Die schiefe Debatte: Verbot der Grauen Wölfe

Kein Fuß­breit den Faschist*innen der Grau­en Wöl­fe — ob in der Tür­kei oder hier oder sonst­wo (Screen­shot eines Anti-Graue-Wölfe-Stickers)

Wer die jüngs­ten Dis­kus­sio­nen seit Herbst 2020 und ins­be­son­de­re die Bun­des­tags-Debat­te am 18. Novem­ber 2020 ver­folgt hat, wur­de den Ein­druck nicht los, dass die euro­päi­schen Regie­run­gen tür­ki­schen Neo­fa­schis­ten (Aslan/Bozay, 2012, Çakır 2000, Ram­mes­tor­fer 2018, Hoffmann/Opperskalski/Solmaz 1981) den Krieg erklärt hät­ten. Es schien ein neu­er Wind in Euro­pa zu wehen – der Wind eines regie­rungs­amt­lich ver­ord­ne­ten Antifaschismus.

Anfang Novem­ber 2020 hat­te der fran­zö­si­sche Prä­si­dent Macron öffent­lich­keits­wirk­sam und mit deut­li­cher Empö­rung erklärt, den »Grau­en Wöl­fen« Ein­halt gebie­ten zu wol­len. Sein Kabi­nett ord­ne­te dann am 4. Novem­ber 2020 die Auf­lö­sung der »Grau­en Wöl­fe« an. Fak­tisch kann das Ver­bot (Bränd­le, 2020), der »einen neu­en Stein in die Mau­er gegen den Isla­mo-Faschis­mus ein­füh­ren« soll, kaum Wir­kung ent­fal­ten, da eine Orga­ni­sa­ti­on namens »Graue Wöl­fe« in Frank­reich nie exis­tiert hat. Der Beschluss ist aber eine poli­ti­sche Bot­schaft an den tür­ki­schen Prä­si­den­ten, der zuvor zum Boy­kott fran­zö­si­scher Pro­duk­te auf­ge­ru­fen hat­te und sei­ne Mari­ne anwies, vor Liby­en ein fran­zö­si­sches Kriegs­schiff zu bedrängen.

Deut­sche Poli­ti­ker hin­ge­gen woll­ten offen­bar zei­gen, dass sie es bes­ser kön­nen als die Fran­zo­sen. Nach­dem auch Öster­reich beschlos­sen hat, das Erken­nungs­zei­chen der »Grau­en Wöl­fe« also den »Wolfs­gruß« zu ver­bie­ten, befass­te sich auch der Deut­sche Bun­des­tag mit einem Orga­ni­sa­ti­ons- bzw. Betä­ti­gungs­ver­bot. »Natio­na­lis­mus und Ras­sis­mus die Stirn bie­ten – Ein­fluss der Ülkü­cü-Bewe­gung zurück­drän­gen« (Deut­scher Bun­des­tag, 2020) — so titelt der gemein­sa­me Antrag, was durch­aus zu begrü­ßen ist.

Doch so sehr es rich­tig wäre, faschis­ti­sche Orga­ni­sa­tio­nen – unab­hän­gig wel­cher Cou­leur – zu ver­bie­ten und so rich­tig vie­le der im beschlos­se­nen Antrag getrof­fe­nen Fest­stel­lun­gen und For­de­run­gen auch sind, lohnt den­noch ein genaue­rer Blick.

Unvoll­stän­dig ist der Antrag ins­be­son­de­re im Hin­blick auf die lan­ge Orga­ni­sie­rungs­ge­schich­te tür­ki­scher Ultra­na­tio­na­lis­ten und Neo­fa­schis­ten in der BRD.

Im inhalt­lich wei­ter­ge­hen­den Antrag der Bun­des­tags­frak­ti­on Die Lin­ke (Die Lin­ke Bun­des­tags­frak­ti­on, 2020) fin­den sich dazu wich­ti­ge Infor­ma­tio­nen. In die­sem Zusam­men­hang gab es in der bun­des­deut­schen Pres­se eine brei­te und infor­ma­ti­ve Bericht­erstat­tung über die neo­fa­schis­ti­sche MHP (Par­tei der natio­na­lis­ti­schen Bewe­gung), deren Able­ger die soge­nann­te »Türk Föde­ra­ti­on«, also »Föde­ra­ti­on der Tür­kisch-Demo­kra­ti­schen Idea­lis­ten­ver­ei­ne in Deutsch­land e.V.«, über die »Tür­kisch-Isla­mi­sche Uni­on in Euro­pa« (ATIB) sowie über den Aus­lands­ver­band der MHP-Abspal­tung »Büyük Bir­lik Par­ti­si« (Gro­ße Ein­heits­par­tei) und der unor­ga­ni­sier­ten Anhän­ger­schaft der tür­ki­schen Neofaschisten.

In der Bericht­erstat­tung wird vie­les rich­tig wie­der­ge­ge­ben. Zu bemän­geln ist jedoch, dass oft­mals die Selbst­be­zeich­nung »Ülkü­cü«, also »Idea­lis­ten«, nicht kri­tisch hin­ter­fragt wird. Die­se Bezeich­nung ver­harm­lost deren neo­fa­schis­ti­sche Ideo­lo­gie und ver­deckt ihre his­to­ri­sche Ver­bin­dung zum Natio­nal­so­zia­lis­mus. Auch wenn inzwi­schen meh­re­re Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen exis­tie­ren, begrün­det sich die ideo­lo­gi­sche Aus­rich­tung die­ser auf dem pan­tur­a­nis­tisch1-natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dok­trin des ver­stor­be­nen Neo­fa­schis­ten­füh­rers Alpars­lan Tür­keş2.

