Rezension: Tanjev Schultz: „Nationalsozialistischer Untergrund“

Wenig ambi­tio­nier­tes Cover eines wenig ambi­tio­nier­ten Buches

Im Novem­ber 2021 jährt sich die Selbst­ent­tar­nung des „Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds“ (NSU) zum zehn­ten Mal. Das durch eine Viel­zahl von „Ver­trau­ens­leu­ten“ der Sicher­heits­be­hör­den flan­kier­te Ter­ror­netz­werk der Nazi-Kame­ra­dIn­nen hat­te in der Zeit zwi­schen 1999 bis 2011 wenigs­tens neun Mor­de an Migran­ten und einen wei­te­ren an einer Poli­zis­tin, drei Bom­ben­an­schlä­ge und 15 Raub- und Bank­über­fäl­le mit zahl­rei­chen zum Teil lebens­ge­fähr­lich Ver­letz­ten  in der Bun­des­re­pu­blik ver­übt. Nach einem miss­lun­ge­nen Bank­über­fall von Uwe Mund­los und Uwe Böhn­hardt in Eisen­ach am 4. Novem­ber 2011 wur­de das berüch­tig­te soge­nann­te Paul­chen-Pan­ther-Beken­ner­vi­deo im Namen des NSU ver­brei­tet. Ihre Kom­bat­tan­tin noch aus den Tagen der Jena­er Kame­rad­schaft in den 1990er Jah­ren, Bea­te Zsch­ä­pe, ver­schick­te es gemein­sam mit bis­lang noch unbe­kann­ten Unter­stüt­ze­rIn­nen an wenigs­tens 15 Adres­sen – dar­un­ter eines direkt im Kuvert ohne Brief­mar­ken, ein­ge­wor­fen in den Brief­kas­ten der Nürn­ber­ger Nach­rich­ten, adres­siert an den Redak­teur Her­bert Führ.

Der zehn­te Jah­res­tag der Selbst­ent­tar­nung des NSU ist weder aus der Sicht der viel­fäl­tig auch durch die poli­zei­li­chen Ermitt­lun­gen drang­sa­lier­ten Migrant*innen noch aus anti­fa­schis­ti­scher Per­spek­ti­ve ein schö­nes Jubi­lä­um, aber alle­mal ein guter Anlass eine pro­fi­lier­te Rück­schau zu der mons­trö­sen Cau­sa zu hal­ten. Und zu beden­ken ist hier, dass selbst nach drei­zehn Par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­aus­schüs­sen (PUA) und einem zeit­auf­wän­dig geführ­ten Straf­pro­zess vor dem Ober­lan­des­ge­richt (OLG) Mün­chen gegen eini­ge weni­ge NSU-Betei­lig­te auch nicht annä­hernd von etwas gespro­chen wer­den kann, was man in der his­to­ri­schen Sozi­al­wis­sen­schaft als einen „Stand der For­schung“ bezeich­nen könn­te. Gleich­wohl: Es steht jetzt schon eini­ges an Unter­su­chungs­ma­te­ri­al bereit, dass aus­führ­li­che Recher­chen und dar­aus zu zie­hen­de begrün­de­te Schluss­fol­ge­run­gen vor allem für das Funk­tio­nie­ren der Sicher­heits­be­hör­den im NSU-Kom­plex erlaubt. Der Medi­en­pro­fes­sor Tan­jev Schultz (Uni Mainz), der noch als Repor­ter im Auf­trag der Süd­deut­schen Zei­tung am NSU-Ver­fah­ren teil­ge­nom­men hat, hat sich nun mit einem Sam­mel­band an einer, wie er es for­mu­liert, „Zwi­schen­bi­lanz“ ver­sucht. In 12 Bei­trä­gen inter­viewt er dabei etwa Ange­hö­ri­ge der Opfer des NSU-Ter­rors, den amtie­ren­den Ver­fas­sungs­schutz­prä­si­den­ten aus Thü­rin­gen, Ste­phan Kra­mer, die Neben­kla­ge-Anwäl­tin Seda Başay-Yıl­dız. Zusätz­lich hat er die Politiker*nnen Cle­mens Bin­nin­ger (CDU) und Mar­ti­na Ren­ner (Lin­ke), den ehe­ma­li­gen wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­ter des LfV NRW, Tho­mas Grum­ke, sei­ne ehe­ma­li­ge SZ-Kol­le­gin Wieb­ke Ramm und den Rechts­an­walt Meh­met Dai­ma­gü­ler, eben­falls ein Ver­tre­ter der Neben­kla­ge im NSU-Pro­zess, für Autor*innenbeiträge gewon­nen. Drei Bei­trä­ge in dem Buch stam­men von Schultz selbst.

