Bevor die Beweisaufnahme geschlossen wird, hört das Gericht noch die Einschätzung der „Jugendhilfe im Strafverfahren Dresden“ (früher: Jugendgerichtshilfe). Der Mitarbeiter empfiehlt, das Jugendstrafrecht auf den Angeklagten anzuwenden. Die Staatsanwaltschaft folgt dieser Einschätzung in ihrem anschließenden Plädoyer jedoch nicht. Sie plädiert auf lebenslange Haft mit Sicherheitsverwahrung nach allgemeinem Strafrecht wegen Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung. Weiterhin sei eine therapeutische Betreuung angebracht.
Am siebten Prozesstag, dem 6. Mai, führt der Vorsitzende Richter zunächst Dokumente aus dem Selbstleseverfahren ein. Anschließend werden Lichtbilder in Augenschein genommen, die den Angeklagten Al‑H. bei zwei Straßenbahnfahrten zeigen. Außerdem wird ein Gutachten vorgestellt, das bestätigt, dass die beiden Tatwaffen dem Messerset der Warenkette Woolworth entsprechen.
Jugendgerichtshilfe für Jugendstrafrecht
Nach diesen Punkten folgt eine Einschätzung der Jugendgerichtshilfe, vertreten durch Bertold S., bezüglich der Frage, ob der Angeklagte nach Jugend- oder allgemeinem Strafrecht zu verurteilen sei. S. betont zunächst, wie intensiv die Vorbereitung gewesen sei und dass sein Berufsethos es nicht zuließe, dem Gericht einfach ein unkommentiertes Gutachten zukommen zu lassen. Er entschuldigt sich bereits im Vorhinein, nur über den Täter zu sprechen. Dies sei dem täterorientierten Charakter der Jugendgerichtshilfe geschuldet, bedeute jedoch nicht, dass er nicht empathisch mit den Betroffenen der Tat sei.
Er sei der „Fallführende“ bei Al‑H. und sehe sich vor allem als Ansprechperson, die Maßnahmen einleite und koordiniere. Mit Abdullah, wie er ihn zumeist nennt, habe er ab 2017 etwa 15 Gespräche geführt, allesamt in Haft in Dresden und Regis-Breitingen, weshalb er nicht – wie sonst üblich – Gespräche mit dem Umfeld des Angeklagten habe führen können. Er selbst sei weder politisch noch religiös geschult, um Al‑H. zu konfrontieren oder zu deradikalisieren. Er habe in Erinnerung, dass Al‑H. oft Kopfschmerzen gehabt und nach Hause gewollt habe, was jedoch dem Auftrag seiner Mutter, „bleibe hier, hier geht’s dir gut, hier wird sich um dich gekümmert“, widersprochen habe. Diesbezüglich habe S. ein Zitat “ganz interessant” gefunden, indem es hieß, Al‑H.s Radikalisierung sei aus einem narzisstischen Konflikt zwischen Erstgeborenem-Privileg und Minderwertigkeitskomplex heraus erfolgt.
Leygraf hatte sich an ein Konzept mit 10 Kriterien aus dem Jahr 1992 orientiert, welches S. aufgrund von Al‑H.s Migrationsgeschichte nicht für anwendbar hält. Seinem Eindruck nach habe der Angeklagte sich aufgrund seiner einseitigen Beschäftigung mit Religion nicht weiterentwickeln können. Er sei mit sich nicht im Reinen, habe Angst und sei unsicher. Nach S. stelle dies “in keinster Weise” den Entwicklungsstand eines Erwachsenen dar. Er halte weiterhin eine anschließende Sicherheitsverwahrung für notwendig und betont, dass Al‑H. durch eine Verurteilung nach Jugendstrafrecht keinerlei Vorteile hätte.