Alparslan Türkeş und der türkische Neofaschismus

Tür­keş war und ist auch post­hum der unum­strit­te­ne Füh­rer der neo­fa­schis­ti­schen Bewe­gung in der Tür­kei. Er for­der­te von sei­nen »Grau­en Wöl­fen« abso­lu­ten Gehor­sam und Unter­wer­fung. Dies mach­te er mit sei­nen berühm­ten Wor­ten deut­lich: »…Wenn ich in unse­rem Kampf fal­len soll­te nehmt unse­re Fah­ne und wen­det euch nach vor­ne. Wenn ich zurück­wei­chen soll­te, dann erschießt mich. Erschießt jeden, der sich von unse­rer Sache abwen­det!« (Tür­keş, 2016) Und tat­säch­lich wur­den zwi­schen 1971 und 1980 meh­re­re Abtrün­ni­ge von ihren ehe­ma­li­gen »Kame­ra­den« erschos­sen.3Die neo­fa­schis­ti­sche MHP (Par­tei der natio­na­lis­ti­schen Bewe­gung) hat als poli­ti­sches Pro­gramm die »Neun–Lichter–Doktrin« von Tür­keş ange­nom­men. Tür­keş behaup­te­te, dass die tür­ki­sche Nati­on ihre Zukunft nur mit der »Neun-Lich­ter-Dok­trin«, die das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Modell pan­tur­kis­ti­scher Prä­gung beinhal­tet, gestal­ten kön­ne. Die Grund­sät­ze der »Neun–Lichter–Doktrin« benann­te Tür­keş wie folgt:

»1. Natio­na­lis­mus; 2. Idea­lis­mus; 3. Ethik; 4. Sozia­lis­mus; 5. Wis­sen­schaft­lich­keit; 6. Libe­ra­lis­mus und Indi­vi­dua­lis­mus; 7. Agra­ris­mus; 8. Fort­schritt­lich­keit und Popu­lis­mus; 9. Industrialismus.«

Obwohl die­se Dok­trin als eine Idee von Tür­keş bekannt ist, über­nahm er ledig­lich die ideo­lo­gi­sche Vor­ar­beit von Mürşit Altaylı und Nihal Atsız — bei­de ver­bis­se­ne Ver­tre­ter des tür­ki­schen Ras­sis­mus und Anhän­ger des Natio­nal­so­zia­lis­mus – und mach­te sie sich zu eigen. Altaylı und Atsız waren genau wie Tür­keş loya­le Mit­ar­bei­ter des Drit­ten Reichs. Wie wich­tig Alpars­lan Tür­keş für das Drit­te Reich war, offen­bart ein gehei­mer Bericht des Reichs­si­cher­heits­haupt­am­tes Sicher­heits­po­li­zei an das Aus­wär­ti­ge Amt:

»Aus der Ent­wick­lung der Kriegs­füh­rung ergibt sich die Not­wen­dig­keit, Bezie­hun­gen in den pan­tür­ki­schen und deutsch­freund­lich gesinn­ten Grup­pen in der Tür­kei aus­zu­bau­en und zu pfle­gen. Gera­de in der Tür­kei bie­ten im Hin­blick auf angren­zen­de Roh­stoff­län­der sol­che Ver­bin­dun­gen Mög­lich­kei­ten, die sich in ihrer gan­zen Trag­wei­te nur aus dem Lan­de selbst über­bli­cken lassen.

Die Tür­kei war für uns der wich­tigs­te Lie­fe­rant für Chrom. Das Reich deck­te 30% sei­nes Bedar­fes an Chrom, bis die tür­ki­sche Regie­rung infol­ge der bekann­ten ang­lo – ame­ri­ka­ni­schen Note – bei gleich­zei­ti­ger Wei­ter­lie­fe­rung an Eng­land, das 1943 allein 55.000 Ton­nen Chrom erhielt – die Lie­fe­rung an Deutsch­land einstellte.

Die Ziel­set­zung des Fein­des wird an die­sem Bei­spiel voll erkenn­bar. Unse­re Ver­bin­dun­gen müs­sen des­halb dring­lich akti­viert wer­den. Die Vor­aus­set­zung für den Ein­satz uns nahe­ste­hen­der Per­so­nen bie­ten die Ver­bin­dun­gen, die vor­mals vom Amt Aus­land / Abwehr des OKW gepflegt wur­den. Dabei muss auf die Schnel­lig­keit von Anfang an beson­de­rem Wert gelegt wer­den, da die poli­ti­sche Hal­tung der tür­ki­schen Regie­rung für die nächs­te Zeit nicht voll kal­ku­liert wer­den kann.

Bis­lang bestand auf­grund ihrer Hal­tung gute Ver­bin­dun­gen zu fol­gen­den Personen:

1. Alpars­lan Tür­keş – Absol­vent einer Offi­ziers­schu­le und Füh­rer der pan­tür­ki­schen Bewegung.

2. Tekin Ari­bu­run – Absol­vent einer Mili­tär­aka­de­mie in Eng­land und Atta­ché der Luft­streit­kräf­te im Deut­schen Reich.

3. Sadi Kot­schasch – mit poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Fähigkeiten.

Die­se Tür­ken ver­die­nen nach wie vor unse­re gan­ze Auf­merk­sam­keit. Sie nach­rich­ten­dienst­lich zu nut­zen, muss der Geschick­lich­keit und der per­sön­li­chen Initia­ti­ve der im diplo­ma­ti­schen Dienst ste­hen­den V – Män­ner über­las­sen blei­ben. Es steht jedoch erwie­se­ner­ma­ßen fest, dass bei rich­ti­gem Ein­satz die­ser Per­so­nen uner­schöpf­li­che Mög­lich­kei­ten bestehen, die über die mili­tä­ri­schen Inter­es­sen des Rei­ches hinausgehen.

Unter allen Umstän­den muss gesi­chert wer­den, dass die­se Per­so­nen auf wei­te Sicht für Deutsch­land wirk­sam wer­den kön­nen. Das Aus­wär­ti­ge Amt wird daher gebe­ten, über die deut­sche Bot­schaft in Anka­ra in geeig­ne­ter Wei­se die Ver­bin­dun­gen zu sol­chen Per­sön­lich­kei­ten und Grup­pen, spe­zi­ell zu den genann­ten, zu hal­ten und aus­zu­bau­en.« (Hoffmann/Opperskalski/Solmaz, 1981)

Als loya­ler Kol­la­bo­ra­teur des Drit­ten Reichs wur­de Tür­keş kurz­zei­tig wegen sei­ner pan­tur­a­nis­tisch-natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ansich­ten ange­klagt, konn­te aber sei­ne mili­tä­ri­sche Kar­rie­re fort­set­zen. So wur­de er Oberst der Armee und am 27. Mai 1960 die Radio­stim­me der Mili­tär­jun­ta unter unter dem Befehl von dem Gene­ral und spä­te­ren Staats­prä­si­den­ten Cemal Gür­sel, die ihn jedoch nach eini­gen Mona­ten ins Exil nach Indi­en schick­te. 1963 kam er zurück und arbei­te­te an sei­ner poli­ti­schen Karriere.