Propagandafloskeln der Inneren Sicherheit

Um es gleich vor­ne­weg zu fra­gen: Was hat Schultz nur gerit­ten, den VS-Beschäf­tig­ten Kra­mer und Grum­ke mit die­sem Buch eine wohl­fei­le Platt­form für ihre Ansich­ten zu eröff­nen, die – man ahnt es bereits – auf was hin­aus­lau­fen? Rich­tig: Kra­mer hebt hier her­vor, dass „wir“ mit einem „spür­bar wach­sen­dem Ver­trau­en in die Arbeit des Amtes (…) zumin­dest ein gutes Stück vor­an­ge­kom­men“ sein sol­len. Mehr noch, so Kra­mer, nun gehe es dar­um „die Qua­li­tät des Ver­fas­sungs­schut­zes als wich­ti­ges Instru­ment der ‚Wehr­haf­ten Demo­kra­tie‘ sub­stan­zi­ell zu ver­bes­sern.“ Liest man das rich­tig, dass es nun als Zwi­schen­bi­lanz zum NSU dar­um gehen soll, „die Qua­li­tät des VS“ noch mehr zu ver­bes­sern?  Bedeu­tet das, zu Ende gedacht, nicht, dass auch von Kra­mer das viel­ge­stal­ti­ge Enga­ge­ment des Thü­rin­ger VS in der For­mie­rungs­pha­se des NSU in der Zeit sei­nes Amts­vor­gän­gers Hel­mut Roe­wer dann doch als so schlecht nicht ein­ge­schätzt wird. (S. 88 und 90) Auch der ehe­ma­li­ge VS-Beschäf­tig­te Grum­ke stößt in das glei­che Horn wie Kra­mer und lässt die Leser*innen zunächst an sei­ner Erkenntnis:„Verfassungsschutzämter sind auch nur Ämter“, teil­ha­ben (S. 97), um danach zu mah­nen: „Pau­scha­le Ver­ur­tei­lun­gen der Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den sind fehl am Plat­ze.“ (S. 97) Auf sol­che Ein­fäl­le im Kon­text mit dem NSU-Kom­plex kann eigent­lich nur ein Prot­ago­nist und, sagen wir, Ana­ly­ti­ker der Sicher­heits­be­hör­den kom­men. Und das alles mün­det unter Schultz‘ publi­zis­ti­scher Kura­tel in die von Grum­ke als eine „Kern­hy­po­the­se die­ses Arti­kels“ bezeich­ne­te Aus­sa­ge: „Die aus­dif­fe­ren­zier­te Sicher­heits­struk­tur der ‘wehr­haf­ten Demo­kra­tie‘ mit ihrer vor­ver­la­ger­ten Extre­mis­mus­be­ob­ach­tung hat sich durch­aus bewährt.“ (S. 104) Wenn einem sol­che Pro­pa­gan­da­flos­keln der Inne­ren Sicher­heit auch noch als Zwi­schen­bi­lanz aus der Auf­ar­bei­tung des NSU auf­ge­drängt wer­den, weiß man wirk­lich nicht mehr, ob man dar­über lachen oder wei­nen soll.

