
Wer die jüngsten Diskussionen seit Herbst 2020 und insbesondere die Bundestags-Debatte am 18. November 2020 verfolgt hat, wurde den Eindruck nicht los, dass die europäischen Regierungen türkischen Neofaschisten (Aslan/Bozay, 2012, Çakır 2000, Rammestorfer 2018, Hoffmann/Opperskalski/Solmaz 1981) den Krieg erklärt hätten. Es schien ein neuer Wind in Europa zu wehen – der Wind eines regierungsamtlich verordneten Antifaschismus.
Anfang November 2020 hatte der französische Präsident Macron öffentlichkeitswirksam und mit deutlicher Empörung erklärt, den »Grauen Wölfen« Einhalt gebieten zu wollen. Sein Kabinett ordnete dann am 4. November 2020 die Auflösung der »Grauen Wölfe« an. Faktisch kann das Verbot (Brändle, 2020), der »einen neuen Stein in die Mauer gegen den Islamo-Faschismus einführen« soll, kaum Wirkung entfalten, da eine Organisation namens »Graue Wölfe« in Frankreich nie existiert hat. Der Beschluss ist aber eine politische Botschaft an den türkischen Präsidenten, der zuvor zum Boykott französischer Produkte aufgerufen hatte und seine Marine anwies, vor Libyen ein französisches Kriegsschiff zu bedrängen.
Deutsche Politiker hingegen wollten offenbar zeigen, dass sie es besser können als die Franzosen. Nachdem auch Österreich beschlossen hat, das Erkennungszeichen der »Grauen Wölfe« also den »Wolfsgruß« zu verbieten, befasste sich auch der Deutsche Bundestag mit einem Organisations- bzw. Betätigungsverbot. »Nationalismus und Rassismus die Stirn bieten – Einfluss der Ülkücü-Bewegung zurückdrängen« (Deutscher Bundestag, 2020) — so titelt der gemeinsame Antrag, was durchaus zu begrüßen ist.
Doch so sehr es richtig wäre, faschistische Organisationen – unabhängig welcher Couleur – zu verbieten und so richtig viele der im beschlossenen Antrag getroffenen Feststellungen und Forderungen auch sind, lohnt dennoch ein genauerer Blick.
Unvollständig ist der Antrag insbesondere im Hinblick auf die lange Organisierungsgeschichte türkischer Ultranationalisten und Neofaschisten in der BRD.
Im inhaltlich weitergehenden Antrag der Bundestagsfraktion Die Linke (Die Linke Bundestagsfraktion, 2020) finden sich dazu wichtige Informationen. In diesem Zusammenhang gab es in der bundesdeutschen Presse eine breite und informative Berichterstattung über die neofaschistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung), deren Ableger die sogenannte »Türk Föderation«, also »Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V.«, über die »Türkisch-Islamische Union in Europa« (ATIB) sowie über den Auslandsverband der MHP-Abspaltung »Büyük Birlik Partisi« (Große Einheitspartei) und der unorganisierten Anhängerschaft der türkischen Neofaschisten.
In der Berichterstattung wird vieles richtig wiedergegeben. Zu bemängeln ist jedoch, dass oftmals die Selbstbezeichnung »Ülkücü«, also »Idealisten«, nicht kritisch hinterfragt wird. Diese Bezeichnung verharmlost deren neofaschistische Ideologie und verdeckt ihre historische Verbindung zum Nationalsozialismus. Auch wenn inzwischen mehrere Parteien und Organisationen existieren, begründet sich die ideologische Ausrichtung dieser auf dem panturanistisch1-nationalsozialistischen Doktrin des verstorbenen Neofaschistenführers Alparslan Türkeş2.