1965 wur­de Tür­keş Vor­sit­zen­der der »Repu­bli­ka­ni­sche Bau­ern-Volks­par­tei« (CKMP), in der er sei­ne neo­fa­schis­ti­schen Posi­tio­nen eta­blier­te und schon 1969 den Par­tei­na­men in MHP umän­der­te. Zur glei­chen Zeit hat­te er sei­ne para­mi­li­tä­ri­sche Orga­ni­sa­ti­on der »Grau­en Wöl­fe« gegrün­det, die unter dem Namen »Idea­lis­ten­ver­ei­ne« (Ülkü Ocakla­ri) agier­ten. Wäh­rend Tür­keş zwi­schen 1975 und 1978 in drei Koali­ti­ons­re­gie­run­gen als Staats­mi­nis­ter und stell­ver­tre­ten­der Minis­ter­prä­si­dent betei­ligt war, wuchs die Zahl der poli­ti­schen Mor­de, die von den »Grau­en Wöl­fen« began­gen wurden.

Doch die star­ke Arbei­ter­be­we­gung und der anti­fa­schis­ti­sche Wider­stand übten immensen Druck auf die bür­ger­li­chen Par­tei­en und die gän­gi­gen Medi­en aus. So sah sich Tür­keş gezwun­gen, sei­ne natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Äuße­run­gen abzu­mil­dern. (Brauns/Cakir, 2018). In dem Par­tei­or­gan »Dev­let« (Staat), Jahr­gang 1977, Nr. 405 ließ er fol­gen­des verkünden:

»… Wir sind kei­ne Natio­nal­so­zia­lis­ten. Wir sind kei­ne Nazis, kei­ne Faschis­ten. Unse­re Fein­de miss­brau­chen die­se Begrif­fe, die wir nicht mehr gebrau­chen wer­den. Ihr wer­det euch ab sofort nicht mehr als Natio­nal­so­zia­lis­ten defi­nie­ren. Das wür­de uns unge­recht­fer­tig­ter Kri­tik unse­rer Fein­de aus­set­zen. Daher haben wir die Benut­zung die­ser Beti­telung verboten.«

Der über­zeug­te Natio­nal­so­zia­list Tür­keş ver­such­te durch sol­che öffent­li­chen Äuße­run­gen, den Druck der immer stär­ker wer­den­den Kri­tik von sei­ner Par­tei zu neh­men. Daher sah er sich gezwun­gen, auch sein Ver­ständ­nis von „Ras­sen“ anders darzustellen:

»… Unser Ras­sen­ver­ständ­nis hat kei­ne Ähn­lich­keit mit dem anthro­po­lo­gi­schem Ras­sis­mus. Unser Ras­sen­ver­ständ­nis hat mit den gewalt­tä­ti­gen und ande­re Natio­nen ernied­ri­gen­den Ras­sen­ver­ständ­nis nichts zu tun. Das ‚Neun-Lich­ter-Sys­tem‚ defi­niert die Ras­sen­ein­heit anstatt anthro­po­lo­gi­schen Ras­sis­mus als ein see­li­sches Prin­zip, als eine psy­cho­lo­gi­sche Sache. Das Aus­schlag­ge­ben­de ist der Glau­be an eine ras­si­sche Her­kunft und die Zuge­hö­rig­keit zu einer Nati­on. Jeder, der nicht den Stolz einer ande­ren Ras­se in sei­nem Herz trägt, sich auf­rich­tig als Tür­ke fühlt und sich dem Tur­kis­mus opfert, ist ein Tür­ke. Er ist von der tür­ki­schen Ras­se und Nati­on.«

Den­noch stand der Ver­such von Tür­keş, mit »mode­ra­ten« Begrif­fen sei­nen Ras­sis­mus zu ver­schlei­ern, zu ande­ren Aus­sa­gen von ihm im kras­sen Wider­spruch. So behaup­te­te er, dass die »Ras­sen­ein­heit« gene­tisch bedingt sei und vom »Blut« abhän­ge: »Die Ras­sen­ein­heit ist der wich­tigs­te Fak­tor der tür­ki­schen Nati­on. Unse­re Ras­se ist die tür­ki­sche Ras­se. Weil die Ras­se eine natür­li­che und orga­ni­sche Gege­ben­heit ist, sind die men­ta­len und phy­si­schen Talen­te der Men­schen unter­schied­lich. Die tür­ki­sche Ras­se hat ihre eige­nen Beson­der­hei­ten. Eben die­se Beson­der­hei­ten machen die Tür­ken zu einer Her­ren­ras­se«.4Als eine »Her­ren­ras­se« hät­ten die Tür­ken sie­ben Jahr­hun­der­te lang die Welt beherrscht und als Kali­fen die isla­mi­schen Län­der geführt. Weil das mus­li­mi­sche Glau­ben in Ana­to­li­en immer ein wich­ti­ger Fak­tor war, war es daher nur logisch, dass Tür­keş den ehe­mals scha­ma­nis­ti­schen Pan­tur­kis­mus mit der sun­ni­tisch-isla­mi­schen Kom­po­nen­te ergänz­te. Alles was als »anti­tür­kisch« und »anti­is­la­misch« dekla­riert wur­de, wur­de bekämpft. Die „Idea­lis­ten­ver­ei­ne“ wur­den zu Kader­schmie­den und zu Ter­ror­zen­tra­len umfunk­tio­niert. Sei­ne Grau­en Wöl­fe ver­stan­den sich als »Beschüt­zer des Staa­tes« und liqui­dier­ten am lau­fen­den Band Oppo­si­tio­nel­le. Gleich­zei­tig wur­den die „Idea­lis­ten­ver­ei­ne“ zum Rekru­tie­rungs­feld des tür­ki­schen Geheim­diens­tes und der berühm­ten Kon­ter­gue­ril­la des tür­ki­schen »Gla­dio«.