Das lenkt die Fra­ge dar­auf, was der Her­aus­ge­ber Schultz eigent­lich mit sei­nem Buch bezweckt? Kurz nach dem Ende des NSU-Straf­pro­zes­ses vor dem OLG Mün­chen hat­te er im Herbst 2018 bereits eine umfas­sen­de Dar­stel­lung dazu ver­fasst. Bereits damals sei von Schultz, so Rezen­sent Fried­rich Bur­schel, „für die Ermitt­lungs­be­hör­den und Verfassungsschützer_innen (…) jedes Ver­ständ­nis der Welt“ geäu­ßert wor­den. Schultz‘ „offen aus­ge­üb­te Poli­tik­be­ra­tung, was jetzt zu pas­sie­ren habe“ scheue „eine kla­re Ana­ly­se und Kri­tik.“ Die­ser Befund zieht sich auch durch die Bei­trä­ge von Schultz im vor­lie­gen­den Buch. Zen­tral dafür die von Schultz immer wie­der stra­pa­zier­te Sprech­bla­se eines  „Wer so alles im NSU-Kom­plex ver­sagt hat“: „Auch die Medi­en (haben) im NSU-Kom­plex ver­sagt. Es war ihre Auf­ga­be, als Kor­rek­tiv der Behör­den zu wir­ken. Die­ser Auf­ga­be wur­den sie nicht gerecht. (…) Sie stell­ten kei­ne kri­ti­sche Öffent­lich­keit her, tru­gen kei­ne Hin­wei­se und Über­le­gun­gen zusam­men, die es erlaubt hät­ten, auf die rich­ti­ge Spur zu kom­men. Dass rech­te Ter­ro­ris­ten hin­ter der Anschlags­se­rie steck­ten, wur­de nicht ernst­haft erwo­gen und geprüft – weder in den Behör­den noch in den Medi­en.“ (S. 5051) Mehr noch: „Die Medi­en fol­gen häu­fig den Dar­stel­lun­gen der Behör­den, ohne sie kri­tisch zu prü­fen oder in Zwei­fel zu zie­hen.“ (S. 57) Tja, wenn es denn so ein­fach wäre, wie Schultz hier schreibt: Die Medi­en sol­len „häu­fig den Dar­stel­lun­gen der Behör­den“ gefolgt sein, schreibt er. Ist das so zutref­fend oder geht es weit über die­ses „Ver­sa­gen“ hin­aus? So hat doch Schultz‘ Kol­le­ge aus der Süd­deut­schen, Joa­chim Käpp­ner, noch im Som­mer 2006 aktiv an der Umset­zung der Medi­enstra­te­gie der Poli­zei in der Mord­se­rie mit­ge­wirkt, wie er in einem zusam­men mit dem LKA-Pro­fi­ler Alex­an­der Horn 2014 ver­fass­ten Buch bekennt. Und was ist mit dem für die Sprin­ger-Gazet­ten „Welt“ und „Bild“ in den Jah­ren 2005 / 2006 publi­zie­ren­den Jour­na­lis­ten Jörg Völ­ker­ling, der öffent­lich­keits­wirk­sam alle zuvor ven­ti­lier­ten Spe­ku­la­tio­nen der Poli­zei über die mut­maß­lich in Drogen‑, Rot­licht- und sons­ti­ge Abgrün­de ver­strick­ten Opfer­an­ge­hö­ri­gen mit Hin­wei­sen auf eine inter­na­tio­nal ope­rie­ren­de Ban­de aus Istan­bul bei wei­tem über­bo­ten hat? Weder Käpp­ner noch Völ­ker­ling sind doch hier den Dar­stel­lun­gen der Poli­zei unkri­tisch gefolgt, son­dern haben sich auf ihre Wei­se an deren Öffent­lich­keits­ar­beit im Zusam­men­hang mit der Mord­se­rie betei­ligt. Soviel jour­na­lis­ti­sche Auto­no­mie – mit den bekann­ten gegen­auf­klä­re­ri­schen Kon­se­quen­zen – war eben immer auch im NSU-Kom­plex mög­lich. Das­sel­be gilt auch für Schultz, der zusam­men mit Kol­le­gen Anfang Juli 2012 der Klein­fa­mi­lie Tem­me in ihrem idyl­li­schen Apfel­gar­ten in Hof­geis­mar einen Besuch abge­stat­tet hat. Wir erin­nern uns: Die Rol­le des hes­si­schen Inlands­ge­heimndienst­lers, der bei der Ermor­dung des Internetcafé-.Betreibers Halit Yoz­gat am 6. April 2006 bis heu­te völ­lig unauf­ge­klärt ist. Hier war es eben auch Schultz selbst, der Andre­as Tem­me eine Platt­form dafür eröff­ne­te, in der sich die­ser mit der nicht wei­ter kom­men­tier­ten Aus­sa­ge in den NSU-Zusam­men­hang ein­ord­nen durf­te: „Ich war das angreif­bars­te Opfer!“ (SZ v. 5.7.2012, S. 3) Und das alles im Zusam­men­hang mit einer im glei­chen Bei­trag von den Ver­fas­sern cou­ra­giert aus­ge­spro­che­nen ent­schie­de­nen Ableh­nung jeder Form der Verschwörungstheorie.

