![](https://antifra.blog.rosalux.de/files/2018/11/1-Palestra-Popolare-Quarticciolo.jpg)
„Wir befinden uns zur Zeit an einem kritischen Punkt – einem entscheidenden Moment. ‚CasaPound Italia‘ verfügt über eine sehr große Bewegung. Aber wir können sie stoppen, wenn wir es schaffen mit anderen Genoss*innen koordiniert zusammen zu arbeiten. Wenn wir aber warten, werden sie weiter wachsen und es wird sehr schwer für uns werden.“ So Pietro, ein Mitglied des antifaschistischen Kollektivs „Quarticciolo Ribelle“ aus Rom.
Am 25. September diesen Jahres traf sich antifra*-Korrespondent Heiko Koch mit Pietro und Marco in dem von ihrem Kollektiv besetzten Haus an der Piazza Quarticciolo in Rom. Er befragte sie zu der politischen Situation in Italien, sowie zu der Stadtteilarbeit ihre Kollektivs. Im Anschluss an das Interview zeigten sie mir den von ihnen betriebenen „Palestra Popolare Quarticciolo“, der sich unweit des Piazza in der Via Ostuni 4 befindet und wo gerade ein Boxtraining für Teenager stattfand.
Heiko Koch: Hallo, bitte stellt Euch und Euer Kollektiv vor.
Pietro: Wir gehören dem Kollektiv „Quarticciolo Ribelle“ an, das in diesem Stadtteil arbeitet. Es ist Teil eines weit größeren Kollektivs, das sich „Degage“ nennt und hier in Alessandrino, aber auch an der Universität, präsent ist. „Degage“ entstand im Jahr 2013. Das Wort „Degage“ kommt aus dem arabischen Frühling, der 2010 und 2011 seinen Anfang nahm. Frei übersetzt heißt „Degage!“ so etwas wie „Hau ab!“ und galt den dortigen Machthabern wie Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien oder Husni Mubarak in Ägypten. Zunächst entstand das Kollektiv in der Universität Rom I, an der „La Sapienza“. Mit anderen Kollektiven in Italien haben wir einen Verbund, der sich Info.Aut nennt. Info.Aut spiegelt die Erfahrungen und autonomen Kämpfe der in ihm organisierten Centri Sociali, der politischen Kollektive der Hochschulen und der „Lotta di casa“ – dem Kampf um die Rechte der Wohnenden — wider.
Marco: Zuerst hat „Degage“ die Kämpfe um Wohnraum von der Universität aus unterstützt. In der Zusammenarbeit mit der Bewegung für das Recht auf Wohnen haben wir dann eine Haus in der Innenstadt, in der Nähe der Universität, besetzt. Im August 2015 wurde das Gebäude durch die Polizei geräumt. Daraufhin kamen wir in diesen Stadtteil und haben an dieser Piazza ein Haus besetzt. Wir kamen aus drei Gründen hierher. Zunächst wollten wir politisch aktiv in das soziale Leben dieses Stadtteils an der Peripherie Roms wirken. Dies gezielt von der Präsenz eines besetzten Hauses aus. Denn allzu oft stehen besetzte Häuser isoliert von ihrer Nachbarschaft dar. Ein weiterer Grund in diesen Stadtteil zu kommen war der, das in dem nahe gelegenen Stadtteil Tor Sapienza Ende 2014 ein Pogrom gegen Flüchtlinge stattgefunden hat. Es waren Bewohner*innen des Stadtteils und vor allem die Faschist*innen von „CasaPound“ und „Forza Nuova“, die sich an den Angriffen auf das Aufnahmezentrum für Flüchtlinge, die drei Nächte andauerten, beteiligten. Ein ägyptischer Jugendlicher wurde mit mehreren Messerstichen verletzt. Auch versuchten die Faschist*innen die Unterkunft der Flüchtlinge anzuzünden. Daraufhin gab es ein großes Medienecho und es wurde in der Öffentlichkeit und der Politik breit über das Pogrom diskutiert. Auch in der römischen Linken wurde über die Situation in den Stadtteilen der Peripherie, den Rassismus und die Aktivitäten der radikalen Rechten in den Stadtteilen diskutiert. Auf Grund dessen entschieden wir uns hierher zu kommen, um diese Situation zu kontrastieren – diesen Bedingungen und Voraussetzungen entgegenzuwirken. Wir glauben, dass wir hier etwas bewirken können, was diesem Stadtteil fehlt.