Bis zum Mili­tär­putsch vom 12. Sep­tem­ber 1980 fie­len über 5.000 Men­schen dem neo­fa­schis­ti­schen Ter­ror zum Opfer. Tür­keş befahl per­sön­lich die Ermor­dung von Per­sön­lich­kei­ten wie Kemal Tür­kler, des Vor­sit­zen­den der Gewerk­schafts­kon­fö­de­ra­ti­on DISK. In meh­re­ren Regio­nen, vor allem dort, wo die ale­wi­ti­sche Bevöl­ke­rung kon­zen­triert leb­te, wur­den Mas­sen­mor­de began­gen. Die­ser Ter­ror der Grau­en Wöl­fe war ein Teil des Sze­na­ri­os, das zum Mili­tär­putsch führ­te. Obwohl bis dahin fast die Hälf­te der Tür­kei unter Kriegs­recht stand, fan­den über­all Mord­an­schlä­ge statt. Mit der Macht­über­nah­me durch die Gene­rä­le ende­ten die­se Mor­de der Grau­en Wöl­fe wie von Geis­ter­hand und ein neu­es dunk­les Kapi­tel der tür­ki­schen Geschich­te begann. Die Mor­de dien­ten als Begrün­dung für de Putsch. Die Grau­en Wöl­fe wur­den von der Kon­ter­gue­ril­la-Abtei­lung des tür­ki­schen Geheim­diens­tes (Erge­ne­kon) gelenkt. Das Ver­bot der MHP erfolg­te im Zuge des all­ge­mei­nen Ver­bots poli­ti­scher Parteien.

Der Mili­tär­putsch hat­te die neo­fa­schis­ti­sche Bewe­gung geschwächt. Die MHP wur­de ver­bo­ten, Tür­keş bekam poli­ti­sches Betä­ti­gungs­ver­bot und vie­le sei­ner Gefähr­ten tra­ten in die neu gegrün­de­ten Par­tei­en wie die Mut­ter­lands­par­tei (ANAP)5 von Tur­gut Özal ein. So konn­ten die lang­jäh­ri­gen Tür­keş-Gefähr­ten wie Agah Oktay Güner (ANAP) und Yaşar Oku­yan (ANAP) an ihrer »staats­tra­gen­den Kar­rie­re« weiterarbeiten.

Die MHP nach dem Militärputsch

Mit dem Mili­tär­putsch hat­te ein Pro­zess begon­nen, der weit­rei­chen­de gesell­schaft­li­che Aus­wir­kun­gen auf die Tür­kei haben soll­te. Letzt­lich, so kann man das zuge­spitzt zusam­men­fas­sen, ging es dar­um, die poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Vor­aus­set­zun­gen für die Orga­ni­sie­rung des tür­ki­schen Kapi­ta­lis­mus im Rah­men eines auto­ri­tä­ren neo­li­be­ra­len Akku­mu­la­ti­ons­re­gimes zu schaf­fen. Ein ideo­lo­gi­sches Gemisch aus Ata­tur­kis­mus, Natio­na­lis­mus und sun­ni­ti­schem Islam, die soge­nann­te tür­kisch-isla­mi­sche Syn­the­se, soll­ten die neue Hege­mo­nie der Jun­ta unter­mau­ern. Wäh­rend also einer­seits der Ata­tur­kis­mus und der kema­lis­ti­sche Lai­zis­mus die Staats­ideo­lo­gie umman­tel­ten, konn­te mit der kema­lis­tisch-lai­zis­ti­schen Inter­pre­ta­ti­on des sun­ni­ti­schen Islam ein anti­kom­mu­nis­ti­scher Kon­ser­va­tis­mus tief in der Mehr­heits­ge­sell­schaft ver­an­kert wer­den. Die »tür­kisch-isla­mi­sche Syn­the­se« lie­fer­te die innen­po­li­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on für die Trans­for­ma­ti­on der poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Grund­la­gen des Staa­tes. Mit der Ver­bin­dung von aggres­si­vem Anti­kom­mu­nis­mus, ras­sis­ti­schem Tur­kis­mus und sun­ni­ti­schem Kon­ser­va­tis­mus schuf man eine Staats­ideo­lo­gie, die den inhaf­tier­ten stell­ver­tre­ten­den Vor­sit­zen­den der neo­fa­schis­ti­schen MHP, Agah Oktay Güner, zu dem Aus­spruch reiz­te: »Wir sind im Ker­ker, aber unse­re Gedan­ken sind an der Macht.«6Doch lan­ge muss­ten die Neo­fa­schis­ten nicht im Ker­ker sit­zen. Ver­ur­teil­te neo­fa­schis­ti­sche Mas­sen­mör­der wie Abdul­lah Çat­lı, Haluk Kırcı, Oral Çelik und vie­le ande­re wur­den von der tür­ki­schen Kon­ter­gue­ril­la ange­heu­ert, um als Auf­trags­kil­ler im Rah­men der soge­nann­ten »Befrie­dungs­ope­ra­ti­on« (Huzur Operasyo­nu) des tür­ki­schen Staa­tes auf euro­päi­schem Boden zu agie­ren. Die BRD wur­de zum Haupt­be­tä­ti­gungs­feld, da ent­spre­chen­de Struk­tu­ren schon vor­han­den waren. Koor­di­niert wur­de die »Befrie­dungs­ope­ra­ti­on« über die Geheim­dienst­leu­te in den Gene­ral­kon­su­la­ten. Nach dubio­sen Gefäng­nis­aus­brü­chen wur­den die Täter gegen füh­ren­de Köp­fe der arme­ni­schen Unter­grund­or­ga­ni­sa­ti­on »ASALA«, dann gegen tür­ki­sche Oppo­si­tio­nel­le in Euro­pa und spä­ter gegen kur­di­sche Intel­lek­tu­el­le im Inland ein­ge­setzt. Auf das Kon­to die­ser »Grau­en Wöl­fe«, denen erlaubt war, sich über Dro­gen­han­del zu finan­zie­ren, gehen zahl­rei­che Mor­de. Erst durch den Ver­kehrs­un­fall von »Sus­ur­luk«7 wur­den Ein­zel­hei­ten über die Ver­wick­lun­gen des tür­ki­schen Staa­tes, der »Grau­en Wöl­fe« und von ihnen domi­nier­ter kri­mi­nel­ler Ban­den der Öffent­lich­keit bekannt.