Schöne runde Geschichten

Dass Schultz vom Jour­na­lis­mus her­kommt, ist ihm nicht vor­zu­wer­fen. Und evi­dent hier alle­mal, dass wer es bis zur Süd­deut­schen geschafft hat, in der Regel auch nicht zu den schlech­tes­ten Schreiber*innen gehört. Zen­tral zum Hand­werk des Jour­na­lis­mus zählt jedoch, umgangs­sprach­lich for­mu­liert, schö­ne „run­de Geschich­ten“ zu ver­fas­sen. Kon­kret bedeu­tet das: Da, wo man in einer kom­ple­xen Sache wie dem NSU-Kon­text nicht mehr wei­ter kommt, über­brückt man die Wis­sens­lü­cken ein­fach mit mehr oder min­der ele­gan­ter Rabulistik.

Sol­che jour­na­lis­ti­schen Schreib­me­tho­den zei­ti­gen aber zuwei­len ihre Kon­se­quen­zen für den Wahr­heits­an­spruch in der Sache, um die es doch gehen soll. So for­mu­liert Schultz ele­gant, dass die Poli­zei, „erst im Jahr 2006, nach dem neun­ten Mord, (…) erst­mals ernst­haft die Mög­lich­keit in Betracht [zieht], bei dem oder den Tätern könn­te es sich um Rechts­ra­di­ka­le han­deln, die Tür­ken aus Hass töte­ten“. Aller­dings, so Schultz wei­ter, habe sich „mit die­ser Theo­rie (…) nie­mand aus dem Fens­ter“ leh­nen wol­len, weil die „Kom­mis­sa­re noch nichts Greif­ba­res in Hän­den“ gehal­ten haben sol­len. (S. 59) Wie bit­te? Die Poli­zei soll 2006 „nichts Greif­ba­res in Hän­den“ gehal­ten haben? Das ist ein­fach nicht wahr. Ab dem 21. April 2006 hat­ten die Sokos „Café“ und „Bos­po­rus“ mit Andre­as Tem­me den ers­ten kon­kre­ten Tat­ver­däch­ti­gen in der Mord­se­rie „in Hän­den“. Und Tem­me ver­wei­ger­te sich nicht nur ihren Auf­klä­rungs­be­mü­hun­gen, son­dern es stell­te sich schnell her­aus, dass es sich bei ihm ers­tens um einen Waf­fen­spe­zia­lis­ten und rechts­dre­hen­den „Geschichts­fan“ han­del­te, und der zwei­tens in sei­ner Funk­ti­on als V‑Mann-Füh­rer des LfV Hes­sen Spit­zel aus der Nazi­sze­ne zu betreu­en hat­te. Mit Tem­me war die Poli­zei schon 2006 auf das seit Jahr­zehn­ten exzel­lent geschmier­te Relais Ver­fas­sungs­schutz – Nazi­sze­ne gesto­ßen, ein Befund, der einer­seits bei den ermit­teln­den Polizist*innen einem zeit­ge­nös­si­schen Bericht im Nach­rich­ten­ma­ga­zin „Der Spie­gel“ zufol­ge, „blan­kes Ent­set­zen“ aus­ge­löst haben soll. Auf der ande­ren Sei­te lös­te die Fest­nah­me des ers­ten Tat­ver­däch­ti­gen in der Mord­se­rie, so mit Wer­ner Stör­zer ein hoch­ran­gi­ger Poli­zei­be­am­ter der BAO Bos­po­rus mit sei­ner Aus­sa­ge im bay­ri­schen NSU-Unter­su­chungs­aus­schuss, einen „Quan­ten­sprung“ in den wei­te­ren Ermitt­lun­gen aus. Wenn das wahr wäre, wird es voll­ends absurd, wenn Schultz ver­sucht sei­nen Leser*innen weis­zu­ma­chen, dass dann im Ver­lau­fe des Jah­res 2006 „der neue Anlauf“ der Poli­zei mit der Hypo­the­se von Rechts­ra­di­ka­len als den Mör­dern, „der end­lich zum Ziel hät­te füh­ren kön­nen, schon auf hal­ber Stre­cke“ erlahmt sein soll. Erlahmt? War­um nur hat sich hier der Vor­sit­zen­de des ers­ten NSU-Unter­su­chungs­aus­schus­ses des Bun­des­ta­ges, Sebas­ti­an Edathy (SPD), mit dem hes­si­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Vol­ker Bouf­fier, der damals als Innen­mi­nis­ter in Hes­sen amtier­te in einer fünf­stün­di­gen Befra­gung um die Inter­pre­ta­ti­on genau die­ses Sach­ver­halts gestrit­ten? Es war doch Innen­mi­nis­ter Bouf­fier selbst, der Ende Juli 2006 die wei­te­ren poli­zei­li­chen Ermitt­lun­gen in der Cau­sa Tem­me nicht ein­fach nur so zum „erlah­men“ gebracht, son­dern schlicht abge­bro­chen hat­te. (BT-NSU-UA-Prot Nr. 32 vom 28.9.2012) Übri­gens im Ergeb­nis mit gro­ßem Erfolg, sowohl für Andre­as Tem­me, der Zeit sei­nes Berufs­le­bens als Beam­ter des Lan­des Hes­sen auch nicht einen Euro an Gehalts­ein­bu­ßen hat hin­neh­men müs­sen, sowie auch für den Bestands­er­halt des LfV Hes­sen, wie sich heu­te nüch­tern bilan­zie­ren lässt.