Alparslan Türkeş und der türkische Neofaschismus
Türkeş war und ist auch posthum der unumstrittene Führer der neofaschistischen Bewegung in der Türkei. Er forderte von seinen »Grauen Wölfen« absoluten Gehorsam und Unterwerfung. Dies machte er mit seinen berühmten Worten deutlich: »…Wenn ich in unserem Kampf fallen sollte nehmt unsere Fahne und wendet euch nach vorne. Wenn ich zurückweichen sollte, dann erschießt mich. Erschießt jeden, der sich von unserer Sache abwendet!« (Türkeş, 2016) Und tatsächlich wurden zwischen 1971 und 1980 mehrere Abtrünnige von ihren ehemaligen »Kameraden« erschossen.3Die neofaschistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) hat als politisches Programm die »Neun–Lichter–Doktrin« von Türkeş angenommen. Türkeş behauptete, dass die türkische Nation ihre Zukunft nur mit der »Neun-Lichter-Doktrin«, die das nationalsozialistische Modell panturkistischer Prägung beinhaltet, gestalten könne. Die Grundsätze der »Neun–Lichter–Doktrin« benannte Türkeş wie folgt:
»1. Nationalismus; 2. Idealismus; 3. Ethik; 4. Sozialismus; 5. Wissenschaftlichkeit; 6. Liberalismus und Individualismus; 7. Agrarismus; 8. Fortschrittlichkeit und Populismus; 9. Industrialismus.«
Obwohl diese Doktrin als eine Idee von Türkeş bekannt ist, übernahm er lediglich die ideologische Vorarbeit von Mürşit Altaylı und Nihal Atsız — beide verbissene Vertreter des türkischen Rassismus und Anhänger des Nationalsozialismus – und machte sie sich zu eigen. Altaylı und Atsız waren genau wie Türkeş loyale Mitarbeiter des Dritten Reichs. Wie wichtig Alparslan Türkeş für das Dritte Reich war, offenbart ein geheimer Bericht des Reichssicherheitshauptamtes Sicherheitspolizei an das Auswärtige Amt:
»Aus der Entwicklung der Kriegsführung ergibt sich die Notwendigkeit, Beziehungen in den pantürkischen und deutschfreundlich gesinnten Gruppen in der Türkei auszubauen und zu pflegen. Gerade in der Türkei bieten im Hinblick auf angrenzende Rohstoffländer solche Verbindungen Möglichkeiten, die sich in ihrer ganzen Tragweite nur aus dem Lande selbst überblicken lassen.
Die Türkei war für uns der wichtigste Lieferant für Chrom. Das Reich deckte 30% seines Bedarfes an Chrom, bis die türkische Regierung infolge der bekannten anglo – amerikanischen Note – bei gleichzeitiger Weiterlieferung an England, das 1943 allein 55.000 Tonnen Chrom erhielt – die Lieferung an Deutschland einstellte.
Die Zielsetzung des Feindes wird an diesem Beispiel voll erkennbar. Unsere Verbindungen müssen deshalb dringlich aktiviert werden. Die Voraussetzung für den Einsatz uns nahestehender Personen bieten die Verbindungen, die vormals vom Amt Ausland / Abwehr des OKW gepflegt wurden. Dabei muss auf die Schnelligkeit von Anfang an besonderem Wert gelegt werden, da die politische Haltung der türkischen Regierung für die nächste Zeit nicht voll kalkuliert werden kann.
Bislang bestand aufgrund ihrer Haltung gute Verbindungen zu folgenden Personen:
1. Alparslan Türkeş – Absolvent einer Offiziersschule und Führer der pantürkischen Bewegung.
2. Tekin Ariburun – Absolvent einer Militärakademie in England und Attaché der Luftstreitkräfte im Deutschen Reich.
3. Sadi Kotschasch – mit politischen und militärischen Fähigkeiten.
Diese Türken verdienen nach wie vor unsere ganze Aufmerksamkeit. Sie nachrichtendienstlich zu nutzen, muss der Geschicklichkeit und der persönlichen Initiative der im diplomatischen Dienst stehenden V – Männer überlassen bleiben. Es steht jedoch erwiesenermaßen fest, dass bei richtigem Einsatz dieser Personen unerschöpfliche Möglichkeiten bestehen, die über die militärischen Interessen des Reiches hinausgehen.
Unter allen Umständen muss gesichert werden, dass diese Personen auf weite Sicht für Deutschland wirksam werden können. Das Auswärtige Amt wird daher gebeten, über die deutsche Botschaft in Ankara in geeigneter Weise die Verbindungen zu solchen Persönlichkeiten und Gruppen, speziell zu den genannten, zu halten und auszubauen.« (Hoffmann/Opperskalski/Solmaz, 1981)
Als loyaler Kollaborateur des Dritten Reichs wurde Türkeş kurzzeitig wegen seiner panturanistisch-nationalsozialistischen Ansichten angeklagt, konnte aber seine militärische Karriere fortsetzen. So wurde er Oberst der Armee und am 27. Mai 1960 die Radiostimme der Militärjunta unter unter dem Befehl von dem General und späteren Staatspräsidenten Cemal Gürsel, die ihn jedoch nach einigen Monaten ins Exil nach Indien schickte. 1963 kam er zurück und arbeitete an seiner politischen Karriere.
