Am vierten Prozesstag spielen insbesondere zwei Zeug:innen eine zentrale Rolle: Zuerst wird der Cousin des Angeklagten J. befragt, die zweite Zeugin ist Julia N. vom Violence Prevention Network, die den Beschuldigten im letzten Jahr betreut hatte. Die beiden Zeug:innen-Befragungen nehmen mit Abstand den größten Raum ein. Danach folgen Oliver R., ebenfalls Mitarbeiter beim VPN und in erster Linie als Protokollant bei den Treffen während der Betreuung anwesend, sowie der bei den Sitzungen des VPN wie des psychologischen Dienstes anwesende Dolmetscher M. Schließlich werden die polizeilichen Vernehmungsprotokolle der Zeugenaussagen von R. Al‑H., Omar A. und Mohammad A‑H., drei ehemaligen Mithäftlingen des Angeklagten, verlesen und damit ins Verfahren eingeführt.
Der Weg von Syrien nach Deutschland
Die Aussage des Cousins, J., ist insofern ergiebig, als er noch einmal auf die familiären Hintergründe, die Kindheit, Jugend und die Flucht des Beschuldigten eingeht. Er ist zwei Jahre älter als Al‑H. und war zwischenzeitlich die einzige engere Bezugsperson für den Angeklagten. Beide lebten in Syrien, jedoch in unterschiedlichen Städten. J. bestätigt, dass Al‑H. im Alter von zwölf Jahren nahe Aleppo für den Vater Diesel verkauft habe bis der IS kam. Auch unterstreicht er, dass die Mutter für das finanzielle Auskommen der Familie zuständig gewesen sei, weil der Vater aufgrund eines Arbeitsunfalls dazu nicht in der Lage war. Bevor sie gemeinsam mit einem dritten Cousin im Jahr 2015 nach Deutschland flüchteten, soll Al‑H. bereits mehrfach in der Türkei, unter anderem in Istanbul, gewesen sein, um dort Gelegenheitsjobs nachzugehen. Auch sei er kleinkriminell gewesen und habe etwa in der Türkei auch mit Diebstahl sein Überleben finanziert.
2015 seien die jungen Männer über die Balkanroute nach Deutschland gekommen, wo sie im August in München ankamen. Von dort aus wollten sie zunächst nach Dortmund, wo eine Tante lebt. Im Zuge des Asylverfahrens seien sie jedoch nach Chemnitz in eine Erstaufnahmeeinrichtung gelangt, erzählt J.. Ein dritter Cousin sei relativ schnell abgerutscht, sodass sich ihre Wege bald trennten. Die Rede war von Drogen, Diebstahl und anderem. Mithilfe von Matthias L. habe J., der inzwischen volljährig geworden sei, eine Wohnung gefunden, seine Ausbildung abgeschlossen und angefangen zu arbeiten. Dabei sei es immer wieder zu Konflikten mit dem dritten Cousin gekommen. Auch Al‑H.s und seine Wege hätten sich aufgrund der Minderjährigkeit Al‑H.s getrennt. Beide hätten sich schließlich aber immer wieder gefunden, da sie wie beste Freunde seien.
Auf Linie des IS
Als Al‑H. das erste Mal aus der Haft frei kam, habe J. ihm geholfen. Gemeinsam mit Matthias L. sei er auch nach seiner Haftentlassung im September 2020 mit ihm Klamotten kaufen gegangen. Am 2. Oktober – dem Tag an dem Al‑H. die Messersets gekauft habe – seien sie ebenfalls zusammen unterwegs gewesen. Dies habe J. mitbekommen, weil der Alarm an der Kasse eines Supermarkts durch die Kopfhörer von Al‑H. ausgelöst worden sei. Als dieser seinen Rucksack auspacken musste, kamen auch die späteren Tatwaffen zum Vorschein. Er sei zwar irritiert gewesen und hätte nachgefragt, was er mit so vielen Messern wolle, sich dann aber damit zufrieden gegeben, dass Al‑H. sagte, sie seien für die Küche in der Geflüchtetenunterkunft, da er dort ja nichts habe.
In der Befragung geht es weiterhin um eine mögliche Nervenkrankheit des Angeklagten, die der Cousin allerdings nicht eindeutig bestätigen kann. In Stress- und Angstsituationen verkrampfe der Beschuldigte seine Hände und sein Gesicht. Das habe J. einmal beobachtet, die Situation sei aber schnell vorbei gewesen. Auch geht es darum, dass Al‑H. immer religiöser geworden sei, regelmäßig in die Moschee gegangen sei, stets die Gebetszeiten eingehalten habe und sich zuletzt bei seinem Cousin über Musik beschwert habe, da es eine Sünde sei, diese zu hören. Hier war Al‑H. schon auf Linie des IS, was J. allerdings nicht besonders aufgefallen sein soll. Die Aussage ist stark von J.s Versuchen geprägt, durch Auslassungen sowie Erinnerungslücken und teilweise widersprüchliche Aussagen den Beschuldigten zu entlasten.
Betreut von einem Projekt zur Gewaltprävention
Als zweite Zeugin sagt Julia N., Mitarbeiterin von VPN, aus. Sie wird noch einmal grundlegend zum Ansatz der Organisation befragt. N. war von Mai 2019 an mit der Beratung von Al‑H. betraut, allerdings auch mit den durch die Absonderung des Angeklagten bedingten Unterbrechungen. Die größere Pause von acht Monaten habe neben seiner therapeutischen Betreuung auch den Kontakt zwischen Al‑H. und VPN erschwert, führte sie aus. Erst nachdem sie sich förmlich aufgedrängt hätten, sei ein erneuter Kontakt ab Juni 2020 zustande gekommen.