Gründungsurkunde der Sonderkommission „Bosporus“

Auch mit Blick auf eine doch mög­li­che ver­glei­chen­de Lek­tü­re der NSU-PUAs in Bay­ern, Hes­sen, NRW und des ers­ten Bun­des­tags-PUA erscheint es rät­sel­haft, wie Schultz bei den ers­ten fünf Mor­den in den Jah­ren zwi­schen 2000 – 2004 von einer „komplizierte(n) Ermitt­lungs­struk­tur ver­schie­de­ner Staats­an­walt­schaf­ten und Poli­zei­be­hör­den in meh­re­ren Städ­ten und Bun­des­län­dern“ fabu­lie­ren kann. (S. 114) Spä­tes­tens nach der im Okto­ber 2002 ver­öf­fent­lich­ten Pres­se­er­klä­rung des Poli­zei­prä­si­di­ums Mit­tel­fran­ken aus Nürn­berg, nach eben den vier Mor­den waren die dies­be­züg­li­chen Ermitt­lun­gen von der Poli­zei  fak­tisch ein­ge­stellt wor­den. (Vgl. POL-MFR (1872) PM vom 8.10.2002) Das ist auch der Grund dafür, war­um der lang­jäh­rig an der Mord­se­rie ermit­teln­de Kom­mis­sar Albert Vöge­ler zum Ermitt­lungs­stand im Febru­ar 2004 nach dem fünf­ten Mord an Meh­met Tur­gut in Ros­tock-Toi­ten­win­kel den Abge­ord­ne­ten des NSU-UA in Meck­len­burg-Vor­pom­mern bei sei­ner Aus­sa­ge Mit­te Sep­tem­ber 2020 ledig­lich erzäh­len konn­te: „Zu die­sem Zeit­punkt war ich allei­ne mit der gan­zen Serie beschäf­tigt, bezie­hungs­wei­se habe das mehr ver­wal­tet. Gro­ße Ermitt­lun­gen kann man mit einem Mann nicht machen.“ Wohl wahr! Dort wo sei­tens der Poli­zei und der Staats­an­walt­schaf­ten schon lan­ge vor­her ent­schie­den wor­den ist, mit wei­te­ren Ermitt­lun­gen in einer Mord­se­rie auf­zu­hö­ren, ist doch gera­de nichts mehr, wie Schultz es nahe­zu­le­gen ver­sucht, kom­pli­ziert, son­dern unfass­bar einfach.