Pietro: Wir hatten in unserer Besetzung nahe der Universität einige Erfahrungen gesammelt. So hatten wir dort einen Trainingsraum und standen im direkten Kontakt mit unserer Nachbarschaft, die auch an der Auseinandersetzung für Wohnrechte beteiligt war. Also im Widerstand gegen Zwangsräumungen und dergleichen. Gerade hier in diesem Stadtteil besteht ein großer Bedarf sich für das Recht auf Wohnen einzusetzen und Erfahrungen aus solchen Wohnraumkämpfen zu sammeln.
H.K.: Hat sich durch eure Präsenz im Stadtteil etwas geändert?
Pietro: Die Situation in dem Stadtteil hat sich geändert. Heute können wir bei Problemen mit Faschist*innen im Stadtteil ganz anders reagieren. Und zwar mit den Leuten aus der Nachbarschaft. Das erleben wir zum ersten Mal. Früher, als wir nur in der Universität in der Innenstadt aktiv waren, standen wir den Faschist*innen vor Ort alleine gegenüber. Jetzt können wir mit den Leuten aus dem Stadtteil gegen die Zwangsräumungen arbeiten, aber auch gegen die Faschist*innen. Früher hieß es „Wir gegen die Faschisten“. Heute stehen Leute aus dem Stadtteil neben uns – gegen die Faschist*innen. Unsere Arbeit ist nicht leicht, da viele Leute aus dem Stadtteil Vorurteile und rassistische Ressentiments gegen Migrant*innen und Geflüchtete haben. Aber das ist was wir machen.
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H.K.: Welches Verhältnis haben die Leute von der Piazza Quarticciolo zu euch als Student*innen, die von außerhalb des Quartiere hierhin gekommen sind?
Pietro: Die Leute sind sehr solidarisch mit uns. Das hat mehrere Gründe. Zunächst wurden wir von der Polizei geräumt und vertrieben. Dann sind wir im Stadtteil jeden Tag sozial aktiv, haben einen Box-Club für die Jugendlichen des Stadtteils eröffnet, arbeiten an den Schulen, helfen den Leuten bei ihren Problemen in Mietsachen und gehen mit italienischen und migrantischen Familien gegen Zwangsräumungen vor.
H.K.: Was genau macht ihr an den Schulen?
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Marco: Wir sind dort mit einem Workshop zur Geschichte dieses Stadtteils präsent. Der Stadtteil wurde zur Zeit des Faschismus erbaut. Auch dieses Gebäude in dem wir uns gerade befinden. Es war ein „Casa del fascio“. Du hast gesehen wie hoch dieses Gebäude mit den sechs Stockwerken gebaut ist. Mit seiner Höhe sollte es über den Stadtteil triumphieren. Im Quartier gab es aber einen sehr starken Widerstand gegen die deutsche Besatzung und die Faschist*innen. Die Antifaschist*innen waren sehr gut organisiert, kämpferisch und befreiten sich selbst vom Faschismus. So organisieren wir Zusammenkünfte der Kinder und Jugendlichen mit Partisan*innen und alten Bewohner*innen des Stadtteils für Zeitzeugen-Gespräche, so dass sie die Geschichte ihres Stadtteils erforschen können.
H.K.: Wir haben uns in Paris, anlässlich des 5. Jahrestag zur Erinnerung an Clement Meric, kennengelernt. Wie kommt es, dass ihr als ein Kollektiv, das sich stark für das Recht auf Wohnen einsetzt, nach Paris gefahren seid?
Marco: Wir sind ein antifaschistisches Kollektiv und stehen im Austausch mit den Genoss*innen von der „Antifa Paris Banlieu“ [sinngemäß: Vorstadt-Antifa Paris], die eine ähnliche Stadtteilarbeit wie wir machen.
H.K.: Kannst Du das näher erläutern?
Pietro: Vor drei Jahren – anlässlich eines antifaschistischen Festivals gab es ein Treffen von unterschiedlichen Antifa-Gruppen aus Italien und aus verschiedenen europäischen Ländern. Zuvor hatten wir ein eher instinktives, reflexives Verhältnis im Bereich des Antifaschismus. Wir reflektierten und analysierten wenig und stellten uns nicht strategisch auf. Wir haben gesehen wie sich CasaPound und andere kleine Gruppen in Rom organisierten und sahen es als dringend nötig an, unsere Arbeit zu koordinieren und Informationen und Erfahrungen auszutauschen. Wir denken, dass in dem Bereich sozialer und antifaschistischer Arbeit in den Nachbarschaften der metropolitanen Peripheren die „Antifa Banlieu“ zur Zeit die am weitesten fortgeschrittene Arbeit leistet. Zudem ähnelt das, was sie machen, in den politischen Standpunkten sehr dem, was wir hier an Piazza Quarticciolo an politischer und sozialer Arbeit betreiben.