1965 wurde Türkeş Vorsitzender der »Republikanische Bauern-Volkspartei« (CKMP), in der er seine neofaschistischen Positionen etablierte und schon 1969 den Parteinamen in MHP umänderte. Zur gleichen Zeit hatte er seine paramilitärische Organisation der »Grauen Wölfe« gegründet, die unter dem Namen »Idealistenvereine« (Ülkü Ocaklari) agierten. Während Türkeş zwischen 1975 und 1978 in drei Koalitionsregierungen als Staatsminister und stellvertretender Ministerpräsident beteiligt war, wuchs die Zahl der politischen Morde, die von den »Grauen Wölfen« begangen wurden.
Doch die starke Arbeiterbewegung und der antifaschistische Widerstand übten immensen Druck auf die bürgerlichen Parteien und die gängigen Medien aus. So sah sich Türkeş gezwungen, seine nationalsozialistischen Äußerungen abzumildern. (Brauns/Cakir, 2018). In dem Parteiorgan »Devlet« (Staat), Jahrgang 1977, Nr. 405 ließ er folgendes verkünden:
»… Wir sind keine Nationalsozialisten. Wir sind keine Nazis, keine Faschisten. Unsere Feinde missbrauchen diese Begriffe, die wir nicht mehr gebrauchen werden. Ihr werdet euch ab sofort nicht mehr als Nationalsozialisten definieren. Das würde uns ungerechtfertigter Kritik unserer Feinde aussetzen. Daher haben wir die Benutzung dieser Betitelung verboten.«
Der überzeugte Nationalsozialist Türkeş versuchte durch solche öffentlichen Äußerungen, den Druck der immer stärker werdenden Kritik von seiner Partei zu nehmen. Daher sah er sich gezwungen, auch sein Verständnis von „Rassen“ anders darzustellen:
»… Unser Rassenverständnis hat keine Ähnlichkeit mit dem anthropologischem Rassismus. Unser Rassenverständnis hat mit den gewalttätigen und andere Nationen erniedrigenden Rassenverständnis nichts zu tun. Das ‚Neun-Lichter-System‚ definiert die Rasseneinheit anstatt anthropologischen Rassismus als ein seelisches Prinzip, als eine psychologische Sache. Das Ausschlaggebende ist der Glaube an eine rassische Herkunft und die Zugehörigkeit zu einer Nation. Jeder, der nicht den Stolz einer anderen Rasse in seinem Herz trägt, sich aufrichtig als Türke fühlt und sich dem Turkismus opfert, ist ein Türke. Er ist von der türkischen Rasse und Nation.«
Dennoch stand der Versuch von Türkeş, mit »moderaten« Begriffen seinen Rassismus zu verschleiern, zu anderen Aussagen von ihm im krassen Widerspruch. So behauptete er, dass die »Rasseneinheit« genetisch bedingt sei und vom »Blut« abhänge: »Die Rasseneinheit ist der wichtigste Faktor der türkischen Nation. Unsere Rasse ist die türkische Rasse. Weil die Rasse eine natürliche und organische Gegebenheit ist, sind die mentalen und physischen Talente der Menschen unterschiedlich. Die türkische Rasse hat ihre eigenen Besonderheiten. Eben diese Besonderheiten machen die Türken zu einer Herrenrasse«.4Als eine »Herrenrasse« hätten die Türken sieben Jahrhunderte lang die Welt beherrscht und als Kalifen die islamischen Länder geführt. Weil das muslimische Glauben in Anatolien immer ein wichtiger Faktor war, war es daher nur logisch, dass Türkeş den ehemals schamanistischen Panturkismus mit der sunnitisch-islamischen Komponente ergänzte. Alles was als »antitürkisch« und »antiislamisch« deklariert wurde, wurde bekämpft. Die „Idealistenvereine“ wurden zu Kaderschmieden und zu Terrorzentralen umfunktioniert. Seine Grauen Wölfe verstanden sich als »Beschützer des Staates« und liquidierten am laufenden Band Oppositionelle. Gleichzeitig wurden die „Idealistenvereine“ zum Rekrutierungsfeld des türkischen Geheimdienstes und der berühmten Konterguerilla des türkischen »Gladio«.