Und dann soll nach Schultz die Ende Juni 2005 in Nürn­berg beim Poli­zei­prä­si­di­um Mit­tel­fran­ken ins Leben geru­fe­ne BAO Bos­po­rus „mit dem (Nagelbomben-)Anschlag in Köln nur am Ran­de befasst“ gewe­sen sein. Doch lei­der, so Schultz, sei­en „die Mor­de und die Spreng­stoff­ver­bre­chen (…) noch nicht als Teil einer gemein­sa­men Serie wahr­ge­nom­men“ wor­den. (S. 118) Die BAO Bos­po­rus soll also mit dem Nagel­bom­ben­an­schlag von Köln nur „am Ran­de befasst“ gewe­sen sein? In einer der ers­ten Pres­se­mit­tei­lun­gen der sich gera­de grün­den­den über­grei­fen­den Kom­mis­si­on Bos­po­rus war das von Kri­mi­nal­rat Peter Grösch, Spre­cher des Poli­zei­prä­si­di­ums Nürn­berg, erheb­lich direk­ter for­mu­liert wor­den: „Eine von den Medi­en ins Spiel gebrach­te Ver­bin­dung zwi­schen der Mord­se­rie und dem Nagel­bom­ben-Atten­tat vor einem Jahr in Köln besteht jedoch nicht. (…) Es besteht kei­ner­lei Zusam­men­hang zwi­schen dem Ver­bre­chen in Köln und den sie­ben Mor­den an den Klein­un­ter­neh­mern.“ (Zitat vom 23.6.2005) Eben die­se Aus­sa­ge kann als eine der Grün­dungs­ur­kun­den der BAO Bos­po­rus gele­sen wer­den. Eine der Auf­ga­ben der BAO Bos­po­rus bestand doch genau dar­in, einen Zusam­men­hang zwi­schen dem Nagel­bom­ben­an­griff von Köln mit der Mord­se­rie an den Migran­ten kate­go­risch aus­zu­schlie­ßen. Die­se Auf­ga­be lag gera­de nicht „am Rand“ son­dern war zen­tral. Und die Erfül­lung die­ser Auf­ga­be gelang der BAO Bos­po­rus auch jah­re­lang frei von jedem Ver­sa­gen – bis es  dann im Novem­ber 2011, iro­nisch gespro­chen, zu der unkon­trol­lier­ten Ver­brei­tung des Selbst­ent­tar­nungs­vi­de­os des NSU kam.