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H.K.: Am 4. März diesen Jahres waren in Italien die Parlamentswahlen. Als große Gewinner gingen die „Movimento 5 Stelle“ [Fünf-Sterne-Bewegung] mit ihrem Kandidaten di Maio und die „Lega“ mit Matteo Salvini aus den Wahlen hervor. Dabei konnte die „Lega“ den auf sie abgegebenen Stimmenanteil vervierfachen. Wie kam es zu diesen Wahlerfolgen?
Pietro: Zunächst denken wir, dass sehr viele Menschen sehr wütend auf die Regierungsparteien waren – also vor allem auf die sozialdemokratische „Partido Democratico“ (PD), auf andere kleinere Parteien, aber auch auf die „Forza Italia“ von Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi. Der „Lega“ und der „Movimento 5 Stelle“ gelang es, sich während der letzten Krisen als einzige Opposition gegen die Austeritätspolitik in Europa darzustellen. In ihrem vereinfachten Diskurs stellen diese Populist*innen es so dar, dass der Prozess und die Folgen der Globalisierung, der Politik der EU und auch die Migration in ihrer Gesamtheit sich gegen das italienische Volk richten würden. Allein das italienische Volk hätte für all diese Kosten aufzukommen, usw. In den letzten 10 Jahren sind in Italien – vor allem in den Vorstädten der Metropolen und auf dem Land – die Probleme auf Grund der Arbeitslosigkeit und mangelnden sozialen Wohlfahrt enorm angestiegen. Diese Folgen der Austeritätspolitik mischen „Movimento 5 Stelle“ und „Lega“ in ihrer Propaganda mit der Immigration nach Italien.
H.K.: Und warum schaffen es die linke Gruppierungen und Parteien nicht, Armut und Ausgrenzung zu thematisieren und auf die verursachenden Prinzipien und konkreten Strukturen dieser Prozesse hinzuweisen, Lösungskonzepte zu entwickeln und anzubieten?
Marco: Das ist ein Problem worüber derzeit alle Linken in Italien diskutieren. In einer systematischen Antwort kann man sagen, das die linken Parteien kompromittiert sind durch ihre Teilnahme an der Krisenpolitik der letzten Regierungen. Sie sind mitverantwortlich für soziale Einschnitte, Arbeitslosigkeit, Deregulierungen und und und. In vielen Bereichen entpuppten sie sich als die Mitverursacherinnen der Misere und als Feindinnen. Ihre Propaganda sprach immer von den Rechten der Bevölkerung, in Wahrheit stellten sie sich gegen sie auf. Die institutionelle Linke hat sich komplett kompromittiert. In den politischen und sozialen Bewegungen stellt sich das Problem der Kapazität. Dort gibt es gute Bewegungen. Für das Recht auf Wohnen, gegen den „Treno ad Alta Velocitá“ – den Hochgeschwindigkeitszug –, die Centri Sociali, studentische Kollektive. Aber wir es gibt eine große Zersplitterung und Fragmentierung. Zwar wird in den Bewegungen zu vielem gedacht und gearbeitet, aber jeder und jede hat dort seine eigene Agenda und Road Map. Anscheinend können wir nur dann zusammen kommen und zusammen handeln, wenn es zu spät ist, wenn wir nur noch reagieren können. Aber nicht wenn es sich um gemeinsame Zukunftsstrategien handelt. Wir hatten eine Menge Gelegenheiten negative Abläufe zu stoppen, da „Movimento 5 Stelle“ an vielen Stellen sehr schwach war. Aber es war uns nicht möglich das umzusetzen, wir hatten keine Kapazitäten dafür.
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H.K.: Im letzten Jahr konnte man in der Zeitung „La Republicca“ und dem Magazin „L‚Espresso“ viel über die steigende rassistische Gewalt und faschistische Angriffe lesen. Stimmt ihr zu, dass die Ausmaß und die Vehemenz rechter Angriffe in Italien gestiegen sind?