Bis zum Militärputsch vom 12. September 1980 fielen über 5.000 Menschen dem neofaschistischen Terror zum Opfer. Türkeş befahl persönlich die Ermordung von Persönlichkeiten wie Kemal Türkler, des Vorsitzenden der Gewerkschaftskonföderation DISK. In mehreren Regionen, vor allem dort, wo die alewitische Bevölkerung konzentriert lebte, wurden Massenmorde begangen. Dieser Terror der Grauen Wölfe war ein Teil des Szenarios, das zum Militärputsch führte. Obwohl bis dahin fast die Hälfte der Türkei unter Kriegsrecht stand, fanden überall Mordanschläge statt. Mit der Machtübernahme durch die Generäle endeten diese Morde der Grauen Wölfe wie von Geisterhand und ein neues dunkles Kapitel der türkischen Geschichte begann. Die Morde dienten als Begründung für de Putsch. Die Grauen Wölfe wurden von der Konterguerilla-Abteilung des türkischen Geheimdienstes (Ergenekon) gelenkt. Das Verbot der MHP erfolgte im Zuge des allgemeinen Verbots politischer Parteien.
Der Militärputsch hatte die neofaschistische Bewegung geschwächt. Die MHP wurde verboten, Türkeş bekam politisches Betätigungsverbot und viele seiner Gefährten traten in die neu gegründeten Parteien wie die Mutterlandspartei (ANAP)5 von Turgut Özal ein. So konnten die langjährigen Türkeş-Gefährten wie Agah Oktay Güner (ANAP) und Yaşar Okuyan (ANAP) an ihrer »staatstragenden Karriere« weiterarbeiten.
Die MHP nach dem Militärputsch
Mit dem Militärputsch hatte ein Prozess begonnen, der weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen auf die Türkei haben sollte. Letztlich, so kann man das zugespitzt zusammenfassen, ging es darum, die politischen und ideologischen Voraussetzungen für die Organisierung des türkischen Kapitalismus im Rahmen eines autoritären neoliberalen Akkumulationsregimes zu schaffen. Ein ideologisches Gemisch aus Ataturkismus, Nationalismus und sunnitischem Islam, die sogenannte türkisch-islamische Synthese, sollten die neue Hegemonie der Junta untermauern. Während also einerseits der Ataturkismus und der kemalistische Laizismus die Staatsideologie ummantelten, konnte mit der kemalistisch-laizistischen Interpretation des sunnitischen Islam ein antikommunistischer Konservatismus tief in der Mehrheitsgesellschaft verankert werden. Die »türkisch-islamische Synthese« lieferte die innenpolitische Legitimation für die Transformation der politischen und ideologischen Grundlagen des Staates. Mit der Verbindung von aggressivem Antikommunismus, rassistischem Turkismus und sunnitischem Konservatismus schuf man eine Staatsideologie, die den inhaftierten stellvertretenden Vorsitzenden der neofaschistischen MHP, Agah Oktay Güner, zu dem Ausspruch reizte: »Wir sind im Kerker, aber unsere Gedanken sind an der Macht.«6Doch lange mussten die Neofaschisten nicht im Kerker sitzen. Verurteilte neofaschistische Massenmörder wie Abdullah Çatlı, Haluk Kırcı, Oral Çelik und viele andere wurden von der türkischen Konterguerilla angeheuert, um als Auftragskiller im Rahmen der sogenannten »Befriedungsoperation« (Huzur Operasyonu) des türkischen Staates auf europäischem Boden zu agieren. Die BRD wurde zum Hauptbetätigungsfeld, da entsprechende Strukturen schon vorhanden waren. Koordiniert wurde die »Befriedungsoperation« über die Geheimdienstleute in den Generalkonsulaten. Nach dubiosen Gefängnisausbrüchen wurden die Täter gegen führende Köpfe der armenischen Untergrundorganisation »ASALA«, dann gegen türkische Oppositionelle in Europa und später gegen kurdische Intellektuelle im Inland eingesetzt. Auf das Konto dieser »Grauen Wölfe«, denen erlaubt war, sich über Drogenhandel zu finanzieren, gehen zahlreiche Morde. Erst durch den Verkehrsunfall von »Susurluk«7 wurden Einzelheiten über die Verwicklungen des türkischen Staates, der »Grauen Wölfe« und von ihnen dominierter krimineller Banden der Öffentlichkeit bekannt.
