Tag 6 in Dresden: Warum keine Überwachung des Gefährders?

Sechs­ter Pro­zess­tag im Ver­fah­ren gegen den Isla­mis­ten Abdul­lah Al‑H., der am 4. Okto­ber 2020 zwei Män­ner aus schwu­len­feind­li­chen Moti­ven ange­grif­fen und einen der bei­den dabei töd­lich ver­letz­te, den ande­ren schwer. Gela­den waren eine Zeu­gin vom LKA Sach­sen und zwei Zeug:innen vom BKA. Außer­dem ging aus der wei­te­ren Beweis­auf­nah­me her­vor, dass Al‑H. am 6. Novem­ber letz­ten Jah­res zum wie­der­hol­ten Mal Wär­ter der JVA Dres­den ange­grif­fen und dabei erneut sei­ne isla­mis­ti­sche Über­zeu­gung zum Aus­druck gebracht habe, indem er Jus­tiz­be­am­te mit dem Tod bedroh­te und dabei den Tak­bīr aus­rief.

Die ers­te Zeu­gin ist die Regie­rungs­ober­rä­tin Chris­tia­ne M. vom LKA. Die aus­ge­bil­de­te Islam­wis­sen­schaft­le­rin war seit 2019 dafür zustän­dig, die Über­wa­chungs­maß­nah­men gegen­über dem Ange­klag­ten zu koor­di­nie­ren. In dem Zusam­men­hang fan­den auch ver­schie­de­ne Fall­kon­fe­ren­zen statt, in denen es um die Fra­ge ging, ob Al‑H. als Gefähr­der ein­zu­stu­fen und ob nach sei­ner Haft­ent­las­sung davon aus­zu­ge­hen sei, dass von ihm wei­ter­hin eine Gefahr aus­ging. Die Zeu­gin bejaht bei­de Punk­te klar, wobei sie wegen einer ein­ge­schränk­ten Aus­sa­ge­ge­neh­mi­gung nicht auf nähe­re Details ein­ge­hen kann.

Nur winzige Minderheit folgt dem IS

Den­noch waren ihre Aus­sa­gen und die Inter­ak­ti­on mit dem Rich­ter inter­es­sant: Ins­ge­samt kann fest­ge­stellt wer­den, dass der Vor­sit­zen­de Rich­ter nicht nur sei­ne füh­ren­de Rol­le im Ver­fah­ren ein­nimmt, son­dern dar­über hin­aus anschei­nend auch einen demo­kra­ti­schen Auf­klä­rungs­an­spruch ver­tre­ten möch­te. Mehr­fach wie­der­hol­te er im Ver­fah­ren bereits, dass die Aus­le­gung des Islam durch den Isla­mi­schen Staat (IS) im Beson­de­ren und durch Sala­fis­tIn­nen im All­ge­mei­nen nur von einer ver­schwin­den­den Min­der­heit der Muslim:innen ver­tre­ten wer­de. Die meis­ten Muslim:innen stün­den die­ser Ideo­lo­gie nicht nahe, sag­te er und unter­strich auch, dass es kei­nes­wegs Aus­druck einer isla­mis­ti­schen Ideo­lo­gie sei, sich an Gebets­zei­ten zu hal­ten und sich inten­siv mit dem Glau­ben aus­ein­an­der zu setzen.

Der Rich­ter fragt die Zeu­gin M., ob sie für alle Phä­no­men­be­rei­che des Extre­mis­mus – Rechts­extre­mis­mus, Isla­mis­mus „und – so es sie den gäbe – Links­extre­mis­ten“ – zustän­dig ist. M. bejaht die Fra­ge, wor­aus sich zumin­dest die The­se ablei­ten lie­ße, dass es in Sach­sen aktu­ell kei­ne Lin­ken gibt, die als Gefähr­der geführt wer­den. Die Justizvollzugsbeamt:innen im Saal, die sich in den vor­he­ri­gen Pro­zess­ta­gen bereits durch abfäl­li­ge Kom­men­ta­re über Lin­ke vor Ort und ras­sis­ti­sche Äuße­run­gen bemerk­bar gemacht hat­ten, wir­ken demons­tra­tiv belus­tigt über die Aus­sa­ge. In Anbe­tracht jüngs­ter Ent­hül­lun­gen über rechts­extre­me Ange­stell­te der JVA Dres­den, zu dem der Gerichts­saal eine direk­te unter­ir­di­sche Ver­bin­dung hat, wenig überraschend.

