Mitten in der historischen Dresdner Innenstadt ereignete sich vor sieben Monaten ein fürchterliches Verbrechen aus homofeindlichen Motiven. Ein Mann fiel einer Messerattacke eines Fanatikers zum Opfer, sein Lebensgefährte wurde vom Angreifer lebensgefährlich verletzt. Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat eine Monitoring-Gruppe die Prozessbeobachtung übernommen.
„Recherche und Archiv F” hat sich mit dem Vorhaben gegründet, Gerichtsprozesse mit Bezug zu islamistischen oder völkischen Tathintergründen zu beobachten, zu analysieren und in einen gesellschaftspolitischen Kontext einzuordnen – eine Leerstelle, die dringend, auch aus antifaschistischer Perspektive – gefüllt werden muss. Im Fokus der Prozessbeobachtungen stehen aktuell die Rolle der Frauen beim sogenannten “Islamischen Staat” und der Umgang des deutschen Staates mit den nach Deutschland “zurückgekehrten” Frauen. Aus einer feministischen Perspektive heraus ist auch das Verfahren gegen Abdullah Al‑H. von Interesse, in welchem erstmals ein homofeindliches Motiv vor Gericht verhandelt wird. Verhandelt wird vor der Staatsschutzkammer des Oberlandesgerichts Dresden.
Richter:innen als politische Bildner:innen
Das Gebäude liegt am Hammerweg, etwas außerhalb der sächsischen Landeshauptstadt. Es handelt sich um einen modernen Bau, direkt daneben die Justizvollzugsanstalt. Die beiden Gebäude sind durch einen Tunnel miteinander verbunden. Wer zum Gericht kommen will, kann mit dem Bus oder mit dem Fahrrad die etwa fünfzehnminütige Strecke vom Bahnhof Dresden-Neustadt entlang einer vielbefahrenen Zufahrtsstraße auf sich nehmen. Während der Beginn der Strecke noch von linken Graffiti und Aufklebern gesäumt ist, nehmen diese nach und nach ab. Von den wenigen politischen Spuren, die in der Nähe der JVA erkennbar sind, nehmen die „Anti-Antifa“ Graffiti zu. Linke Aufkleber sind nur noch vereinzelt zu sehen, auch wenn das linke Viertel Neustadt mit dem AZ Conni in unmittelbarer Nähe liegt.
Dazwischen befinden sich Polizeikommissariate für die Kriminalpolizei und Bereitschaftspolizei. So schnell verirren sich Linke nicht in die Nähe der JVA, die ansonsten von Gewerbegelände und Abfallentsorgungsbetrieben umgeben ist. Eine Pflastersteinstraße führt von der Bushaltestelle an der Radeburger Straße hoch zum Hammerweg, zwischen einer Stadtvilla und einem Friedhof, in dem ein Denkmal für gefallene französische Soldaten des Zweiten Weltkrieges steht. Wenn morgens die Sonne scheint und Vögel in den Bäumen zwitschern, könnte man ihn fast für einen idyllischen Ort halten – wenn man nicht wüsste, wohin die Straße führt. Und wenn nicht ein leicht zu übersehendes Schild auf das sogenannte Judenlager Hallerberg hinweisen würde, einem Internierungslager für Jüdinnen und Juden während der Nazizeit, die in den Unternehmen der Region Zwangsarbeit leisten mussten.
Über Terrorprozessen schwebt in Deutschland immer die NS-Vergangenheit, als Abgrenzungsfolie, als Selbstvergewisserung. Nicht selten nehmen Richter:innen die Rolle von politischen Bildner:innen ein. So auch der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats, der sich durch inhaltliche Kommentare immer wieder bemüht, eine differenzierte Kritik am Islamismus zu formulieren. Er ist um eine demokratische, aufklärerische Prozessleitung bemüht. Auch darum ist es von Bedeutung, dass die Bundesanwaltschaft den homofeindlichen Hintergrund der Tat in ihrer Anklageschrift explizit erwähnt. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten sich zu dem Tatmotiv zunächst nicht geäußert. Erst nach Kritik etwa des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland wurde es benannt.
Inszenierung aufgeklärter Rechtsstaatlichkeit
Aber auch ein Angriff auf “unsere” freie Welt und “unsere Werte” soll die Tat laut Anklage gewesen sein, sonst wäre es kein Terror und damit die Bundesanwaltschaft nicht zuständig. Dadurch wird das Verfahren zu einer Inszenierung aufgeklärter Rechtsstaatlichkeit. Es schwingt ein demokratischer Pathos mit, das für die post-nationalsozialistische Gesellschaft und für die bundesrepublikanische Selbstvergewisserung, Teil der westlichen Wertegemeinschaft zu sein, tragend ist. Ohne islamistische Überzeugung des Angeklagten wäre der homofeindliche Mord in einer Hochburg der extremen Rechten vermutlich kaum thematisiert worden. So aber wurde der gesamte Strafverfolgungsapparat innerhalb kürzester Zeit mobilisiert und der Täter knapp zwei Wochen nach der Tat bereits verhaftet – anhand von DNA-Spuren auf den Schuhen seiner Opfer.
