
Am achten und damit vorletzten Prozesstag gegen den Islamisten Abdullah Al‑H. halten die Anwälte der Nebenklage sowie die Verteidigung ihre Plädoyers. Beide schließen sich grundsätzlich den Strafforderungen der Staatsanwaltschaft an. Die Nebenklage kritisiert die mangelnde Aufklärung in Bezug auf die Möglichkeit, dass die Tat hätte verhindert werden können. Der Verteidiger setzt sich für eine Verurteilung nach Jugendstrafrecht ein.
An diesem Mittwoch findet sich dafür, dass die Abschlussplädoyers in diesem Prozess gehalten werden, nur recht wenig Publikum im Oberlandesgericht in Dresden ein. Ein Kameramann filmt, wie Al‑H. hereingeführt wird, schwenkt noch kurz auf den Vorsitzenden Richter, dann beginnt der achte Prozesstag. Diesen eröffnet der Vorsitzende Richter mit dem Hinweis an den Angeklagten, dass dieser sich bei der Urteilsverkündung am nächsten Prozesstag zu erheben habe, selbst wenn er das Gericht nicht anerkennen möge. Es handele sich dabei um eine Frage des Respekts, in der Türkei oder Syrien würde er dies schließlich auch tun.
Gefährlichkeit den Behörden bekannt
Der Nebenklageanwalt Klein geht in seinem Plädoyer auf die Perspektive seines Mandanten Oliver L. ein, der den Anschlag überlebt hatte. Der 4. Oktober 2020 habe sein Leben für immer verändert und körperliche sowie vor allem seelische Verletzungen hinterlassen. Klein betont noch einmal, dass L. nur durch einen „äußerst günstigen Umstand“ überlebt hat. Sein Sicherheitsempfinden sei heute empfindlich gestört und er sei nach dem Tod seines Lebenspartners „tief getroffen“ und „untröstlich“. Zu seiner sexuellen Orientierung habe sich Oliver L. zunächst öffentlich nicht äußern wollen, da ihn einerseits die Trauerbewältigung beschäftigte. Andererseits habe er Sorge gehabt, dass sich, wenn seine sexuelle Orientierung im Vordergrund steht, eine Vielzahl an Menschen nicht damit identifizieren kann, obwohl er die Tat als eine empfand, die jeden hätte treffen können. Zudem habe es eine augenscheinliche Tragik, dass die Tat möglicherweise hätte verhindert werden können, denn schließlich plante der Angeklagte während der gesamten Dauer seiner Inhaftierung einen Anschlag. Seine Gefährlichkeit sei den Behörden bekannt gewesen. Da die eingeschränkte Aussagegenehmigung der LKA-Beamtin ihr bei ihrer Aussage am sechsten Prozesstag untersagte, detaillierter über die polizeilichen Maßnahmen zu Al‑H.s Überwachung nach seiner Haftentlassung zu sprechen, beispielsweise ob diese den Einsatz von V‑Leuten umfasste. Für L. bleibe ein Beigeschmack, da nicht alles, was mit der Tat am 4. Oktober zusammenhängt, aufgeklärt worden sei.
Die Tat sei dem Angeklagten aber ohne verbleibenden Zweifel zuzuschreiben, weshalb er sich den Forderungen der Bundesanwaltschaft nach einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung anschließe.