Pietro: Ja, es gibt überall in Italien einen signifikanten Anstieg faschistischer Aktionen und Gewalt. Vor allem in der Provinz, auf dem Land, dort wo es keine linken und antifaschistischen Strukturen gibt. Aber es sind nicht so sehr diese Angriffe die uns Sorgen machen, sondern das kulturelle und soziale Engagement der Rechten. Bei der Gewalt hat sich auch etwas verändert und es stellt sich ein weiteres Problem. Früher galten die Angriffe mehr den linken Infrastrukturen, den Centri Sociali, studentischen Kollektiven usw. Das passiert zur Zeit sehr selten. Jetzt greifen sie vor allem mit extremer Gewalt einzelne Migrant*innen in aller Öffentlichkeit an und nutzen diese „Ultraviolence“ als Form der Propaganda. Es ist eine sehr komplizierte Situation. Die Zeitung „La Repubblicca“ betreibt darin eine Form von Alarmismus mit ihren Berichten, weil sie einen antifaschistischen Konsens von der sozialdemokratischen Partido Democratico bis zu den linken Gruppen für diesen Staat und seine Demokratie schaffen wollen. Aber die Situation ist wesentlich komplexer als sie es darstellen. Wir müssen in den Problemfeldern arbeiten, um die Verankerung der Faschist*innen in den sozialen Feldern, wie z.B. den Stadtteilen, zu verhindern.
H.K.: Am 3. Februar ist der bekennende Faschist und „Lega“-Wahlkandidat im Jahr 2017, Luca Traini, durch die Stadt Macerata gefahren und hat zwei Stunden lang aus dem fahrenden Auto heraus auf schwarze Migrant*nnen und auch das Büro der PD geschossen. Gut ein halbes Dutzend Afrikaner*innen wurden verletzt. Glücklicherweise kam niemand ums Leben. Die Faschist*innen von „Forza Nuova“ jubelten. In einer dreisten Opfer-Täter-Umkehr erklärte der heutige Innenminister Matteo Salvini allen Ernstes: „Die moralische Verantwortung für diese Tat tragen diejenigen, die das Land mit illegalen Einwanderern gefüllt haben“. Und Silvio Berlusconi sprach über „illegale“ Einwanderer: „Sie sind eine Zeitbombe, die jederzeit explodieren kann, weil sie von Verbrechen leben“. Beide Politiker überboten sich dabei in Wahlversprechen, wie viele Einwander*innen sie bei einem Wahlerfolg abzuschieben gedächten. In den darauf folgenden Wochen bis zur Wahl im März 2018 kam es zu einem Anstieg von Demonstrationen und Blockadeversuchen seitens Antifaschist*innen gegen „Forza Nuova“-, „CasaPound“- und „Lega“-Veranstaltungen.
Pietro: Genau.
H.K.: Ich sah in diesen antifaschistischen Aktivitäten so etwas wie ein Aufwachen. Dass nun endlich viele Linke begreifen, wie ihnen das Land und seine Menschen komplett zu entgleiten drohen. Kann man das so sagen?
Pietro: Ja, das kann man so sagen. Aber man muss zwei Umstände hinzufügen. Nachdem Luca Traini auf die Migrant*innen geschossen hatte, sprachen sich alle Parteien der institutionellen Linken, aber auch radikale Linke, gegen eine antifaschistische Demonstration in Macerata aus. Sie sprachen sogar von dem Faschismus der Antifaschist*innen. Wir seien gewalttätig. Wir würden die Faschist*innen angreifen wollen. Wir seien es, die die Bevölkerung verängstigen. Wir würden den Faschist*innen einen Gefallen tun usw. Man müsse mit Petitionen und friedlichen Kundgebungen auf die Mordversuche reagieren. Und auch in den Zeitungen und im Fernsehen wurde breit gegen eine antifaschistische Reaktionen auf dieses „drive by shooting“ argumentiert. Das stellte natürlich ein großes Problem für uns dar. Das Zweite betrifft das, was ich schon vorhin sagte. Erst dann, wenn wir ein wirklich dickes Problem haben, arbeiten wir zusammen. Zwei, drei Monate funktionierte die Zusammenarbeit nach Macerata. Wir schaffen es nur in der Tragödie zusammen zu halten. Es ist wirklich kompliziert. In Rom z.B. gibt es viele Probleme zwischen den unterschiedlichen Gruppen. Aber in dieser Zeit lief die Kommunikation über die gemeinsame antifaschistische Situation sehr gut. Und schaut man auf die letzten eineinhalb Jahre zurück, so ist das schon eine gute Entwicklung. Und es gibt einen großen Unterschied zwischen unseren Voraussetzungen politisch aktiv zu sein und z.B. „CasaPound“. „CasaPound“ verfügt über weit größere Kapazitäten, über Geld, Einfluss und auch, was den Zugang zu behördlichen Genehmigungen von Kundgebungen und Demonstrationen betrifft. Wenn wir eine Demonstration oder eine Straßenfest anmelden wollen, müssen wir bis zu drei Monate auf die Bewilligung seitens der Behörden warten. Ein solches Problem hat „CasaPound“ nicht. Seitens der Behörden erhalten sie innerhalb kurzer Zeit die beantragten Bewilligungen und können ihre öffentliche Auftritte absolvieren. Das sind sehr verschiedene Ausgangspunkte. Zur Zeit ist es so, dass „CasaPound“ jeden Punkt, jeden Ort, wo sich Geflüchtete in Rom aufhalten, angreift. Wenn jetzt Angriffe auf Geflüchtete erfolgen, die z.B. in einer von der katholischen Kirche geführten Unterkunft wohnen, ist unsere Situation adäquat auf die Angriffe zu reagieren sehr schwierig. Aus diesen Gründen wollen wir auf diesem Feld – in den Nachbarschaften und Stadtteilen – arbeiten, bevor die Faschist*innen versuchen hier Gefolgschaft zu finden. Wenn sie erst einmal vor Ort sind, wird es sehr schwierig für uns.