In der Türkei konnten die Neofaschisten erst ab November 1985 wieder politisch agieren. Die im November 1985 gegründete »Nationalistische Arbeitspartei« (MÇP) nahm unter der Führung von Türkeş, der kurz davor per Volksabstimmung rehabiliert wurde, 1987 an den Parlamentswahlen teil und konnte ihren Parteinamen 1993 wieder in MHP umändern. Das Verhältnis der Neofaschisten zum türkischen Staat festigte sich wieder. Der kemalistische Laizismus wurde wie die neoliberale Wirtschaftspolitik der Junta öffentlich zur Parteiprogrammatik erklärt. Das führte aber zu Zerwürfnissen in der Partei. Insbesondere eine Gruppe um den früheren Vorsitzenden der »Idealistenvereine«, Muhsin Yazicioglu, der die Anbindung an den kemalistischen Laizismus ablehnte, übte scharfe Kritik an der Parteiführung, die ihrer Meinung »antiislamisch« agierte. 1992 kam es dann zum Bruch. Yazicioglu und seine Gefolgschaft traten aus der MHP aus und gründeten 1993 die »Große Einheitspartei« (BBP).
Geschwächt durch diese ideologischen Grabenkämpfe konnte die MHP bis zum Tod ihres Parteiführers Türkeş 1997 keine parlamentarischen Erfolge mehr verbuchen. Aber es gelang ihr, besonders während des schmutzigen Kriegs gegen die kurdische Bevölkerung in den 1990er Jahren, Parteimitglieder in den Repressionsapparat des Staates und in die Ministerialbürokratie einzuschleusen. 1997 übernahm der Parteiideologe und »Backgroundworker« Devlet Bahçeli den Vorsitz der Partei. Unter seiner Führung konnte die MHP bei den Wahlen am 18. April 1999 mit 19,6 Prozent Stimmenanteil als zweitstärkste Partei in das Parlament einziehen und Koalitionspartner der Ecevit-Regierung werden.
Die Koalitionsregierung musste während der großen Wirtschaftskrise 2000–2001 auf Drängen der Neofaschisten Neuwahlen ausrufen. Alle Koalitionsparteien, so auch die MHP mussten herbe Verluste hinnehmen. Die Neofaschisten erhielten bei den Wahlen 2002 nur 8,4 Prozent Zustimmung und konnten wegen der 10-Prozent-Hürde nicht wieder ins Parlament einziehen. 2002 begann die Ära der AKP und somit ein Prozess, in dem die neoliberale Akkumulationsregime im Rahmen eines neuen Hegemonieprozesses schrittweise reorganisiert wurde. Heute ist dieser Prozess an einem Punkt angekommen, an dem tiefe Transformationen innerhalb der gesellschaftlichen Klassen zu beobachten und inzwischen sämtliche rechtlichen, wie institutionellen Hindernisse für die Umsetzung neoliberaler Politik weitgehend beseitigt sind.
Nutznießer dieser Entwicklung war, neben den Islamisten, zweifellos die neofaschistische MHP. Obwohl die MHP in der AKP-Ära erst ab 2007 wieder im türkischen Parlament sitzt, aber nie in einer der AKP-Regierungen offiziell vertreten war, ist sie heute die wichtigste politische Stütze des autoritären AKP-Präsidialsystems. Mehr noch; in zivilen wie in militärischen Apparaten, in der Ministerialbürokratie und dem Polizeiapparat stehen Neofaschisten in entscheidenden Leitungspositionen. Die heutige MHP vergiftet weiterhin das gesellschaftliche Klima in der Türkei mit ihrer panturanistisch-nationalsozialistischen Ideologie und steht für die Errichtung einer offen faschistischen Diktatur Gewehr bei Fuß.
Türkische Neofaschisten in Europa
Die Diskussionen und die Berichterstattung über die Verbotsdebatte haben viele Informationen über das Wirken der türkischen Neofaschisten in Europa zu Tage gefördert. In den sozialen Medien finden sich zahlreiche Texte und Artikel über »Graue Wölfe«. Insofern sollte dieser Artikel als eine Ergänzung dieser Informationen verstanden werden.