In der Tür­kei konn­ten die Neo­fa­schis­ten erst ab Novem­ber 1985 wie­der poli­tisch agie­ren. Die im Novem­ber 1985 gegrün­de­te »Natio­na­lis­ti­sche Arbeits­par­tei« (MÇP) nahm unter der Füh­rung von Tür­keş, der kurz davor per Volks­ab­stim­mung reha­bi­liert wur­de, 1987 an den Par­la­ments­wah­len teil und konn­te ihren Par­tei­na­men 1993 wie­der in MHP umän­dern. Das Ver­hält­nis der Neo­fa­schis­ten zum tür­ki­schen Staat fes­tig­te sich wie­der. Der kema­lis­ti­sche Lai­zis­mus wur­de wie die neo­li­be­ra­le Wirt­schafts­po­li­tik der Jun­ta öffent­lich zur Par­tei­pro­gram­ma­tik erklärt. Das führ­te aber zu Zer­würf­nis­sen in der Par­tei. Ins­be­son­de­re eine Grup­pe um den frü­he­ren Vor­sit­zen­den der »Idea­lis­ten­ver­ei­ne«, Muh­sin Yazi­cio­g­lu, der die Anbin­dung an den kema­lis­ti­schen Lai­zis­mus ablehn­te, übte schar­fe Kri­tik an der Par­tei­füh­rung, die ihrer Mei­nung »anti­is­la­misch« agier­te. 1992 kam es dann zum Bruch. Yazi­cio­g­lu und sei­ne Gefolg­schaft tra­ten aus der MHP aus und grün­de­ten 1993 die »Gro­ße Ein­heits­par­tei« (BBP).

Geschwächt durch die­se ideo­lo­gi­schen Gra­ben­kämp­fe konn­te die MHP bis zum Tod ihres Par­tei­füh­rers Tür­keş 1997 kei­ne par­la­men­ta­ri­schen Erfol­ge mehr ver­bu­chen. Aber es gelang ihr, beson­ders wäh­rend des schmut­zi­gen Kriegs gegen die kur­di­sche Bevöl­ke­rung in den 1990er Jah­ren, Par­tei­mit­glie­der in den Repres­si­ons­ap­pa­rat des Staa­tes und in die Minis­te­ri­al­bü­ro­kra­tie ein­zu­schleu­sen. 1997 über­nahm der Par­tei­ideo­lo­ge und »Back­ground­wor­ker« Dev­let Bah­çe­li den Vor­sitz der Par­tei. Unter sei­ner Füh­rung konn­te die MHP bei den Wah­len am 18. April 1999 mit 19,6 Pro­zent Stim­men­an­teil als zweit­stärks­te Par­tei in das Par­la­ment ein­zie­hen und Koali­ti­ons­part­ner der Ece­vit-Regie­rung werden.

Die Koali­ti­ons­re­gie­rung muss­te wäh­rend der gro­ßen Wirt­schafts­kri­se 2000–2001 auf Drän­gen der Neo­fa­schis­ten Neu­wah­len aus­ru­fen. Alle Koali­ti­ons­par­tei­en, so auch die MHP muss­ten her­be Ver­lus­te hin­neh­men. Die Neo­fa­schis­ten erhiel­ten bei den Wah­len 2002 nur 8,4 Pro­zent Zustim­mung und konn­ten wegen der 10-Pro­zent-Hür­de nicht wie­der ins Par­la­ment ein­zie­hen. 2002 begann die Ära der AKP und somit ein Pro­zess, in dem die neo­li­be­ra­le Akku­mu­la­ti­ons­re­gime im Rah­men eines neu­en Hege­mo­nie­pro­zes­ses schritt­wei­se reor­ga­ni­siert wur­de. Heu­te ist die­ser Pro­zess an einem Punkt ange­kom­men, an dem tie­fe Trans­for­ma­tio­nen inner­halb der gesell­schaft­li­chen Klas­sen zu beob­ach­ten und inzwi­schen sämt­li­che recht­li­chen, wie insti­tu­tio­nel­len Hin­der­nis­se für die Umset­zung neo­li­be­ra­ler Poli­tik weit­ge­hend besei­tigt sind.

Nutz­nie­ßer die­ser Ent­wick­lung war, neben den Isla­mis­ten, zwei­fel­los die neo­fa­schis­ti­sche MHP. Obwohl die MHP in der AKP-Ära erst ab 2007 wie­der im tür­ki­schen Par­la­ment sitzt, aber nie in einer der AKP-Regie­run­gen offi­zi­ell ver­tre­ten war, ist sie heu­te die wich­tigs­te poli­ti­sche Stüt­ze des auto­ri­tä­ren AKP-Prä­si­di­al­sys­tems. Mehr noch; in zivi­len wie in mili­tä­ri­schen Appa­ra­ten, in der Minis­te­ri­al­bü­ro­kra­tie und dem Poli­zei­ap­pa­rat ste­hen Neo­fa­schis­ten in ent­schei­den­den Lei­tungs­po­si­tio­nen. Die heu­ti­ge MHP ver­gif­tet wei­ter­hin das gesell­schaft­li­che Kli­ma in der Tür­kei mit ihrer pan­tur­a­nis­tisch-natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ideo­lo­gie und steht für die Errich­tung einer offen faschis­ti­schen Dik­ta­tur Gewehr bei Fuß.

Türkische Neofaschisten in Europa

Die Dis­kus­sio­nen und die Bericht­erstat­tung über die Ver­bots­de­bat­te haben vie­le Infor­ma­tio­nen über das Wir­ken der tür­ki­schen Neo­fa­schis­ten in Euro­pa zu Tage geför­dert. In den sozia­len Medi­en fin­den sich zahl­rei­che Tex­te und Arti­kel über »Graue Wöl­fe«. Inso­fern soll­te die­ser Arti­kel als eine Ergän­zung die­ser Infor­ma­tio­nen ver­stan­den werden.