H.K.: „Movimento 5 Stelle“ und „Lega“ bilden seit Juni die derzeitige Regierung. Wer von den beiden gibt die Richtung vor? Die „Lega“ mit Matteo Salvini oder „Movimento 5 Stelle“ mit di Maio?
Pietro: Ich denke die „Lega“ mit Salvini. Mit Salvini wuchs der Konsens zwischen der „Movimento 5 Stelle“ und der „Lega“. Aber in einigen Punkten hat „Movimento 5 Stelle“ die Führerschaft. Etwa in diesem Desaster mit der eingestürzten Brücke in Genova, beim Grundeinkommen, den sozialen, wirtschaftlichen und den Wohlfahrtsfragen usw. Salvini hingegen hat das Sagen in Sicherheitsfragen, bei der Migration usw. Da gibt es große Unterschiede in den Kompetenzen.
H.K.: Gestern machte Salvini eine weitere Ankündigung, den Aufenthalt von Flüchtlingen in Italien zu erschweren – ihre Einreise, ihren Verbleib und ihren Inanspruchnahme des Rechts auf Asyl. Zudem kommen Salvinis Verordnungen, mit denen er als Innenminister seit Wochen die Schiffe der NGOs zur Rettung von Flüchtlingen aus Seenot am Ein- wie Auslaufen in bzw. aus italienischen Häfen hindert. Diese Form administrativen Rassismus seitens der italienischen Regierung nimmt immer mehr zu. Hilft diese staatliche Politik den Faschist*innen bei ihrer Agitation? Oder kann man behaupten, dass die „Lega“ selbst faschistische Politik betreibt?
Marco: Es ist nicht neu, dass Salvini die Nähe der Faschist*nnen sucht. Sei es Georgia Meloni, der Parteichefin von „Fratelli d‚Italia“ oder „CasaPound“. Die „Lega“ und „CasaPound“ hatten vor drei Jahren noch ein Parteibündnis mit dem Namen „Sovranità“ [Souveränität]. Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, das Salvini beim gemeinsamen Essen mit der Führungsspitze in dem römischen Lokal „Osteria d‚Angelo“ zeigt, dem Restaurant von Gianluca Ianonne, dem Chef von „CasaPound“. Außer ihm selbst waren bei dem Essen Simone di Stefano, Davide di Stefano, Francesco Polacchi und weitere Faschist*innen von „CasaPound Italia“ anwesend. Salvini brauchte die „CasaPound“ als Standbein bei den Wahlen für den von der „Lega“ seit ihrer Gründung so diffamierten italienischen Süden. Die „Lega“ will sich ja nach dem Vorbild der „Front National“ – jetzt Rassemblement National – in Frankreich aufstellen und auch in Süditalien gewählt werden. Deshalb heißt sie auch nicht mehr „Lega Nord“, sondern nur noch „Lega“. Meiner Meinung nach kann es durchaus sein, dass ein solches Bündnis mit den Faschist*innen in Zukunft von der „Lega“ wieder gesucht wird.
Pietro: Die Situation ist nicht klar. Matteo Salvini hat das Problem, das er über einen großen Parteiapparat im Norden Italiens verfügt. Aber im Süden Italiens verfügt die Partei nur über eine dünne Infrastruktur und niedrige Personaldecke. „CasaPound“ übernahm für die „Lega“ vor einigen Jahren die Arbeit in den Regionen des Südens. Sie gründeten das Bündnis „Sovranità“. Ich weiß nicht, ob es noch einmal zu einem solchen Bündnis kommt. Aber ich denke es könnte möglich sein, wenn sich die Gesellschaft noch mehr nach rechts entwickelt. Der propagierte Rassismus hilft aber auf jeden Fall den Faschist*innen. Auch umgekehrt ist eine Annäherung zu sehen. Erst neulich hat die national-revolutionäre Organisation „Il Movimento Politico Occidentale“ – eine äußerst aggressive Skinhead-Organisation unter Maurizio Boccacci, von der selbst „Forza Nuova“ Abstand hält – ein ähnliches Programm wie die „Lega“ veröffentlicht: „Italiener zuerst“, Abwehr der Migration etc. p.p. Auch von dieser Seite kann man also Annäherungsversuche sehen.