Viele armenische, kurdische und türkeistämmige Antifaschist*innen haben die Verbotsdebatte mit einer gewissen Genugtuung verfolgt. Es ist in der Tat erfreulich, wenn gerade Abgeordnete der CDU/CSU nun endlich zu der Einsicht gelangt sind, dass man es bei den »Grauen Wölfen mit einer rechtsextremistischen faschistischen Organisation zu tun hat, deren ultra-nationalistische Ideologie menschenverachtend ist.« (CDU-Innenpolitiker Christoph de Vries)8
Erinnern müssen wir jedoch diese Politiker*innen daran, dass die türkischen Neofaschisten sich erst durch Unterstützung der verantwortlichen Politik in Deutschland organisieren konnten. So war die MHP die erste türkische Partei, die in Deutschland tätig wurde. Am 9. April 1973 wurde die MHP-Auslandsvertretung in Kempten eröffnet. Bis Ende Juli 1976 organisierte die MHP ihre Parteiarbeit legal und mit Wissen der Bundesbehörden. Die pro forma Auflösung am 28. Juli 1976 war keineswegs von deutscher Seite gewünscht, sondern das Ergebnis eines Urteils des türkischen Verfassungsgerichts, das türkischen Parteien verboten hatte, Auslandsvertretungen zu eröffnen. Obwohl Türkeş enge Beziehungen zu deutschen Neonazis aufgebaut hatte, 1970 auf Einladung des NPD-Vorsitzenden von Thadden nach Deutschland kam und Ende Juli 1977 seine Anhänger in Deutschland aufforderte, die Zusammenarbeit mit der NPD zu vertiefen, sowie »die Erfahrungen und Methoden der NPD für ihre Organisationsarbeit zu nutzen«, wurden die türkischen Neofaschisten von der Politik und den Bundesbehörden unterstützt. Während der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß am 1. Mai 1978 Türkeş persönlich empfangen und ihm tatkräftige Unterstützung zugesagt hatte, meinte Georg Tandler 1980, dass »die MHP und die Türk Föderation sich im Rahmen der Gesetze der Bundesrepublik für die Interessen der türkischen Republik und der türkischen Nation einsetzen« würden.
Erinnern müssen wir sie auch daran, dass die »Türk Föderation« am 17.–18. Juni 1978 in einem von der CDU gemieteten Saal im hessischen Schwarzenborg gegründet wurde. Während der ehemalige CDU-Innenminister in Rheinland-Pfalz, Heinz Schwarz, für die CDU den Kontakt zu Türkeş aufrecht hielt, verhalf der CDU-Stadtverordnete Hans-Eckhardt Kannapin dem Vorsitzenden der »Türk Föderation«, Lokman Kundakçi sowie dessen Nachfolger Musa Serdar Çelebi durch angebliche Beschäftigung in seinem fiktiven »Türkei Institut« zu Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen in der BRD. Diese sogenannten »wissenschaftlichen Mitarbeiter« gaben als Arbeitsadresse die Kannapin-Wohnung in Schwalmstadt an. Türkeş belohnte Kannapins Unterstützung mit mehreren Nordzypernaufenthalten, die er von seinen persönlichen Konten beglich. Als Kannapin 1980 beerdigt wurde, waren mehrere Führungskader der »Türk Föderation« anwesend.
Auch wenn diese Tatsachen nicht in Verfassungsschutzberichten enthalten sind, dürfte es den heutigen Abgeordneten der CDU/CSU Bundestagsfraktion nicht entgangen sein, wie sich die zahlreichen Vereine, Verbände und Firmen der türkischen Neofaschisten seit Jahrzehnten in der BRD und Europa organisiert und verankert haben. Die sehr informative Broschüre »Die Verflechtung deutscher Politik mit der MHP – am Beispiel der CDU/CSU« belegt eindrucksvoll diese Entwicklung bis heute.9
Und sicher ist den Bundesregierungen und Bundesbehörden, allen voran dem Bundesinnenministerium bekannt, dass neofaschistische Mörder sich unbehelligt bis heute in Deutschland aufhalten. So ist vor kurzem bekannt geworden, dass der neofaschistische Mörder Ethem Kiskis, der an dem »Balgat Massaker«10 beteiligt war, bis zu seinem Tod 2020 in Frankfurt am Main gelebt und gearbeitet hat. So wie er wurde bis heute kein einziger türkischer neofaschistischer Mörder in Deutschland vor Gericht gebracht.