Vie­le arme­ni­sche, kur­di­sche und tür­kei­stäm­mi­ge Antifaschist*innen haben die Ver­bots­de­bat­te mit einer gewis­sen Genug­tu­ung ver­folgt. Es ist in der Tat erfreu­lich, wenn gera­de Abge­ord­ne­te der CDU/CSU nun end­lich zu der Ein­sicht gelangt sind, dass man es bei den »Grau­en Wöl­fen mit einer rechts­extre­mis­ti­schen faschis­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on zu tun hat, deren ultra-natio­na­lis­ti­sche Ideo­lo­gie men­schen­ver­ach­tend ist.« (CDU-Innen­po­li­ti­ker Chris­toph de Vries)8

Erin­nern müs­sen wir jedoch die­se Politiker*innen dar­an, dass die tür­ki­schen Neo­fa­schis­ten sich erst durch Unter­stüt­zung der ver­ant­wort­li­chen Poli­tik in Deutsch­land orga­ni­sie­ren konn­ten. So war die MHP die ers­te tür­ki­sche Par­tei, die in Deutsch­land tätig wur­de. Am 9. April 1973 wur­de die MHP-Aus­lands­ver­tre­tung in Kemp­ten eröff­net. Bis Ende Juli 1976 orga­ni­sier­te die MHP ihre Par­tei­ar­beit legal und mit Wis­sen der Bun­des­be­hör­den. Die pro for­ma Auf­lö­sung am 28. Juli 1976 war kei­nes­wegs von deut­scher Sei­te gewünscht, son­dern das Ergeb­nis eines Urteils des tür­ki­schen Ver­fas­sungs­ge­richts, das tür­ki­schen Par­tei­en ver­bo­ten hat­te, Aus­lands­ver­tre­tun­gen zu eröff­nen. Obwohl Tür­keş enge Bezie­hun­gen zu deut­schen Neo­na­zis auf­ge­baut hat­te, 1970 auf Ein­la­dung des NPD-Vor­sit­zen­den von Thad­den nach Deutsch­land kam und Ende Juli 1977 sei­ne Anhän­ger in Deutsch­land auf­for­der­te, die Zusam­men­ar­beit mit der NPD zu ver­tie­fen, sowie »die Erfah­run­gen und Metho­den der NPD für ihre Orga­ni­sa­ti­ons­ar­beit zu nut­zen«, wur­den die tür­ki­schen Neo­fa­schis­ten von der Poli­tik und den Bun­des­be­hör­den unter­stützt. Wäh­rend der baye­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent Franz-Josef Strauß am 1. Mai 1978 Tür­keş per­sön­lich emp­fan­gen und ihm tat­kräf­ti­ge Unter­stüt­zung zuge­sagt hat­te, mein­te Georg Tand­ler 1980, dass »die MHP und die Türk Föde­ra­ti­on sich im Rah­men der Geset­ze der Bun­des­re­pu­blik für die Inter­es­sen der tür­ki­schen Repu­blik und der tür­ki­schen Nati­on ein­set­zen« würden.

Erin­nern müs­sen wir sie auch dar­an, dass die »Türk Föde­ra­ti­on« am 17.–18. Juni 1978 in einem von der CDU gemie­te­ten Saal im hes­si­schen Schwar­zen­borg gegrün­det wur­de. Wäh­rend der ehe­ma­li­ge CDU-Innen­mi­nis­ter in Rhein­land-Pfalz, Heinz Schwarz, für die CDU den Kon­takt zu Tür­keş auf­recht hielt, ver­half der CDU-Stadt­ver­ord­ne­te Hans-Eck­hardt Kan­na­pin dem Vor­sit­zen­den der »Türk Föde­ra­ti­on«, Lok­man Kun­dak­çi sowie des­sen Nach­fol­ger Musa Ser­dar Çele­bi durch angeb­li­che Beschäf­ti­gung in sei­nem fik­ti­ven »Tür­kei Insti­tut« zu Auf­ent­halts- und Arbeits­er­laub­nis­sen in der BRD. Die­se soge­nann­ten »wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­ter« gaben als Arbeits­adres­se die Kan­na­pin-Woh­nung in Schwalm­stadt an. Tür­keş belohn­te Kan­na­pins Unter­stüt­zung mit meh­re­ren Nord­zy­pern­auf­ent­hal­ten, die er von sei­nen per­sön­li­chen Kon­ten beglich. Als Kan­na­pin 1980 beer­digt wur­de, waren meh­re­re Füh­rungs­ka­der der »Türk Föde­ra­ti­on« anwesend.

Auch wenn die­se Tat­sa­chen nicht in Ver­fas­sungs­schutz­be­rich­ten ent­hal­ten sind, dürf­te es den heu­ti­gen Abge­ord­ne­ten der CDU/CSU Bun­des­tags­frak­ti­on nicht ent­gan­gen sein, wie sich die zahl­rei­chen Ver­ei­ne, Ver­bän­de und Fir­men der tür­ki­schen Neo­fa­schis­ten seit Jahr­zehn­ten in der BRD und Euro­pa orga­ni­siert und ver­an­kert haben. Die sehr infor­ma­ti­ve Bro­schü­re »Die Ver­flech­tung deut­scher Poli­tik mit der MHP – am Bei­spiel der CDU/CSU« belegt ein­drucks­voll die­se Ent­wick­lung bis heu­te.9

Und sicher ist den Bun­des­re­gie­run­gen und Bun­des­be­hör­den, allen vor­an dem Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um bekannt, dass neo­fa­schis­ti­sche Mör­der sich unbe­hel­ligt bis heu­te in Deutsch­land auf­hal­ten. So ist vor kur­zem bekannt gewor­den, dass der neo­fa­schis­ti­sche Mör­der Ethem Kiskis, der an dem »Bal­gat Mas­sa­ker«10 betei­ligt war, bis zu sei­nem Tod 2020 in Frank­furt am Main gelebt und gear­bei­tet hat. So wie er wur­de bis heu­te kein ein­zi­ger tür­ki­scher neo­fa­schis­ti­scher Mör­der in Deutsch­land vor Gericht gebracht.