H.K.: In den letzten Jahren war zu beobachten, dass Gruppierungen wie z.B. „Lealtà Azione“ aus Norditalien, soziale Aktivitäten nach dem Vorbild von „CasaPound Italia“ entwickelten. Aber auch andere faschistische Organisationen traten in Erscheinung, die ähnliche soziale Projekte starteten. Wie kann man das einordnen? Ist CasaPound hier ein Vorbild in seiner Strategie der Durchdringung aller sozialen, kulturellen und politischen Bereiche? Oder handelt es sich um das Zelebrieren des alten ideologischen Modells des angeblich dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus, einem „Fascismo Sociale“, eines kooperatistisch ausgerichteten Sozial- und Wirtschaftsmodell in einem faschistischen Staat?
Pietro: Das meiste, was die Faschist*innen zur Zeit im sozialen Sektor unternehmen, sind Aktionen, die dazu dienen sollen, ihnen über die sozialen Medien ein Image zu verschaffen. Es gibt wenig, was eine reale Bedeutung oder Einfluss auf das normale Leben der betroffenen Personengruppen hat. Zur Zeit liegt das Gros der Aktionen auf der Ebene der rassistischen Mobilisierung. Wenn Migrant*innen im Stadtteil sichtbar werden, engagieren sich dort die Faschist*innen. Werden die Migrant*innen in einem anderen Stadtteil sichtbar, erscheinen die Faschist*innen dort.
Generell kann man sagen, dass die Arbeit der Faschist*innen in den sozialen Bereichen und Feldern einem Experimentierfeld gleicht.
H.K.: Bei meinen Recherchen zu „CasaPound Italia“ bin ich sehr oft auf die Kampagnen „Distribuzione Alimentari“, das Sammeln und Verteilen von Lebensmitteln, und „Riqualificazione“, die Übernahme kommunaler Aufgaben im öffentlichen Raum, gestoßen. Also Parks säubern, Straßen ausbessern, Spielplätze pflegen usw. Aber auch auf sozialen Aktivismus für Menschen mit Handicaps und der Forderung nach Inklusion behinderter Menschen bin ich gestoßen. Darüber hinaus ist der gezielte Aufbau von Infrastrukturen zu verzeichnen: Die Eröffnung von Treffpunkten – Cafè, Bars, Restaurants, Parteisitze, Buchhandlungen, Tattooläden usw. Zu den üblichen Plakaten und Aufklebern kommt die Nutzung von Graffiti, Stencils und Outcuts bei ihren Bemühungen hinzu, auf den Straßen und Plätzen Propaganda zu betreiben und die Kommunikation im öffentlichen Raum so zu beeinflussen. Das heißt „CasaPound“ bemüht sich um den Aufbau von lokalen Infrastrukturen sowie mit Aktionen und Parolen jederzeit sichtbar und gegenwärtig im öffentlichen Raum zu sein. Seht ihr das als Strategie?
Pietro: Ja sicher. Dies ist eine Übernahme des Vorgehens der „Goldenen Morgenröte“ aus Griechenland. Zwischen „CasaPound“ und der „Goldenen Morgenröte“ gibt es sehr viele Verbindungen. Und dies Vorgehen von „CasaPound“ finden wir seit 2012/2013, wo es viele Treffen mit den griechischen Faschist*innen hier in Rom zu diesen Themen gegeben hat.