Der eigentliche Hintergrund der Verbotsdebatte
Wenn heute der Deutsche Bundestag mehrheitlich der Auffassung ist, dass das Bundesinnenministerium ein Organisationsverbot zu prüfen habe, dann ist das zu unterstützen. Nicht nur das: es gilt weiterhin die Durchsetzung eines Verbots zu fordern. Dafür benötigt man keinen Bundestagsbeschluss, das gültige deutsche Vereinsrecht verfügt über genügend Instrumente. Was aber notwendig ist, ist der politische Wille dazu, der bisher gefehlt hat und möglicherweise noch lange auf sich warten lassen wird.
Die bisherigen Erfahrungen mit den Bundesregierungen in der Frage des Umganges mit Neofaschisten lassen da leider wenig Hoffnung. Die Tatsache, dass die genannten Organisationen ihr »volles Vertrauen in unsere unabhängige Justiz in Deutschland« erklären, deutet daraufhin, dass Verbote nur Drohungen bleiben werden. Abgesehen davon hat die ganze Verbotsdebatte einen Haken.
Zum einen geht es bei den angedrohten Organisationsverboten um ein »Faustpfand« gegenüber der türkischen Regierung, was in Ankara auch als solches angesehen wird. Das symbolische Verbot in Frankreich hat einen klar ausgesprochenen außenpolitischen Charakter. Der eigentliche Hintergrund der Verbotsdebatte ist in der Politik des türkischen Staates in Ostmittelmeer, in der Ägäis, in Libyen, Syrien und in Kaukasus zu suchen. Die Bundesregierung steht vor einem Dilemma; einerseits musste sie den Forderungen Frankreichs, Zyperns und Griechenlands nachgeben, andererseits dafür Sorge tragen, dass der strategische Handelspartner Türkei auf Kurs gehalten wird. Daher wurde eine Entscheidung auf dem EU-Gipfel im Juli 2020 auf Betreiben der Bundesregierung vertagt. Nun wird auf dem EU-Gipfel im Juni 2021 wieder über die Türkei verhandelt. Unlängst waren EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Ratspräsident Charles Michel in Ankara und haben viele Zugeständnisse versprochen. Die innenpolitischen Diskussionen in der Türkei belegen, dass der »Faustpfand« schon jetzt Wirkung zeigt. Der Machtkampf im türkischen Staat ist im vollen Gange.
Zum anderen ist der türkische Neofaschismus organisatorisch nicht mehr nur mit den »Grauen Wölfen« einzugrenzen. Neben den Organisationsstrukturen der »Grauen Wölfe«, also der genannten Verbände, gibt es weitere türkische Organisationen, welche sich die Staatsideologie der »türkisch-islamischen Synthese« zu eigen gemacht haben und in Institutionen wie der Islam-Konferenz oder Integrationsgipfel der Bundesregierung vertreten sind. Sie werden von der Politik als Gesprächspartner anerkannt und aus zahlreichen Töpfen finanziell gefördert. Als Beispiele sollte die Nennung von Organisationen wie der DITIB, dem Zentralrat der Muslime oder der VIKZ (Verband der Islamischen Kulturzentren) ausreichend sein. Hinzu kommt die Tatsache, dass der »Wolfsgruß«, neben dem »Rabia-Gruß«, was »eine Nation, eine Fahne, ein Vaterland, ein Staat« bedeutet, zum Allgemeingut aller türkischen Konservativen und Nationalisten geworden ist. Islamisten und türkische Neofaschisten stehen nicht nur in der türkischen Regierung, sondern auch in zahlreichen Vereinen, Sportclubs, Moscheen oder Verbänden in Europa Seit‘ an Seit‘. Und nicht zuletzt fehlt in dieser Debatte, die politische Auseinandersetzung mit der bundesdeutschen Unterstützung türkischer Neofaschisten über Jahrzehnte.
Es steht außer Frage, dass bürgerliche Demokratien, die sich mit Organisationsverboten gegen Faschisten aller Art wehren wollen, sie sich der vollen Unterstützung von Antifaschist*innen ohne Wenn und Aber sicher sein können. Ein Verbot aller faschistischen Organisationen ist mehr als überfällig. Trotzdem müssen weitergehende Schritte unternommen werden. So ist die Aufarbeitung der Entwicklungsgeschichte und das Benennen der politisch Verantwortlichen an der Etablierung türkischer Neofaschisten in der BRD sowie Aufklärung, Öffentlichkeitsarbeit und der Kampf um die Köpfe innerhalb der türkeistämmigen Community weiterhin notwendig. Gerade das ist und bleibt die Aufgabe der Antifaschist*innen.
