Der fünfte Verhandlungstag im Verfahren gegen den Islamisten Abdullah Al‑H. ist der 26. Arpil 2021 und läuft für das Violence Prevention Network (VPN) nicht gut. Neben Mängeln im Ansatz des Netzwerks, die bereits an den vorherigen Tagen thematisiert wurden, tritt nun auch der Kompetenzstreit zwischen Gefängnispsychologin und VPN-Mitarbeiter:innen zutage. Der Schwerpunkt des Tages liegt jedoch auf dem Gutachten des forensischen Psychiaters Norbert Leygraf, der darin auch Kritik übt, aber im Wesentlichen noch einmal seine am ersten Tag präsentierten Ausführungen bestätigt.
Als Zeugin des VPN ist zunächst Frances R. geladen – eine Islamwissenschaftlerin, die ehemals in Leipzig, nun in Frankfurt am Main für das Violence Prevention Network arbeitet. Mittlerweile ist R. für die Deradikalisierung von islamistischen Rückkehrerinnen zuständig. Da sie unter den Mitarbeiter:innen am meisten Erfahrung und Vorbildung aufwies, war sie zum dritten Gespräch mit Al‑H. dazu gekommen. Inhaltlich trägt sie vor Gericht allerdings wenig Neues bei: Auch sie berichtet, dass Al‑H. freundlich, offen und zugewandt war. In Diskussionen über verschiedene Auslegungen des islamischen Glaubens habe er zugehört und interessiert gewirkt. R. betont ebenfalls erneut, dass der Angeklagte ein unzureichendes Verständnis der theologischen Debatten in islamischen Gemeinden gehabt hätte. Wie die anderen VPN-Mitarbeiter:innen beschreibt auch sie das Vorgehen des VPN als unvoreingenommen und zunächst auf Vertrauensbildung abhebend. Interessant ist jedoch die Aussage, dass die Psychologin die Arbeit des VPN für überflüssig gehalten habe. Dadurch sei der Informationsaustausch nicht optimal gewesen, verschlimmert worden sei er weiterhin durch häufige Personalwechsel im Team des VPN, welche immer wieder zu Bindungsabbrüchen geführt hätten.
Defizite in der psychologischen Betreuung
Kritik sowohl an dem VPN als auch der Psychologin wird anschließend vor allem von vom Gericht bestellten psychiatrischen Gutachter, Prof. Dr. Norbert Leygraf, geäußert, der in seinem Gutachten zunächst ausführt, dass der Angeklagte keine psychiatrischen Auffälligkeiten aufweise. Außerdem empfehle er Al‑H. nach allgemeinem Strafrecht zu verurteilen sowie, wenn es zur Verurteilung komme, dies unter Vorbehalt einer Sicherungsverwahrung zu tun. Von Al‑H. gehe nach wie vor eine erhebliche Gefahr aus. Er zeige keinerlei Reue, sei nach wie vor einer islamistischen Ideologie verhaftet und zu vergleichbaren Taten bereit. Seine dann vorgestellte Kritik an der Arbeit der Gefängnispsychologin bezieht sich auf zwei Bereiche: Zum einen die angewandten Methoden, zum anderen entscheidende Auslassungen, die auch vom VPN nicht hinreichend in den Blick genommen worden seien.
Was die Methoden betrifft bemängelt Leygraf, dass die Psychologin zur Ermittlung der Handlungsintelligenz des Gefangenen den sogenannten WIE-Test angewendet hatte, der aus seiner Sicht nicht als allgemeine Folie dienen könne. Es müssten kulturelle Besonderheiten berücksichtigt werden: Wenn etwa Kinder und Jugendliche ohne Puzzle aufgewachsen seien, könnten sie leicht von den im Test gestellten Aufgaben überfordert werden. Hierbei greift Leygraf auf ein umstrittenes Konzept der Kulturkreise zurück, das bereits bei den Ermittlungen zum NSU-Komplex von Gutachter:innen angewandt worden sei. Die Kritik am Konzept richtet sich dagegen, dass Kultur darin als etwas Homogenes und Statisches gedacht wird. Aus Sicht Leygrafs sei lediglich der sogenannte Matrizentest aussagekräftig, in dem der Angeklagte gut abgeschnitten habe, weshalb er die Diagnose der Psychologin von einem wenig entwickelten Intellekt Al‑H.s zurückweist. Für ihn sei dies nicht nachvollziehbar; er diagnostiziert ihn als durchschnittlich intelligent.
Sexualängste unhinterfragt
Ebenfalls kritisch merkt Leygraf an, dass sowohl die Psychologin als auch die Mitarbeiter:innen des VPN das „Kernthema vollkommen ausgelassen“ hätten: Die Sexualmoral des Angeklagten und die daraus resultierenden neurotischen Ängste. Immer wieder habe er in den Gesprächen eine plastische Angst vor seinen inneren Dämonen beschrieben, von schlechtem Gewissen und der Angst zu sündigen, wenn er sich selbst befriedigt habe oder Frauen angeschaut habe. Dass weder VPN noch die Psychologin hierauf näher eingegangen waren, deutet Leygraf in seinem Gutachten als Versäumnis, das in der zukünftigen Arbeit mit Al‑H. aufgeholt werden müsse. Darauf entgegnet der Richter, dass dies schwerlich Aufgabe des VPN sein könne und in der Therapie auch Gegenstand zukünftiger Auseinandersetzung werden sollte, dass nur diese Ebene noch nicht erreicht worden sei. Auch zweifelt der Richter an, dass Al‑H. der Psychologin gegenüber darüber gesprochen hätte. Sie hatte vor Gericht ausgesagt, den Eindruck zu haben, als Frau nicht in der Rolle zu sein, dies zu thematisieren.
Leygraf stimmt diesem Einwand vonseiten des Richters zu und legt dem Gericht nahe, dass Al‑H. im Falle einer Verurteilung in langjähriger therapeutischer Betreuung begleitet werden müsse. Er hält dafür einen Zeitraum von etwa sechs Jahren für nötig und verweist darauf, in Anbetracht der Sexualmoral Al‑H.s, die Betreuung durch einen Mann in Erwägung zu ziehen. In der Folge sprechen Bundesanwaltschaft, Leygraf und der Vorsitzende Richter Schlüter-Staats über die Bedingungen einer möglichen Verurteilung, Sicherungsverwahrung, therapeutischen Begleitung und über Deradikalisierungschancen. Leygraf betont, dass es beim Angeklagten einigen therapeutischen Erfolg geben könne, auch wenn es viel Zeit und Energie kosten werde, ihn „auf den richtigen Weg zu bringen“.
Jugendliches Ungestüm: Islamismus und „Fridays for future“
Anschließend bemüht sich Verteidiger Hollstein ohne Erfolg darum, dass auf seinen Mandanten statt des Erwachsenen- das Jugendstrafrecht angewandt wird. Durch einen unsäglichen Vergleich mit Fridays for Future versucht er zu argumentieren, dass Jugendliche idealistisch seien und dieser Idealismus bei Al‑H. nun einmal der Islamismus darstelle – dabei bezieht er sich zudem auf ein vermeintliches antiimperialistisches Ungerechtigkeitsgefühl des Angeklagten. Leygraf weist dies jedoch zurück und gibt zu verstehen, dass Al‑H. sich über Jahre resistent gegen Einflussnahme und Deradikalisierungsarbeit gezeigt habe, sodass nicht mehr von einem jugendlichen Moment ausgegangen werden könne.
Der Prozesstag endet ungewöhnlich früh um 12 Uhr.