Marco: Eine weitere Strategie von „CasaPound“ ist die Arbeit mit jungen Menschen über Musik, Tattoos, Pubs, Besetzungen usw. Dies gehört zu den Wurzeln der „CasaPound“, die aus einem solchen Milieu in Rom entstanden ist. Aber „CasaPound“ ist seit ihren Anfängen gewachsen und hat sich von Rom aus über ganz Italien ausgedehnt. Das Hauptanliegen „CasaPounds“ ist zur Zeit die Ausbreitung und der Aufbau ihrer Organisation in ganz Italien. Auch in ländlichen Regionen und in den Bergen bis in kleine Kommunen. Wie z.B. in dem Dorf, aus dem ich komme. Dort ist der Parteisitz von „CasaPound“ zwar meistens geschlossen, aber „CasaPound“ hat dort erst mal einen offiziellen Sitz. Das nationale Netzwerk von „CasaPound“ ist seit zwei, drei Jahren stetig am wachsen. Man kann sagen, dass „CasaPound“ in den Strukturaufbau der Partei und die rassistische Mobilisierung zur Zeit ihr Hauptaugenmerk legt. Die sozialen Aktivitäten von „CasaPound“ hingegen sind quantitativ nicht so stringent, eher noch sporadisch, lokal begrenzt und sehr oft nur medial betrieben. Wie gesagt, zur Zeit greifen sie vor allem die Flüchtlinge an. Vertreiben sie aus den Parks, attackieren die migrantischen Verkäufer*innen an den Stränden, usw. Und genau das ist unsere Aufgabe zur Zeit: die rassistische Politik von „CasaPound“ und Co zu konfrontieren.
H.K.: Kann man das Vorgehen und die Methoden von „CasaPound“ als Strategien bezeichnen? Und kann man dieses Vorgehen mit einem Schachspiel vergleichen, in dem man über die Strategien seines Gegners Bescheid wissen muss – sonst verliert man? Das heißt, das Wissen über Strategien und Taktik des Feindes ist unablässig und der Schlüssel zum Sieg?
Pietro: Ja, aber warum fragst Du danach?
H.K.: Mich interessieren nicht so sehr die Phänomene und die temporären Erscheinungsbilder, sondern die Strukturen, Abläufe, Prozesse und somit Methoden, Taktiken und Strategien.
Pietro: „CasaPound“ hat eine lange Zeit ausschließlich in dem Bereich der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gearbeitet. 2008 wurde „CasaPound“ zu einer „Associazione di promozione sociale“ (APS) [sinngemäß: Bund für sozialen Verbesserung]. Das ist von seiner Organisationsform her keine Partei, aber eine Art Sozialverband. Unter dieser „Associazione di promozione sociale“ konnten bzw. können sie viele kleinere Vereine und Organisationen zusammenfassen. Zum Beispiel auch Freizeit- und Sportvereine, karitative und Zivilschutzorganisationen. So schafften sie es, sich auch mit anderen Fragen zu beschäftigen, allgemein mit sozialen Belangen. Der nächste Schritt war es Ende 2012 eine Partei zu gründen. In diesem Moment verfügt „CasaPound Italia“ über ein großes Netzwerk in Italien. Nicht nur in den großen Städten, auch in den kleineren Kommunen. Meiner Meinung nach ist aber das soziale Engagement „CasaPounds“ zur Zeit nicht ihr Hauptfeld. In den letzten Jahren ist es vor allem die Frage der Migration, auf die „CasaPound“ sich hauptsächlich bezieht. Mit sozialen Aktivitäten haben sie vor allem in Ostia, Lucca, Bolzano und anderen Orten begonnen. In Ostia z.B. ist es für uns sehr schwer zu agieren. Als Antifaschist*innen können wir „CasaPound“ nur stoppen, bevor sie mit Aktivitäten im sozialen Bereich begonnen haben. Zwei Jahre später wird dies für uns sehr schwer. Auch hier, in dieser Zone, war „CasaPound“ stark bevor wir ankamen. Aber „CasaPound“ hatte keine alltägliche Präsenz. Die Faschist*innen kamen nur als hier gegen das „Centro accoglienza“, das Aufnahmequartier für Geflüchtete, demonstriert wurde. Oder mit „Forza Nuova“ gegen eine Roma-Siedlung. Jetzt hat sich die Situation geändert. Sie ist nicht einfach. Aber sie hat sich geändert. Wir befinden uns zur Zeit an einem kritischen Punkt – einem entscheidenden Moment. „CasaPound Italia“ verfügt über eine sehr große Bewegung. Aber wir können sie stoppen, wenn wir es schaffen mit anderen Genoss*innen koordiniert zusammenzuarbeiten. Wenn wir aber warten, werden sie weiter wachsen und es wird sehr schwer für uns werden.
H.K.: Und der eine Weg sie zu stoppen ist es, im sozialen Bereich, in den Stadtteilen selber aktiv zu werden?