Murat Cakir ist Regionalbüroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen und beschäftigt sich nicht nur mit der türkischen Rechten in der Türkei und Deutschland, sondern auch mit Erfreulicherem: Gemeinsam mit dem Historiker und Journalisten Nikolaus Brauns veröffentlichte er das Buch „Partisanen einer neuen Welt – Eine Geschichte der linken und Arbeiterbewegung in der Türkei“, Berlin 2018.
Literatur:
Antifa-Broschüre: Die Verflechtung deutscher Politik mit der MHP — am Beispiel der CDU/CSU“, https://de.indymedia.org/sites/default/files/2018/09/29899.pdf, vgl. auch: http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2018/64-kr-200-november-dezember-2018/761-saebelrasseln-statt-ernsthafter-feindschaft
Aslan, Fikret/Bozay, Kemal (Hg.), »Graue Wölfe heulen wieder«, Unrast Verlag 2012
Brändle, Stephan: Frankreich verbietet die türkische Organisation Graue Wölfe, in Frankfurter Rundschau, 5.11.2010: https://www.fr.de/politik/erdogan-marcon-verbot-frankreich-graue-woelfe-tuerkei-90090612.html
Brauns, Nick/Çakır, Murat: »Partisanen einer neuen Welt: Eine Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung in der Türkei«, Die Buchmacherei, Berlin 2018
Bundestagsfraktion Die Linke: Graue Wölfe und deren Vereinigungen in Deutschland verbieten: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/243/1924363.pdf
Deutscher Bundestag: Stenografischer Bericht, 191. Sitzung, Berlin, Mittwoch, 18. November 2020: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw47-de-graue-woelfe-804216
Çakır, Murat: »Die Pseudodemokraten. Türkische Lobbyisten, Islamisten, Rechtsradikale und ihr Wirken in der BRD«, GDF-Publikationen 2000
Hoffmann, Barbara/Opperskalski, Michael/Solmaz, Erden, »Graue Wölfe, Koranschulen, Idealistenvereine. Türkische Faschisten in Deutschland«, Pahl-Rugenstein 1981
Rammestorfer, Thomas, »Graue Wölfe. Türkische Rechtsextreme und ihr Einfluss in Deutschland und Österreich«, LIT Verlag 2018
Türkeş, Alparslan: „Alparslan Türkeş Diyor ki“ (d.: „Alparslan Türkeş sagt“),
Fußnoten:
1 Die Ideologie des Panturkismus und Turanismus behauptet die rassistische, historische und moralische Einheit und Überlegenheit aller Turkvölker, von Afghanistan/China bis zum Südostzipfel des Balkans. Propagiert wurde und wird die Vereinigung dieser Völker in einem großtürkischen Reich unter türkischer Vorherrschaft. Die turanistische bzw. panturkistische Idee schließt jede Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten und Religionen von vornherein aus. Weitere Informationen in: Kemal Bozay, »Graue Wölfe – die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland«,: https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/260333/graue-woelfe-die-groesste-rechtsextreme-organisation-in-deutschland
2 Alparslan Türkeş, geboren am 25.November 1917 in Nikosia, verstorben am 4. April 1997 in Ankara. Weitergehende biografische Informationen siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Alparslan_Türkeş
3 Siehe: https://www.sozcu.com.tr/2015/yazarlar/soner-yalcin/ulkucu-kardesim-ruhi-kilickiran-752611/
4 https://www.tasav.org/alparslan-turkes-in-turk-dunyasina-iliskin-gorusleri.html
5 ANAP: »Mutterlandspartei« (Anavatan Partisi), gegründet nach dem Militärputsch von Turgut Özal.
7 Siehe: »Susurluk-Skandal«, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Susurluk-Skandal
8 https://www.cducsu.de/themen/innen-recht-sport-und-ehrenamt/christoph-de-vries-die-grauen-woelfe-sind-rassistische-antisemitische-tuerkische-ultranationalisten
9 https://de.indymedia.org/sites/default/files/2018/09/29899.pdf, vgl. auch: http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2018/64-kr-200-november-dezember-2018/761-saebelrasseln-statt-ernsthafter-feindschaft
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