713 Fälle rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen zählt die Beratungsstelle ezra aus Erfurt seit 2015. Das erklärten die Sprecher*innen Theresa Lauß und Franz Zobel bei einer Pressekonferenz Mitte März. Sie sprachen von einer zunehmenden Eskalation rassistischer Gewalt und von einem damit einhergehenden „Klima der Angst“.
Im letzten Jahr registrierte ezra 108 Vorfälle rechter Gewalt mit mindestens 155 Betroffenen. Diese Zahlen von 2019 beschreiben zwar einen leichten Rückgang im Vergleich zu 166 Taten im Vorjahr, sind aber — mit einer dokumentierten Gewalttat mit rassistischer Motivation fast jeden dritten Tag — dennoch erschreckend hoch. Dies sei mit dem generellen politischen Klima der letzten Jahre zu erklären — dem Wachstum von Bewegungen wie Pegida und einer Partei wie der AfD. So habe es seit 2015 rund 140 Angriffe jedes Jahr in Thüringen gegeben.
Fehlende Rechtsdurchsetzung bei rechter Gewalt
Franz Zobel sprach außerdem davon, dass durch diese dokumentierten Fälle nur „die Spitze des Eisbergs“ sichtbar werde. Man gehe von einer sehr hohen Dunkelziffer aus. Gerade im Kontext einer steigenden Legitimation rechter Ideologie in Thüringen und der damit einhergehenden Normalisierung rassistischer Beleidigungen und rechter Gewalt sei davon auszugehen, dass viele Gewalttaten gar nicht zur Anzeige gebracht würden. Bei den Betroffenen herrsche oftmals Resignation vor, da sie sich von der Polizei nicht ernst genommen fühlten und Anzeigen vermehrt ohne Konsequenzen für die Täter*innen endeten. Zudem begäben sich Betroffene durch die Erstattung einer Anzeige in das Risiko Repressionen seitens der Täter*innen ausgesetzt zu sein.
Die Durchsetzung des Rechts der Geschädigten in der Justiz sei bei rechter Gewalt nicht ausreichend und Verfahren teils sehr langwierig, ohne Ergebnisse zu erzielen oder mit nur milden Urteilen. So habe das Verfahren im Zuge eines bewaffneten Naziangriffs im Jahre 2013 auf alternative Jugendliche ganze sechs Jahre gedauert und sei dann eingestellt worden. Die rechte Motivation werde zudem in den Gerichten oft nicht genug thematisiert oder gänzlich in den Hintergrund gestellt.
Rassismus als häufigster Tatgrund
In Mühlhausen etwa ist im Februar vergangenen Jahres ein junger syrischer Mann durch einen 18-jährigen Deutschen zuerst rassistisch beleidigt und dann mit einem Klappmesser angegriffen worden. Der Mann habe den Angriff abwehren und dem Täter das Messer abnehmen können.
Im Oktober wurde in Obermehler aus einem Auto heraus aus auf eine Unterkunft für Geflüchtete mit einer Schreckschusspistole geschossen. Die Täter riefen rassistische Parolen. In der Unterkunft sei niemand verletzt worden, die Täter*innen blieben unbekannt. Diese Angriffe verdeutlichen beispielhaft die Brutalität der 55 Fälle von Nötigung und Körperverletzung mit rassistischer Motivation, die in Thüringen für das Jahr 2019 verzeichnet wurden. Denn das wichtigste Tatmotiv bei Gewalt in über 50 Prozent der Fälle sei Rassismus.
Viele weitere gewalttätige Angriffe hätten sich gegen politische Gegner*innen (44%) gerichtet. Besonders die organisierte Neonazi-Szene mit Gruppierungen wie der Kleinstpartei „Der Dritte Weg“ in Erfurt sei für Gewalttaten verantwortlich. Die restlichen verzeichneten Taten richteten sich gegen politische Verantwortungsträger*innen, hatten eine antisemitische Motivation oder wurden wegen der sexuellen Orientierung/Identität der Angegriffenen verübt.
Gesellschaftliche Krise, überall
Die Lage im Zusammenhang mit rechter und rassistischer Gewalt in Thüringen scheint der Situation in Berlin sehr zu ähneln: In beiden Regionen wird von zunehmender rassistischer Gewalt berichtet und einem politischen Klima, in dem diese Gewalt immer mehr normalisiert sei. Ein hohes Maß behördlicher Untätigkeit, häufig bis hin zu polizeilicher Kumpanei mit den Täter*innen und Formen der Impunität kennzeichnen diese Bestandsaufnahme. Deshalb drängen auch die Beratungsstellen in beiden Ländern darauf, die strukturelle Dimension von Rassismus wahrzunehmen und Taten wie Hanau und Halle nicht am „Rande der Gesellschaft“ zu verorten. Zobel sprach von einer „schwerwiegenden Krise der Demokratie und Menschenrechte“ und dem Bedarf einer parteiübergreifenden Allianz zur Durchsetzung von Forderungen.
