keit hoch ist, dass noch gegen wei­te­re 50 (!) Demonstrationsteilnehmer*nnen Ankla­gen in die­ser Ange­le­gen­heit erho­ben wer­den sol­len. Natür­lich erscheint es auf den ers­ten Blick zunächst ein­mal durch­aus plau­si­bel, den Rondenbarg-Demonstrant*innen in einem poli­ti­schen Sin­ne ein gewis­ses Maß an lin­ker Mili­tanz zuzu­schrei­ben. Ist aber von den Sicher­heits­be­hör­den – auch durch die will­fäh­ri­ge Koope­ra­ti­on mit Sozialwissenschaftler*innen im Dienst der Inne­ren Sicher­heit — erst­mal der Begriff der „Lin­ken Mili­tanz“ anstel­le von dem des Links­extre­mis­mus als Sprach­re­ge­lung für inkri­mi­nier­tes poli­ti­sches Pro­test­ver­hal­ten durch­ge­setzt wor­den, so unter­mi­niert eben das nicht nur die juris­ti­sche Unschulds­ver­mu­tung. Es wird auch den Straf­ver­fol­gungs­an­spruch der Sicher­heits­be­hör­den auf – und hier han­delt es sich um eine Begriffs­in­no­va­ti­on – soge­nann­te Raum­straf­ta­ten, sprich: Wem nach­ge­wie­sen wer­den kann, dass er durch das Video­bild einer zuvor von den Sicher­heits­be­hör­den poli­tisch als kri­mi­nell erklär­ten Demons­tra­ti­on gehuscht ist, hat sich bereits straf­bar gemacht — enorm aus­wei­ten, sie­he die Cau­sa Ron­den­barg. Nie­mand soll sich hier etwas vor­ma­chen: So wenig der bun­des­deut­sche Staat „Linksextremist*innen“ in der Ver­gan­gen­heit eine poli­ti­sche Legi­ti­mi­tät zuge­bil­ligt hat, so wenig wird er in der Zukunft dazu bereit sein, eben die­se der „lin­ken Mili­tanz“ zuzugestehen.

Im Ver­lauf der Tagung zeig­te sich ein zum Teil beun­ru­hi­gen­des Pan­op­ti­kum, in dem alle Anwe­sen­den irgend­wie noch mal „Alte BRD“ gespielt haben. Die AfD war im Raum fast völ­lig abwe­send, obwohl die Sicher­heits­be­hör­den via Extre­mis­mus­dok­trin ganz wesent­li­che Stich­wort­ge­ber für sie sind. Der Streit mit Kraus­haar und sei­nen vie­len vor allem aus den 1970er Jah­ren erzähl­ten Anek­do­ten hat­te im Grun­de kei­ne ande­re Folie. Es ist auch irgend­wie – sagen wir – komisch, wenn dies­be­züg­li­che staat­li­che För­der­pro­gram­me Polizeibeamt*innen, Sozialarbeiter*innen und Sozialwissenschaftler*innen in einem Raum auf­ein­an­der het­zen. Dabei sol­len die Sozialwissenschaftler*innen „links­af­fi­ne“, links zu Mili­tanz geneig­te Jugend­li­che irgend­wie auch mit Hil­fe von Päd­ago­gik-Tools auf links­li­be­ral und Mit­te trim­men und tun das im Grun­de von ihren Inten­tio­nen her auch, denn sie wol­len natür­lich ihren Job behal­ten. Die Dis­kus­si­on oder viel­leicht auch der Streit geht hier dar­um, wie­viel Mani­pu­la­ti­on, wie viel Repres­si­on in Sachen Päd­ago­gik und halb­wegs for­mal frei­er Wis­sen­schaft letzt­lich zuläs­sig sind.

Ein Wort noch zu dem Anti­fa-Work­shop auf die­ser Tagung einer nach­ge­ord­ne­ten Behör­de im Geschäfts­be­reich des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums: Bei einer sol­chen The­men­stel­lung hat man das Recht dazu, ein­mal von den ste­ten Nöten der aktu­el­len Straf­ver­fol­gung abzu­se­hen, und darf auch mal einen auch durch die deut­sche Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts geschärf­ten his­to­ri­schen Tie­fen­blick anle­gen. Und da wird dem Ver­fas­ser die­ser Zei­len doch ein wenig blü­mer­ant bei der Vor­stel­lung, damit kon­fron­tiert zu sein, dass sowohl aus der Sicht der Reichs­re­gie­rung in der Zeit vom 30. Janu­ar 1933 bis zum 8. Mai 1945 wie auch für die aktu­el­le Bun­des­re­gie­rung ein bedeu­ten­des Pro­blem der Inne­ren Sicher­heit durch die Exis­tenz einer Anti­fa kon­sti­tu­iert wird. Das lässt sich auch dras­ti­scher for­mu­lie­ren: Dass aus­ge­rech­net in dem Land, in dem sich zehn­tau­sen­de von NS-Mör­dern nicht nur haben in Sicher­heit brin­gen kön­nen, son­dern auch den Auf­bau die­ses Gemein­we­sens in viel­fäl­ti­ger Art und Wei­se haben kon­struk­tiv mit­ge­stal­ten kön­nen, die Anti­fa staat­li­cher­seits stets und mas­siv kri­mi­na­li­siert wird, ist und bleibt – frei von jedem inter­es­sie­ren­den Nebel – ein anhal­ten­des Skan­da­lon ers­ter Güte.