In einer beeindruckenden Geschwindigkeit wurden Tat und Hintergrund ermittelt. Die Symbolwirkung ist groß: Wenn es um Islamisten geht, haben wir alles im Griff; schließlich sind wir ein funktionierender Rechtsstaat. Hier bleibt ein fader Beigeschmack: In Verfahren gegen neonazistische Gewaltverbrechen tut sich die Bundesanwaltschaft oftmals schwer, einen Angriff auf „unsere offene Gesellschaft“ zu erkennen und damit die Verfahren an sich zu ziehen, wie etwa im Fall des ehemaligen KSK-Soldaten Philipp Sch. Dies fällt bei Islamist:innen offenbar leichter, da es sich aus Sicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht um eine heimische Ideologie handelt – anders als der völkische Gefühlshaushalt, der von gut einem Fünftel der deutschen Bevölkerung geteilt wird.
Essen und Strafen
Der Saal des Staatsschutzsenats ist länglich, er sollte ursprünglich als Mensa für eine neu gebaute Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete dienen. Vom Hof des Gebäudes aus blickt man auf den Spielplatz der anderen Gebäude der Erstaufnahmeeinrichtung, dahinter sieht man die Polizeidirektion Dresden und ein Blick nach links zeigt die Dächer der JVA-Dresden. Nach der Fertigstellung im Jahr 2017 wurde das Gebäude zunächst für die Strafprozesse gegen Mitglieder und Unterstützer der rechtsterroristischen Gruppierungen „Gruppe Freital“ und „Revolution Chemnitz“ genutzt. Nun dient der Saal als Schauplatz des Verfahrens gegen den inzwischen 21-jährigen Al‑H., der im Januar 2000 in Aleppo (Syrien) geboren wurde und 2015 als minderjähriger Geflüchteter nach Deutschland kam, sich hier radikalisiert hatte und im Zusammenhang damit bereits eine mehrjährige Haftstrafe verbüßte. Er war erst knapp eine Woche vor der Tat aus der Haft entlassen worden.
Eigentlich, würde der Prozess nicht im Kontext einer globalen Pandemie stattfinden, hätten neben den Prozessbeteiligten im Saal über neunzig Interessierte Platz. Nun sind es etwas mehr als dreißig. Durch eine Sicherheitsschleuse gelangen Pressevertreter:innen und Zuschauer:innen in den Saal. Auf den ersten Blick machen die Wärter:innen einen freundlichen Eindruck. Die Sicherheitschecks sind umfassend, aber dadurch nicht unangenehm. Doch je länger sich der Prozess zieht, desto mehr zeigt sich, wie weit rechts das politische Klima der sächsischen Strafjustizbehörden steht. Klar anti-links, rassistische Witze machend, im Beisein der Öffentlichkeit. Nicht nur also, wie jüngst publik wurde, in den vor der Öffentlichkeit geschützten Mauern der JVA.
Die Prozessbeteiligten
Neben dem Vorsitzenden Richter Schlüter-Staats, der seit 2019 den Staatsschutzsenat leitet und unter anderem beim Verfahren gegen die „Gruppe Freital“ den Vorsitz inne hatte, bilden Richter am Oberlandesgericht, Murad Gorial, Richter am Landgericht, Sven Andreae, sowie die Richter:innen am OLG Beate Horlacher und Peter Frey im Strafsenat. Links davon nehmen die beiden Vertreter der Bundesanwaltschaft Marco Mayer und Marcel Croissant in ihren bordeauxfarbenen Roben Platz. Daneben die beiden Vertreter der Nebenklage Rechtsanwalt Maximilian Klefenz und Rechtsanwalt Christoph Klein und eine Vertretung der Jugendgerichtshilfe. Gegenüber sitzen schließlich der Angeklagte Abdullah Al‑H. mit seinem Strafverteidiger Peter Hollstein, sowie der Dolmetscher. Oft war auch der forensische Psychiater Norbert Leygraf da, der im Auftrag des Gerichts das Gutachten über Al‑H. erstellt hatte.
Der Angeklagte, der den Mord in der Dresdner Altstadt bereits zugegeben hat, wird jeden Tag mit Hand- und Fußfesseln in den Gerichtssaal geleitet. Er hat längere lockige dunkle Haare und einen ungepflegten Bart. Er wird von vier bewaffneten Gefängniswärter:innen begleitet, die ihn permanent im Blick haben. Erst wenn er in der Nähe seines Platzes ist, werden die Handfesseln abgenommen. Insgesamt wirkt der Angeklagte teilnahmslos, unverbunden mit der Szenerie. Er zeigt keinerlei Emotionen, beobachtet jedoch die anderen Prozessbeteiligten genau. Er erkenne das Gericht als irdisches Gericht nicht an, hat er geäußert. Darum steht er auch nicht auf, wenn die Richter:innen den Saal betreten. Schlüter-Staats betont, dass es ihm recht sei. Einzig als ein Dolmetscher vereidigt wird, besteht der Vorsitzende Richter darauf, dass Al‑H. aufsteht. Es gehe um Respekt gegenüber dem Dolmetscher.
Dass der Angeklagte die Tat begangen hat, scheint nicht strittig, auch seine Überzeugung nicht. Hierzu hatte er im Laufe der Ermittlungen bereits ausführlich Auskunft gegeben. Vermutlich beschränkt sich das Verfahren auch darum auf insgesamt nur neun Prozesstage, die wir in lockerer Folge dokumentieren.