Vor allem in den aktuellen Zeiten der Ausbreitung von COVID-19 sei es wichtig, sich gegen rechte Gewalt einzusetzen. Denn besonders das aktuell herrschende allgemeine Klima der Verunsicherheit könne wie eine Legitimierung von Rassismus wahrgenommen werden. Es komme unter anderem zu Beleidigungen asiatischer Menschen und antisemitische Verschwörungstheorien machten die Runde. In Thüringen sei es bereits zu vermehrt zu rassistischen Anfeindungen im Netz etwa gegen eine Unterkunft von Geflüchteten in Suhl gekommen, in der ein Fall einer Corona-Infizierung aufgetreten sei. Das Vorgehen der Polizei und der Einsatz der Bundeswehr bei Unruhen rund um die Suhler Unterkunft auf bitten der Landesregierung haben erheblich zur Eskalation auch der Wahrnehmung im Internet beigetragen.
Franz Zobel appelliert an die Verantwortung eines jeden einzelnen und die Politik, für eine Gesellschaft der Solidarität einzutreten: Gegen rechte und rassistische Gewalt, vor allem in den Zeiten einer Pandemie.
Aktuelle Ergänzung: Pressemitteilung von ezra vom 20. März 2020
Nach rassistischem Vorfall in Rudolstadt-Schwarza: ezra warnt vor weiterer Eskalation von Rassismus im Zusammenhang mit COVID-19
Wie am Freitag bekannt wurde, kam es im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt zu einem rassistischen Vorfall in Rudolstadt-Schwarza (Pressemitteilung, Haskala vom 20.03.20). Junge, engagierte Menschen unterstützten die hiesige Ausgabestelle der Tafel, da es dort aufgrund von Personalmangel zu Engpässen bei der Ausgabe kam. Sie sahen sich mit beleidigenden und diskriminierenden rassistischen Äußerungen konfrontiert, zu denen sie Stellung bezogen und die Unterstützung kurzfristig abbrachen. Hierzu erklärt Franziska Schestak-Haase, Beraterin bei ezra, der Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen: „Dieser Vorfall zeigt, dass mit der aktuellen Entwicklung rund um COVID-19 die Gefahr einer weiteren Eskalation von Rassismus einhergeht. Rassistische Stereotype und Zuschreibungen äußern sich beispielsweise wie in diesem Fall gegen Menschen, die als ‚fremd‘ markiert werden. Das hat auch die massive rechte Hetze im Internet gezeigt, die es bei einem COVID-19-Infektionsfall in der Landeserstaufnahmeeinrichtung Suhl gab.“ Dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt, bestätigt ein Artikel der studentischen Hochschulzeitschrift „Akrützel“ aus Jena. Unter dem Titel „Corona ist nicht kulturunterscheidend“ berichtet eine Betroffene von rassistischen Anfeindungen und einem Angriffsversuch. Anti-asiatischer Rassismus erfährt in Deutschland mit COVID-19 eine für Betroffene gefährliche Aktualität.
„Als spezifische Opferberatungsstelle fordern wir eine parteiübergreifende Allianz aus Politik, Behörden und Gesellschaft, die gerade in Zeiten der COVID-19-Pandemie konkrete Maßnahmen ergreift. Alle Menschen sind in diesen Zeiten auf ein solidarisches Miteinander angewiesen, welches Unterstützung in Notlagen beinhaltet. Der Normalisierung von Rassismus darf kein Raum gegeben werden, denn in der Konsequenz führt dies ebenso zu einer Normalisierung rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Wir bedanken uns bei den jungen, engagierten Menschen für ihr konkretes Unterstützungsangebot und verurteilen das Verhalten der Tafel in Rudolstadt-Schwarza auf das Schärfste“, verdeutlicht die für den Landkreis zuständige Beraterin Schestak-Haase abschließend.
Jugend- und Wahlkreisbüro Haskala, Katharina König-Preuss, Pressemitteilung 20.03.20: https://www.die-linke-thl.de/nc/presse/pressemitteilungen/detail/news/nach-rassistischem-vorfall-haskala-bricht-unterstuetzung-fuer-tafel-in-rudolstadt-schwarza-ab/
Akrützel, Robert Gruhne, 19.03.20: https://www.akruetzel.de/2020/03/19/corona-rassismus/