Angriff auf die freiheitliche Gesellschaft
Daraufhin schließt der Vorsitzende Richter die Beweisaufnahme und nach einer Pause folgt das Plädoyer der Staatsanwaltschaft: Staatsanwalt Croissant zufolge bestehe kein Zweifel daran, dass der Angeklagte die Geschädigten mit Messern angegriffen habe. Die Tat habe über viele Menschen großes Leid gebracht. So sei der überlebende L. zwar körperlich fast vollständig genesen, er trage jedoch seelische Verletzungen davon, was auch für Zeug:innen und Beamte, die vor Ort waren, gelte. Al‑H. habe aus radikal-islamistischen und homophoben Motiven gehandelt, als er aus seiner Sicht zwei Repräsentanten der freiheitlichen Gesellschaftsordnung attackierte. Er habe “unser Zusammenleben” angegriffen, welches davon geprägt sei, “dass wir unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung und all den anderen großen und kleinen Unterschieden die Gesellschaft vielfältig und bunt machen.” Daher, und da die Betroffenen nur zufällig Opfer des Angeklagten geworden seien – es also jeden hätte treffen können — sei die Tat ein “Angriff auf uns alle”. Somit handele es sich nicht um ein gewöhnliches Delikt, sondern habe sich gegen die freie und demokratische Gesellschaft gewandt.
Staatsanwalt Mayer fasst anschließend die Biographie des Angeklagten zusammen und zählt im Zuge dessen auch seine Vorstrafen auf. Als der Angeklagte im September 2020 aus der Haft entlassen worden sei, sei er in seiner Überzeugung gefestigt gewesen, einen tödlichen Anschlag begehen zu wollen. Am 4. Oktober habe er dann intensiver darüber nachgedacht, welche “Operation” er einleiten wolle, sich mit Vers 190 der 2. Sure des Korans beschäftigt und sei zu dem Schluss gekommen, “dass überall dort ein Kampfgebiet sei, wo Allahs Gebote nicht eingehalten werden.” Noch in seiner Wohnung habe er ein Fürbittengebet gesprochen, dass sein Anschlag gelingen möge und er danach nach Syrien zurückkehren könne. Anschließend rekonstruiert Mayer noch einmal detailliert das Tatgeschehen.
Leben dem Dschihad gewidmet…
Die Staatsanwaltschaft folgt den Einschätzungen des psychiatrischen Gutachters. Demnach habe sich der Angeklagte u.a. über das Internet radikalisiert, er sei “beständig und fast hysterisch” auf der Suche nach Inhalten und “gewissermaßen süchtig nach Religion” gewesen. Er habe wissen wollen, “warum es den Leuten hier gut und in Syrien schlecht geht.” Weiterhin sei ihm ein Anschlag als leichter Weg erschienen, ins Paradies zu gelangen. Der Sachverständige Steinberg habe darüber hinaus festgestellt, dass Al‑H. sich bereits im November 2016 radikalisiert hatte und bescheinigte ihm entgegen anderen Stimmen in diesem Prozess eine für seinen Bildungsstand “erstaunlich breit gefächerte Kenntnis der dschihadistischen Ideologie”.
Laut Staatsanwalt Croissant sei es eine Tat aus niedrigen Beweggründen. Der Angeklagte habe sich gegen die westliche Gesellschaft und eine ihm verhasste sexuelle Orientierung gewandt. In Tateinheit habe er sich vollendeten Mord, versuchten Mord und gefährliche Körperverletzung in einem engen zeitlichen Zusammenhang zuschulden kommen lassen. Dabei sei er uneingeschränkt schuldfähig und nicht nach Jugendstrafrecht zu verurteilen. Dafür spreche etwa, dass er seine radikal-islamistischen Ansichten verfestigt habe und in seinen Überzeugungen standhaft geblieben sei. Er habe sein Leben am Ziel des Dschihad ausgerichtet und die Entscheidung getroffen, nur dafür zu leben. Zwar habe er Angebote, auch andere Sichtweisen zu hören, teilgenommen, sein Kooperationswille sei jedoch vorgetäuscht gewesen. Es ließe sich keine Veränderung in seinen Überzeugungen feststellen, weshalb wohl davon auszugehen sei, dass er nach einer Haftentlassung erneut eine vergleichbar schwere Straftat begehen würde. Schließlich habe er nach seiner Tat bereits Überlegungen angestellt, wie er bei einer nächsten Tat vorgehen würde (Absprache mit anderen IS-Mitgliedern) und sei bei seiner Verhaftung erneut mit einem großen Messer im Rucksack angetroffen worden.
… und weiter gefährlich
Die Schuld des Angeklagten wiege somit besonders schwer. Sein Verhalten füge sich ein in eine Reihe von Anschlägen in Europa ein. Er habe beabsichtigt, einen Nachahmungseffekt auszulösen und sei weiterhin gefährlich für die Allgemeinheit. Daher beantrage er eine lebenslange Strafe nebst Sicherheitsverwahrung, wobei eine therapeutische Betreuung in jedem Fall erfolgen solle.