Der eigentliche Hintergrund der Verbotsdebatte

Wenn heu­te der Deut­sche Bun­des­tag mehr­heit­lich der Auf­fas­sung ist, dass das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um ein Orga­ni­sa­ti­ons­ver­bot zu prü­fen habe, dann ist das zu unter­stüt­zen. Nicht nur das: es gilt wei­ter­hin die Durch­set­zung eines Ver­bots zu for­dern. Dafür benö­tigt man kei­nen Bun­des­tags­be­schluss, das gül­ti­ge deut­sche Ver­eins­recht ver­fügt über genü­gend Instru­men­te. Was aber not­wen­dig ist, ist der poli­ti­sche Wil­le dazu, der bis­her gefehlt hat und mög­li­cher­wei­se noch lan­ge auf sich war­ten las­sen wird.

Die bis­he­ri­gen Erfah­run­gen mit den Bun­des­re­gie­run­gen in der Fra­ge des Umgan­ges mit Neo­fa­schis­ten las­sen da lei­der wenig Hoff­nung. Die Tat­sa­che, dass die genann­ten Orga­ni­sa­tio­nen ihr »vol­les Ver­trau­en in unse­re unab­hän­gi­ge Jus­tiz in Deutsch­land« erklä­ren, deu­tet dar­auf­hin, dass Ver­bo­te nur Dro­hun­gen blei­ben wer­den. Abge­se­hen davon hat die gan­ze Ver­bots­de­bat­te einen Haken.

Zum einen geht es bei den ange­droh­ten Orga­ni­sa­ti­ons­ver­bo­ten um ein »Faust­pfand« gegen­über der tür­ki­schen Regie­rung, was in Anka­ra auch als sol­ches ange­se­hen wird. Das sym­bo­li­sche Ver­bot in Frank­reich hat einen klar aus­ge­spro­che­nen außen­po­li­ti­schen Cha­rak­ter. Der eigent­li­che Hin­ter­grund der Ver­bots­de­bat­te ist in der Poli­tik des tür­ki­schen Staa­tes in Ost­mit­tel­meer, in der Ägä­is, in Liby­en, Syri­en und in Kau­ka­sus zu suchen. Die Bun­des­re­gie­rung steht vor einem Dilem­ma; einer­seits muss­te sie den For­de­run­gen Frank­reichs, Zyperns und Grie­chen­lands nach­ge­ben, ande­rer­seits dafür Sor­ge tra­gen, dass der stra­te­gi­sche Han­dels­part­ner Tür­kei auf Kurs gehal­ten wird. Daher wur­de eine Ent­schei­dung auf dem EU-Gip­fel im Juli 2020 auf Betrei­ben der Bun­des­re­gie­rung ver­tagt. Nun wird auf dem EU-Gip­fel im Juni 2021 wie­der über die Tür­kei ver­han­delt. Unlängst waren EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en und der EU-Rats­prä­si­dent Charles Michel in Anka­ra und haben vie­le Zuge­ständ­nis­se ver­spro­chen. Die innen­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen in der Tür­kei bele­gen, dass der »Faust­pfand« schon jetzt Wir­kung zeigt. Der Macht­kampf im tür­ki­schen Staat ist im vol­len Gange.

Zum ande­ren ist der tür­ki­sche Neo­fa­schis­mus orga­ni­sa­to­risch nicht mehr nur mit den »Grau­en Wöl­fen« ein­zu­gren­zen. Neben den Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren der »Grau­en Wöl­fe«, also der genann­ten Ver­bän­de, gibt es wei­te­re tür­ki­sche Orga­ni­sa­tio­nen, wel­che sich die Staats­ideo­lo­gie der »tür­kisch-isla­mi­schen Syn­the­se« zu eigen gemacht haben und in Insti­tu­tio­nen wie der Islam-Kon­fe­renz oder Inte­gra­ti­ons­gip­fel der Bun­des­re­gie­rung ver­tre­ten sind. Sie wer­den von der Poli­tik als Gesprächs­part­ner aner­kannt und aus zahl­rei­chen Töp­fen finan­zi­ell geför­dert. Als Bei­spie­le soll­te die Nen­nung von Orga­ni­sa­tio­nen wie der DITIB, dem Zen­tral­rat der Mus­li­me oder der VIKZ (Ver­band der Isla­mi­schen Kul­tur­zen­tren) aus­rei­chend sein. Hin­zu kommt die Tat­sa­che, dass der »Wolfs­gruß«, neben dem »Rabia-Gruß«, was »eine Nati­on, eine Fah­ne, ein Vater­land, ein Staat« bedeu­tet, zum All­ge­mein­gut aller tür­ki­schen Kon­ser­va­ti­ven und Natio­na­lis­ten gewor­den ist. Isla­mis­ten und tür­ki­sche Neo­fa­schis­ten ste­hen nicht nur in der tür­ki­schen Regie­rung, son­dern auch in zahl­rei­chen Ver­ei­nen, Sport­clubs, Moscheen oder Ver­bän­den in Euro­pa Seit‘ an Seit‘. Und nicht zuletzt fehlt in die­ser Debat­te, die poli­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der bun­des­deut­schen Unter­stüt­zung tür­ki­scher Neo­fa­schis­ten über Jahrzehnte.

Es steht außer Fra­ge, dass bür­ger­li­che Demo­kra­tien, die sich mit Orga­ni­sa­ti­ons­ver­bo­ten gegen Faschis­ten aller Art weh­ren wol­len, sie sich der vol­len Unter­stüt­zung von Antifaschist*innen ohne Wenn und Aber sicher sein kön­nen. Ein Ver­bot aller faschis­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen ist mehr als über­fäl­lig. Trotz­dem müs­sen wei­ter­ge­hen­de Schrit­te unter­nom­men wer­den. So ist die Auf­ar­bei­tung der Ent­wick­lungs­ge­schich­te und das Benen­nen der poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen an der Eta­blie­rung tür­ki­scher Neo­fa­schis­ten in der BRD sowie Auf­klä­rung, Öffent­lich­keits­ar­beit und der Kampf um die Köp­fe inner­halb der tür­kei­stäm­mi­gen Com­mu­ni­ty wei­ter­hin not­wen­dig. Gera­de das ist und bleibt die Auf­ga­be der Antifaschist*innen.