Vor Gericht steht dann mehrfach die Frage im Raum, ob der Beschuldigte sich möglicherweise nur am Beratungsangebot beteiligt hatte, weil die Wahrnehmung von Angeboten von VPN mit möglicher Haftmilderung oder ‑verkürzung einen entscheidenden Vorteil bieten könne. Das verneinen die Mitarbeiter:innen allerdings. Sie sprechen allesamt davon, dass sich Al‑H. bereitwillig mit ihnen getroffen habe, da er reden wollte.
Dennoch zeigen sich erhebliche Diskrepanzen zwischen dem, was der Beschuldigte dem VPN mitteilte, und dem, was er der Gefängnispsychologin berichtete. So kam gegenüber der Radikalisierungsprävention nie zur Sprache, dass er Ungläubigen den Kopf abschneiden wolle, wie er es der Psychologin gegenüber geäußert hatte. Das mag jedoch auch im Ansatz von VPN begründet liegen, der im Kern eine bewusst-naive Haltung der Mitarbeiter:innen vorsieht. Sie sollen sich möglichst von Vorwissen und Vorannahmen frei machen, um offen an die Klient:innen heran zu treten: Da es vor allem um Vertrauensarbeit und Beziehungsaufbau geht, wird klientenzentriert gearbeitet. Das bedeutet auch, dass die zu Beratenden selbst entscheiden, worüber sie reden wollen. Durch Widerstände gehen die Berater:innen nicht hindurch, auch wenn sie punktuell Gegenrede betreiben. Auch als Al‑H. sie noch am 19. Oktober – also mehr als zwei Wochen nach der Tat und einen Tag vor seiner Festnahme – als ungläubige Hunde beschimpfte, die er hasse, deuteten die Mitarbeiter:innen von VPN dies als „Grenzen austesten“.
Der Teufel auf der Schulter
Entscheidend ist, dass Julia N. Islamwissenschaftlerin ist und insofern in dem zu behandelnden Feld eine Expertise aufweist, die sie auch schnell zu einer Einschätzung des Beschuldigten geführt hatte. Sie wusste durch die Übergabe der Akten, dass es sich um einen islamistischen Gefährder handelte und konnte recht bald feststellen, dass Al‑H. einer sehr konservativen und streng religiösen salafistischen Auslegung des Islam folgte. Ihr gegenüber habe er eine ausgesprochene Zukunftsangst geäußert, die Angst in die Hölle zu kommen und sich nicht gut genug an die Regeln des von ihm so ausgelegten Islam zu halten. Dabei hätten Sünden eine entscheidende Rolle gespielt. Diese habe er ihr gegenüber so beschrieben, dass ein Teufel auf seiner Schulter sitze, der ihm sündhaftes Leben befehle. Auch ihr gegenüber habe er geäußert, dass er Angst habe, nicht stark genug zu sein. Hierbei habe er unter anderem Alkohol- und Drogenkonsum thematisiert, erzählt, dass er früher seine kleine Schwester geschlagen habe und den Umstand, dass er Frauen nicht anschauen dürfe, genannt. Es sei auch Thema gewesen, ob es ein Problem ist, dass sie als Frau die Beratungsarbeit machte. Dies habe Al‑H. ihr gegenüber verneint.
Deutlich wird aus ihren Aussagen, dass Al‑H. ein gefestigter Islamist ist, der teilweise emotional distanziert ist. Selbst beim Thema Homosexualität, die er als größte Sünde neben der „rechtlosen Tötung“ betrachtet, schien er wenig affiziert. Mithäftlinge berichteten dies durchaus anders. Die Referenz zum IS mit Blick auf die Frage danach, wann Töten denn nicht Unrecht sei, hätten die VPN-Mitarbeiter:innen zur Kenntnis genommen, aber nicht als Bekenntnis zum IS aufgefasst, sondern vielmehr als Beispiel, dass er angeführt habe, um seinen Zweifel in der Frage zu äußern. In die Richtung hätten sie auch nicht weiter nachgefragt. Aus Sicht des VPN habe sich Al‑H. gegen die Anwendung von Gewalt geäußert. Dies habe Julia N. daran festgemacht, dass er gesagt habe, es sei Sünde, jemanden zu schlagen, insbesondere Frauen.
Der dritte Zeuge, Oliver R., ebenfalls Mitarbeiter beim VPN, bestätigt diese Wahrnehmung im Wesentlichen.
Der letzte Zeuge des vierten Verhandlungstag ist der Dolmetscher, der sowohl für die Gefängnispsychologin als auch für das VPN tätig war. Seine Aussagen ergeben wenig Neues. Er ist darum bemüht zu verdeutlichen, dass der Beschuldigte wenig über den Islam wisse und dessen Interpretation der Religion nicht mit seiner eigenen übereinstimme.
Abschließend werden die polizeilichen Vernehmungsprotokolle der drei Mithäftlinge Rafad A.-H., Omar A. sowie Mohammad A.-H. verlesen. Die Vernehmungsprotokolle bestätigen sowohl die islamistische Überzeugung als auch die homofeindliche Einstellung und das misogyne Weltbild des Angeklagten.
Der vierte Prozesstag endet wie die vorherigen nach einem langen Verhandlungstag um kurz vor sechs mit organisatorischen Fragen.