Das „System Fritsche“

Gibt es denn an dem vor­lie­gen­den Band nichts, was posi­tiv zu ver­mer­ken ist? Doch: der Bei­trag von Sebas­ti­an Wehr­hahn und Mar­ti­na Ren­ner sowie der von Cle­mens Bin­nin­ger kön­nen zur auf­merk­sa­men Lek­tü­re emp­foh­len wer­den. Wehr­hahn und Ren­ner arbei­ten auch an dem vom hoch­ran­gi­gen Sicher­heits­po­li­ti­ker Klaus-Die­ter Frit­sche (CSU) ein­ge­rich­te­ten „Sys­tem Frit­sche“ her­aus, wie es durch eine geziel­te Per­so­nal­po­li­tik in dem Ver­fas­sungs­schutz gelun­gen ist, die „ideo­lo­gi­sche Tra­di­ti­on des Anti­kom­mu­nis­mus“ fort­zu­füh­ren. Eine Behör­de, die sich jeder demo­kra­ti­schen Kon­trol­le ent­zieht und nicht nur „aktiv gegen die Demo­kra­ti­sie­rung der Gesell­schaft“ arbei­tet, son­dern auch, so Wehr­hahn und Ren­ner wei­ter, mit einer „Betriebs­kul­tur der Intrans­pa­renz (…) ein gefähr­li­ches Sys­tem“ eta­bliert hat, wird auch in Zukunft „immer wie­der Fäl­le wie den NSU-Kom­plex ermög­li­chen wird.“ (S. 84) Der ehe­ma­li­ge CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te und Vor­sit­zen­de des zwei­ten NSU-PUA des Bun­des­ta­ges, der eins­ti­ge Kri­mi­nal­po­li­zist Cle­mens Bin­nin­ger, for­mu­liert am bis heu­te weit­ge­hend unauf­ge­klär­ten Mord an der  Poli­zis­tin Mic­hè­le Kie­se­wet­ter in Heil­bronn am 25. April 2007 „offe­ne Fra­gen (und) blei­ben­de Her­aus­for­de­run­gen.“ Hier lis­tet er kon­zi­se eine Viel­zahl von „Fak­ten, Indi­zi­en, Zufäl­len“ auf, die in der Zukunft der wei­te­ren Auf­klä­rung har­ren. (S. 128ff)

Im Schluss­ka­pi­tel hält Schultz fest: „Der Ter­ror des ‘Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds‘ (NSU) ist weder voll­stän­dig juris­tisch auf­ge­klärt noch umfas­send gesell­schaft­lich auf­ge­ar­bei­tet“. Es sei­en „schmerz­li­che Lücken geblie­ben – in der Suche nach der Wahr­heit und in den Leh­ren, die aus dem Fall zu zie­hen wären.“ (S. 139). Da ist ihm vor­be­halt­los zuzu­stim­men. Bit­ter ist jedoch die Erkennt­nis, dass es ihm im vor­lie­gen­den Band sowohl in sei­nen eige­nen Bei­trä­gen wie auch in der Zusam­men­stel­lung der ande­ren Auf­sät­ze an einem enga­gier­ten Ansatz zur Suche nach der Wahr­heit gebricht.

Verdunklungsgefahr

In der von ihm selbst im Ver­bund  mit etli­chen  ande­ren Professor*nnen im Kohl­ham­mer-Ver­lag her­aus­ge­ge­be­nen Rei­he „Poli­tik und Gesell­schaft“ heißt es unter ande­rem in der Selbst­dar­stel­lung, dass zwar in der Pres­se „vie­le Fra­gen auf­grund ihrer Kom­ple­xi­tät nicht immer zufrie­den­stel­lend beant­wor­tet wer­den“ kön­nen, eben in die­ser Publi­ka­ti­ons­rei­he nun­mehr aber eine „Brü­cke zwi­schen (…) tages­ak­tu­el­len The­men und umfas­sen­der, wis­sen­schaft­li­cher Grund­la­ge“ geschla­gen wer­den sol­le. Die Rei­he ver­spricht, dass hier „Wis­sen­schaft­ler unter­schied­li­cher Dis­zi­pli­nen“ mit „Standpunkte(n) und Argumente(n) zum The­ma des jewei­li­gen Ban­des (…) eine außer­ge­wöhn­li­che und kon­tro­ver­se Tie­fen­schär­fe“ für die „Her­aus­for­de­run­gen der Gegen­wart“ ent­fal­ten sol­len. (2) Mit Ver­laub. Die­ser heh­re Anspruch wird von Tan­jev Schultz mit dem Inhalt wie der Kom­po­si­ti­on des hier bespro­che­nen Ban­des bei wei­tem unter­bo­ten. Für eine bes­se­re Zukunft soll­te ein Schluss­strich unter Bei­trä­ge sol­cher Qua­li­tät wie der­je­ni­gen der Ver­fas­sungs­schüt­zer und von Schultz selbst gezo­gen wer­den, die den kom­ple­xen Sach­ver­halt mehr ver­dun­keln als erhellen.

Tan­jev Schultz (Hrsg.) Natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Unter­grund / Zehn Jah­re danach und kein Schluss­strich, Mainz 2021, ISBN /978–3‑17–039620‑3, Sei­ten 15