Bürgerin der abgelehnten Gesellschaft
Auch Klefenz, Nebenklageanwalt der Schwester von Thomas L., stimmt der Bundesanwaltschaft zu und spricht dann über die Gründe der Schwester, sich dem Verfahren anzuschließen. Sie und ihre Familie hätten einen unvorstellbaren Schock erlitten, dessen Folgen selbstverständlich anhalten und möglicherweise niemals vergehen werden. Sie sei jedoch nicht durch ein „Sühne-Verlangen“ motiviert gewesen, sondern wollte vor allem sachlich über das Verfahren informiert werden, ohne auf die öffentliche Berichterstattung angewiesen zu sein. Des Weiteren sei für sie und die Familie die Zusicherung, dass der Täter zukünftig nicht mehr in der Lage sein wird, seine religiös motivierten Taten umzusetzen und anderen Menschen dasselbe Leid zuzufügen, besonders wichtig. Zumal er gegenüber dem Gutachter Professor Leygraf bekräftigt hatte, weitere Anschläge verüben zu wollen. Die Justiz müsse sicherstellen, dass das nicht mehr passiere. Das Gericht habe die Frage, ob der Anschlag hätte verhindert werden können, jedoch offengelassen, da darauf verzichtet wurde, dies in der Beweisaufnahme vertieft zu klären. Der Angeklagte habe Thomas L. aus einer „radikal-islamistischen Gesinnung“ heraus, stellvertretend für alle Bürger:innen einer von ihm abgelehnten Gesellschaft getötet. Er sei uneingeschränkt schuldfähig, die besondere Schwere der Schuld sei festzustellen und für die Angehörigen L.s sei es besonders wichtig, dass die anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet werde.
Kurzer Weg ins Paradies
Für die Verteidigung verdeutlichte Rechtsanwalt Hollstein zunächst, dass der Angeklagte selbstverständlich mit einer Höchststrafe zu rechnen habe, da er die Tötung eines „wildfremden Menschen“ eingeräumt habe und weiterhin Leben gefährde. Dennoch möchte Hollstein betonen, dass die Tat sich von anderen terroristischen Anschlägen wie beispielsweise in Nizza und Paris unterscheide: Sein Mandant sei in keine IS-Struktur eingebettet gewesen und auch nicht vom IS ausgebildet worden. Er habe alleine und zu seinem Vorteil – den „kurzen Weg ins Paradies“ zu nehmen – gehandelt. Man habe es daher mit einem Einzeltäter zu tun, der seinem Gott beweisen wollte, dass er des Paradieses würdig sei und Angst vor dem Höllenfeuer im Jenseits gehabt habe. Selbstverständlich rücke dies die Tat für die Betroffenen nicht in ein anderes Licht, dennoch könne er Leygraf nicht zustimmen, sondern man müsse in jenem Fall das Jugendstrafrecht aufgrund des Erziehungsgedankens anwenden. Al‑H. habe die Zeit seiner Nachreife in staatlicher Obhut verbracht, deren Deradikalisierungsmaßnahmen nicht gut umgesetzt worden seien. So müsse er feststellen, dass schlussendlich dem Dolmetscher die Verantwortung für die religiöse Diskussion übertragen wurde. Außerdem sei sein Mandant entgegen eines Erziehungsgedankens sieben Monate isoliert worden und habe sich so aus sich selbst heraus radikalisiert. Sein Hass auf die Gesellschaft entspreche eher einem jugendlichen „Trotzgedanken“. Dass er den Mord gegenüber Leygraf detailliert beschrieben hatte, sei daher auch darauf zurückzuführen, dass er sein gesamtes Denken und Handeln nicht durchschaue, sondern sich lediglich etwas von der Seele reden wollte. Endlich hätte er einen älteren Mann vor sich gehabt, den er akzeptierte. Mit einer jungen Frau wäre dieses Gespräch sicher nicht zustande gekommen – er sei in Haft jedoch vornehmlich von (jungen) Frauen betreut worden, was Hollstein zu dem Fazit veranlasst, dass man viel mehr hätte tun können. In der Gesamtschau beantrage er das gleiche rechtliche Urteil wie die Bundesanwaltschaft, man müsse allerdings das Jugendstrafrecht anwenden, um neu anzusetzen, besser zu arbeiten und dadurch „bessere Ergebnisse“ zu erzielen.
Am Ende des Verhandlungstages dürfe sich nun noch der Angeklagte äußern, so der Vorsitzende Richter. Akustisch nur schwer verständlich übersetzt der Dolmetscher ohne Mikrofon, dass dem Angeklagten egal sei, was das Gericht sage, da er sich nur vor Gott und dessen Urteil verantworten müsse.
Die Urteilsverkündung folgt am 21. Mai 2021 um 10 Uhr.