Murat Cakir ist Regio­nal­bü­ro­lei­ter der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung in Hes­sen und beschäf­tigt sich nicht nur mit der tür­ki­schen Rech­ten in der Tür­kei und Deutsch­land, son­dern auch mit Erfreu­li­che­rem: Gemein­sam mit dem His­to­ri­ker und Jour­na­lis­ten Niko­laus Brauns ver­öf­fent­lich­te er das Buch „Par­ti­sa­nen einer neu­en Welt – Eine Geschich­te der lin­ken und Arbei­ter­be­we­gung in der Tür­kei“, Ber­lin 2018.

Lite­ra­tur:

Anti­fa-Bro­schü­re: Die Ver­flech­tung deut­scher Poli­tik mit der MHP — am Bei­spiel der CDU/CSU“, https://​de​.indy​me​dia​.org/​s​i​t​e​s​/​d​e​f​a​u​l​t​/​f​i​l​e​s​/​2​0​1​8​/​0​9​/​2​9​8​9​9​.​pdf, vgl. auch: http://​www​.kur​di​stan​-report​.de/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​/​a​r​c​h​i​v​/​2​0​1​8​/​6​4​-​k​r​-​2​0​0​-​n​o​v​e​m​b​e​r​-​d​e​z​e​m​b​e​r​-​2​0​1​8​/​7​6​1​-​s​a​e​b​e​l​r​a​s​s​e​l​n​-​s​t​a​t​t​-​e​r​n​s​t​h​a​f​t​e​r​-​f​e​i​n​d​s​c​h​aft

Aslan, Fikret/Bozay, Kemal (Hg.), »Graue Wöl­fe heu­len wie­der«, Unrast Ver­lag 2012

Bränd­le, Ste­phan: Frank­reich ver­bie­tet die tür­ki­sche Orga­ni­sa­ti­on Graue Wöl­fe, in Frank­fur­ter Rund­schau, 5.11.2010: https://​www​.fr​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​e​r​d​o​g​a​n​-​m​a​r​c​o​n​-​v​e​r​b​o​t​-​f​r​a​n​k​r​e​i​c​h​-​g​r​a​u​e​-​w​o​e​l​f​e​-​t​u​e​r​k​e​i​-​9​0​0​9​0​6​1​2​.​h​tml

Brauns, Nick/Çakır, Murat: »Par­ti­sa­nen einer neu­en Welt: Eine Geschich­te der Lin­ken und Arbei­ter­be­we­gung in der Tür­kei«, Die Buch­ma­che­rei, Ber­lin 2018

Bun­des­tags­frak­ti­on Die Lin­ke: Graue Wöl­fe und deren Ver­ei­ni­gun­gen in Deutsch­land ver­bie­ten: https://​dip21​.bun​des​tag​.de/​d​i​p​2​1​/​b​t​d​/​1​9​/​2​4​3​/​1​9​2​4​3​6​3​.​pdf

Deut­scher Bun­des­tag: Ste­no­gra­fi­scher Bericht, 191. Sit­zung, Ber­lin, Mitt­woch, 18. Novem­ber 2020: https://​www​.bun​des​tag​.de/​d​o​k​u​m​e​n​t​e​/​t​e​x​t​a​r​c​h​i​v​/​2​0​2​0​/​k​w​4​7​-​d​e​-​g​r​a​u​e​-​w​o​e​l​f​e​-​8​0​4​216

Çakır, Murat: »Die Pseu­do­de­mo­kra­ten. Tür­ki­sche Lob­by­is­ten, Isla­mis­ten, Rechts­ra­di­ka­le und ihr Wir­ken in der BRD«, GDF-Publi­ka­tio­nen 2000

Hoff­mann, Barbara/Opperskalski, Michael/Solmaz, Erden, »Graue Wöl­fe, Koran­schu­len, Idea­lis­ten­ver­ei­ne. Tür­ki­sche Faschis­ten in Deutsch­land«, Pahl-Rugen­stein 1981

Ram­mes­tor­fer, Tho­mas, »Graue Wöl­fe. Tür­ki­sche Rechts­extre­me und ihr Ein­fluss in Deutsch­land und Öster­reich«, LIT Ver­lag 2018

Tür­keş, Alpars­lan: „Alpars­lan Tür­keş Diyor ki“ (d.: „Alpars­lan Tür­keş sagt“),

Fuß­no­ten:

1 Die Ideo­lo­gie des Pan­tur­kis­mus und Tura­nis­mus behaup­tet die ras­sis­ti­sche, his­to­ri­sche und mora­li­sche Ein­heit und Über­le­gen­heit aller Turk­völ­ker, von Afghanistan/China bis zum Süd­ost­zip­fel des Bal­kans. Pro­pa­giert wur­de und wird die Ver­ei­ni­gung die­ser Völ­ker in einem groß­tür­ki­schen Reich unter tür­ki­scher Vor­herr­schaft. Die tura­nis­ti­sche bzw. pan­tur­kis­ti­sche Idee schließt jede Gleich­be­rech­ti­gung der ver­schie­de­nen Natio­na­li­tä­ten und Reli­gio­nen von vorn­her­ein aus. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen in: Kemal Bozay, »Graue Wöl­fe – die größ­te rechts­extre­me Orga­ni­sa­ti­on in Deutsch­land«,: https://​www​.bpb​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​e​x​t​r​e​m​i​s​m​u​s​/​r​e​c​h​t​s​e​x​t​r​e​m​i​s​m​u​s​/​2​6​0​3​3​3​/​g​r​a​u​e​-​w​o​e​l​f​e​-​d​i​e​-​g​r​o​e​s​s​t​e​-​r​e​c​h​t​s​e​x​t​r​e​m​e​-​o​r​g​a​n​i​s​a​t​i​o​n​-​i​n​-​d​e​u​t​s​c​h​l​and

2 Alpars­lan Tür­keş, gebo­ren am 25.November 1917 in Niko­sia, ver­stor­ben am 4. April 1997 in Anka­ra. Wei­ter­ge­hen­de bio­gra­fi­sche Infor­ma­tio­nen sie­he: https://de.wikipedia.org/wiki/Alparslan_Türkeş

5 ANAP: »Mut­ter­lands­par­tei« (Anava­tan Par­ti­si), gegrün­det nach dem Mili­tär­putsch von Tur­gut Özal.

Ein Gedanke zu “Die schiefe Debatte: Verbot der Grauen Wölfe

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