In der Befra­gung der Zeu­gin M. geht es neben den Auf­ga­ben, die das all­ge­mei­ne Refe­rat Sach­ge­biet 3 hat, auch um die psy­cho­lo­gi­sche und sozia­le Betreu­ung des Ange­klag­ten. Neben der Psy­cho­lo­gin kommt auch das Vio­lence Pre­ven­ti­on Net­work wie­der zur Spra­che. Das VPN sei eng­ma­schig in den Fall ver­floch­ten gewe­sen und sie habe in einem regel­mä­ßi­gen Aus­tausch mit dem Dera­di­ka­li­sie­rungs­netz­werk gestan­den – ein mög­li­cher Hin­weis dar­auf, dass auch die Kom­mu­ni­ka­ti­on und Koor­di­na­ti­on inner­halb des VPN alles ande­re als rei­bungs­los ver­lau­fen ist. M. bestä­tigt auf Nach­fra­ge des Rich­ters, dass es der his­to­risch „ers­te hoch­ka­rä­ti­ge Fall“ in Sach­sen war, in dem VPN invol­viert war. Zum Ange­klag­ten selbst hat­te die LKA-Beam­tin direk­ten Kontakt.

Kein Wissen über theologische Debatten

In Gesprä­chen habe sie sei­nen Grad der Radi­ka­li­sie­rung sel­ber erfah­ren, auch wenn sie ihn, ähn­lich wie das VPN als einen inter­es­sier­ten, höf­li­chen und offe­nen Men­schen erlebt hät­te. Dass er in den Gesprä­chen die gan­ze Zeit gleich freund­lich gelä­chelt hat­te, wirk­te auf sie aller­dings wenig „authen­tisch“. In ihren Gesprä­chen mit Al‑H. war es auch um reli­giö­se Inhal­te gegan­gen. Als Islam­wis­sen­schaft­le­rin stell­te sie fest, dass sich der Ange­klag­te zwar inten­siv mit den Vor­schrif­ten des IS beschäf­tigt hat­te, aber dar­über hin­aus kein tie­fe­res Wis­sen über die theo­lo­gi­schen Debat­ten habe, die in isla­mi­schen Gemein­den geführt wür­den. Sie habe mehr­fach ver­sucht, ihm eine ande­re Les­art des Islams, in der der barm­her­zi­ge Gott prä­sent ist, nahezubringen.

Im abschlie­ßen­den Teil der Befra­gung geht es um die Fra­ge, wel­che Maß­nah­men für die Zeit nach der Haft­ent­las­sung im Sep­tem­ber 2020 dis­ku­tiert wur­den. So sei es auch um die Fra­ge nach einer mög­li­chen Abschie­bung gegan­gen. Dies sei nach Syri­en nicht mög­lich gewe­sen, betont die LKA-Beam­tin. Es wider­spricht unse­ren Ver­fas­sungs­wer­ten und Grund­über­zeu­gun­gen, kom­men­tiert der Rich­ter, einen Men­schen in ein Land abzu­schie­ben, wo ihn der Tod erwar­te. Unab­hän­gig von der Über­zeu­gung des Abzu­schie­ben­den. Auch eine „frei­wil­li­ge Aus­rei­se“ habe laut M. im Raum gestan­den. Nach­dem Al‑H. zunächst zuge­stimmt hat­te, änder­te er sei­ne Mei­nung wie­der. Die Aus­rei­se hät­te auch über ein Tran­sit­land erfol­gen kön­nen, wo er dann „zwi­schen­durch“ hät­te „aus­stei­gen kön­nen“. Hier­für waren Ägyp­ten und Marok­ko im Gespräch.