Pietro: Ich denke, wir müssen auf drei Ebenen arbeiten. Zu einem in den Stadtteilen präsent sein. Zum anderen mit allen Menschen – nicht nur in den Stadtteilen – über die Motive und die solidarische Arbeit unserer antifaschistischen Bewegung reden. Die Arbeit in den Stadtteilen gegen die Zwangsräumungen, gegen Rassismus und für ein solidarisches Miteinander. Also auf der kommunikativen Ebene arbeiten. Und wir müssen die unterschiedliche Formen der Infrastruktur von „CasaPound“ angreifen.
Wenn wir es wie früher machen, als wir jung waren und noch eine Form jugendlichen Antifaschismus‘ betrieben, dann kann „CasaPound“ in den Stadtteilen wachsen. Wenn wir nur auf die Stadtteile schauen würden, würden wir die politischen, komplizierteren Seiten des Problems vernachlässigen. Also: Stadtteilarbeit, Kommunikation und politische Angriffe gegen „CasaPound“ – das sind die drei Ebenen die beschritten werden müssen.
H.K.: Mit was rechnet ihr im nächsten Jahr? Im Jahr 2019, am 23. März, wenn sich die Gründung der „Fasci italiani di combattimento“, der „Italienische Kampfverbände“, auf der Piazza San Sepolcro in Mailand zum 100. Mal jährt. Im letzten Jahr waren in Predappio, dem Geburtsort Benito Mussolinis, zum 95. Jahrestag des „Marsch auf Rom“ über 6.000 Faschisten erschienen. Auf der Demonstration zu Acca Larenzia waren es im letzten Januar allein von CasaPound über 5.000 Anhänger*innen, die dort demonstrierten. Was kann man für den kommenden März erwarten?
Pietro: Ich denke, dieser Termin wird für die italienischen Faschist*innen sehr wichtig sein. Für „CasaPound“ ist das Jahr 1919 und das Ereignis von der Piazza San Sepolcro auf jeden Fall sehr wichtig. Es stellt einen Gründungsmoment dar, an dem sie sich orientieren. „CasaPound“ wird zu den so genannten Diciannovisti, den „19ern“, gezählt. Für „CasaPound“ ist dies die Zeit des revolutionären Faschismus‘, den sie favorisieren und auf den sie sich beziehen. Für die institutionelle Rechte ist diese Zeit nicht so bedeutend. Ich denke „CasaPound“ wird ein großes Interesse haben, dieses Gründungsereignis zu feiern.
H.K.: Und die Wahlen zum Europaparlament im Mai 2019? Wird „CasaPound“ bei den Wahlen antreten? Alleine oder mit der „Lega“?
Marco: Das ist schwer zu sagen. Momentan würde ich denken, dass „CasaPound“ ohne Verbündete zur Wahl antritt, da die „Lega“ zur Zeit auf Berlusconis „Forza Italia“ und andere Parteien ausgerichtet ist.
H.K.: Dann bedanke ich mich für das aufschlussreiche Interview. Viel Dank.
Pietro: Gerne.
Marco: Ebenfalls vielen Dank für das Interesse.
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Progetto Degage:
https://progettodegage.org
https://www.facebook.com/progettodegage
H501: Quarticciolo Ribelle
FESTA DI QUARTIERE AL QUARTICCIOLO 2017
Palestra Popolare Quarticciolo
https://www.facebook.com/palestrapopolarequarticciolo
Inaugurazione Palestra Popolare Quarticciolo
2 Anniversario — Palestra Popolare Quarticciolo
https://www.facebook.com/events/2047314881966712
Crowdfunding per la Palestra popolare Quarticciolo
https://www.produzionidalbasso.com/project/crowdfunding-per-la-palestra-popolare-quarticciolo
Red Lab Quarticciolo:
https://www.facebook.com/quarticciolo.antifa
Street Artist BLU:
https://de.wikipedia.org/wiki/Blu_(Streetart‑K%C3%BCnstler)
https://roma.repubblica.it/cronaca/2018/07/17/news/un_selfie_per_il_david_la_street_art_di_blu_colora_il_quarticciolo_di_roma-202030767/?refresh_ce
https://roma.repubblica.it/cronaca/2018/07/17/foto/la_venere_di_milo_griffata_e_il_david_che_si_fa_un_selfie_il_nuovo_murale_di_blu_a_roma-202028637/1/#1
https://roma.repubblica.it/cronaca/2015/11/04/news/la_street_art_di_blu_tinge_gli_angoli_urbani_della_capitale-126640664/#gallery-slider=126642399
Alte Fotos von der Piazza Quarticciolo:
https://www.romasparita.eu/foto-roma-sparita/?s=Quarticciolo
https://www.brunopanieriphoto.it/borgate_quarticciolo-w2790
https://books.openedition.org/ledizioni/117#tocfrom1n10