Einseitige religiöse Bildung

Die Staats­an­walt­schaft fragt die Zeu­gin, ob es nicht fol­ge­rich­tig wäre, von einer ein­sei­ti­gen reli­giö­sen Bil­dung statt einer gerin­gen reli­giö­sen Bil­dung zu spre­chen. M. bejaht die Ein­schät­zung wei­test­ge­hend und wie­der­holt, ihm sei­en über­wie­gend dschi­ha­dis­ti­sche Aus­le­gun­gen bekannt.

In der wei­te­ren Befra­gung mel­det sich die Neben­kla­ge zu Wort, was bis­her sei­ten geschah. Rechts­an­walt Kle­fenz will noch ein­mal genau wis­sen, wie die Über­wa­chungs­maß­nah­men für die Zeit nach der Haft aus­sa­hen. Dar­auf will die Zeu­gin mit Ver­weis auf ihre Aus­sa­ge­ge­neh­mi­gung nicht ein­ge­hen. Weder hier – noch in der Sequenz zuvor – wur­de sei­tens des Gerichts geprüft, war­um die Zeu­gin nur ein­ge­schränkt aus­sa­gen darf. Ver­tei­di­ger Holl­stein ver­sucht anschlie­ßend erneut, die Rol­le von Frau­en in der Bera­tungs- und Über­wa­chungs­ar­beit zu dele­gi­ti­mie­ren und pocht dar­auf, dass durch­aus auch ein Mann mit ihm hät­te reden kön­nen, etwa ein Imam – ein “Pro­fi” – eine reli­giö­se Auto­ri­tät, die der Ange­klag­te anerkenne.

Die zwei­te Zeu­gin an die­sem 6. Ver­hand­lungs­tag ist Lau­ra J., Ober­kom­mis­sa­rin beim Bun­des­kri­mi­nal­amt und ver­ant­wort­lich für die Aus­wer­tung der Han­dy­da­ten. Ihre Auf­ga­be war es, die Daten zu sichern, ihre Quel­len und Meta­da­ten zu regis­trie­ren und die für die wei­te­re Ein­schät­zung rele­van­ten Daten an den Islam­wis­sen­schaft­ler Dr. Ali S. beim BKA weiterzuleiten.

Hassprediger auf dem Handy

Der als letz­ter Zeu­ge des Tages gela­de­ne Dr. S. wer­te­te die zur Ver­fü­gung gestell­ten Daten aus islam­wis­sen­schaft­li­cher Per­spek­ti­ve aus . In sei­ner Befra­gung stellt er die isla­mis­ti­schen Bezü­ge des Ange­klag­ten her­aus. Von beson­de­rer Bedeu­tung sei dabei, dass neben Pro­pa­gan­da­ma­te­ri­al des IS auch ein sala­fis­tisch-waha­bi­ti­scher Pre­di­ger namens Kha­led al-Ras­hed für den Ange­klag­ten eine wich­ti­ge Rol­le gespielt habe. Wie­der­holt habe er Pre­dig­ten von al-Ras­hed gehört, des­sen Wer­ke in Deutsch­land indi­ziert sind, weil dar­in Gewalt gegen Frau­en legi­ti­miert wird.

Bereits mit dem 6. Ver­hand­lungs­tag ist die Beweis­auf­nah­me im Ver­fah­ren wei­test­ge­hend abge­schlos­sen. Am fol­gen­den Pro­zess­tag am 6. Mai soll noch das Gut­ach­ten der Jugend­ge­richts­hil­fe ein­ge­führt wer­den, dann beginnt die Bun­des­an­walt­schaft mit ihrem Plädoyer.