Nachdem der Prozesstag am 19. April als Reservetag ausgefallen war, steht der dritte Prozesstag im Zeichen des sozialen und therapeutischen Umfelds des Beschuldigten Abdullah Al‑H.
Fünf Zeug:innen sind an diesem driten Prozesstag, am 22. April, befragt, nämlich eine Mitarbeiterin des Violence Prevention Networks (VPN), ein ehemaliger Mitgefangener von Al‑H., eine Beamtin der Jugendstrafvollzugsanstalt (JSA) Regis-Breitingen, die dem Angeklagten ästhetische Erziehungs- und Bildungsangebote machte, die Gefängnispsychologin und ein Geflüchtetenhelfer aus Dresden, der Al‑H. über den Kontakt zu dessen Cousin kannte. Zwei geladene Zeugen, ehemalige Mithäftlinge in der JSA Regis-Breitingen, blieben unentschuldigt fern. Ihnen wird ein Ordnungsgeld auferlegt.
Unvoreingenommen klientenzentriert
Als erste Zeugin hört das Gericht Jana A., eine Sozialarbeiterin des Violence Prevention Networks, die dort inzwischen nicht mehr arbeitet. Ziel der Ladung ist es zum einen in Erfahrung zu bringen, wie das VPN den Beschuldigten wahrgenommen und eingeordnet hat. Zum anderen steht die Frage im Raum, warum es trotz intensiver Überwachung und Einbindung in soziale Projekte – wie VPN – zu der Tat hat kommen können. Die inzwischen als Unternehmen eingetragene Organisation schreibt sich auf die Fahne, Demobilisierungs- und Deradikalisierungsarbeit zu betreiben. Dabei arbeitet sie mit dem Konzept eines klientenzentrierten Ansatzes, in dem die Mitarbeiter:innen möglichst unvoreingenommen in die Beratungsgespräche gehen. Die nicht unumstrittene Grundannahme ist, dass jeder Radikalisierung ein wie auch immer bestimmter Schmerz vorausgeht und dass die entsprechende Ideologie Halt bietet.
VPN hatte Al‑H. von Herbst 2018 bis kurz vor seiner Verhaftung betreut. Das letzte Treffen fand noch am 19. Oktober 2020 statt. Im Jahr 2018 war VPN vom LKA angefragt worden, ob es den Fall betreuen könne.
Die Zeugin Jana A. hatte ihre Abschlussarbeit über salafistische Jugendliche und ihre „Radikalisierungspfade“ geschrieben. Darüber hinaus sammelte sie durch VPN Erfahrungen mit jugendlichen IslamistInnen. Sie war für die erste Kontaktaufnahme mit Al‑H. zuständig und stand ab Herbst 2018 in Kontakt mit ihm. Zu dem Zeitpunkt saß Al‑H. bereits in Untersuchungshaft, da er verdächtigt wurde, eine schwere staatsgefährdende Straftat geplant zu haben und für die ausländische terroristische Vereinigung Islamischer Staat (IS) geworben zu haben.
VPN habe im Sinne eines Beziehungsaufbaus versucht, jede Woche mit ihm zu sprechen, was jedoch unterbrochen wurde, da die zuständige Mitarbeiterin schließlich nicht mehr für VPN arbeitete. Darüber hinaus wurde der Angeklagte nach wiederholten Angriffen auf Wärter zwischendurch in Absonderung untergebracht, sodass in jenem Zeitraum keine Gespräche möglich waren.
Die Zeugin wird zunächst zum Konzept des VPN befragt. Jana A. hatte die ersten Schritte begleitet, in denen es darum gegangen sei, Informationen über Leben, Perspektiven und Erfahrungen des Beschuldigten zu sammeln. Die Zeugin beschreibt den Angeklagten als offen und interessiert, den Mitarbeiter:innen freundlich zugewandt. Ihrer Einschätzung nach habe er sich gefreut, mit Menschen “auf einer normalen Ebene” sprechen zu können. Zu dem Zeitpunkt war er gerade volljährig geworden. Ihr Eindruck war, dass er isoliert lebte und stark unter Einsamkeit litt. Zudem sei auch die Flucht noch sehr prägend in seinem Gedächtnis gewesen. Er habe eine kindliche Seite, die damit zusammenhinge, dass er sehr jung war, als er flüchtete. Gleichzeitg habe er früh erwachsen werden müssen, was zu Konflikten geführt habe.
In den Gesprächen sei es vor allem um seine Schuld- und Schamgefühle und seine Vorstellung von Religion gegangen. Die Tatvorwürfe habe sie im Sinne des Vertrauensaufbaus ausgespart. Auch Themen wie Liebe und Sünde wurden behandelt, das VPN sei während A.s Zeit dort jedoch noch nicht in die Tiefe gegangen, da das Kennenlernen zunächst im Vordergrund gestanden habe. Die Zeugin berichtet weiterhin, dass sich Al‑H. nur schlecht mit verschiedenen Strömungen innerhalb des Islam ausgekannt habe.
Gefängniskontakte
Als zweiter Zeuge ist Mustafa W. geladen, ein afghanischer Geflüchteter. Er war zusammen mit Al‑H. in der JSA Regis-Breitingen inhaftiert und saß zwei Jahre und sechs Monate in Haft, bis er im November frei kam. Obwohl der geladene Zeuge Deutsch spricht und versteht und auch immer wieder ins Deutsche wechselt, wird er wiederholt aufgefordert, afghanisch zu sprechen und den Dolmetscher übersetzen zu lassen. W. kenne den Angeklagten seit acht oder neun Jahren aus der JSA. Bei der Befragung ist vor allem von Interesse, wie er den Angeklagten kennenlernte und worüber sie in der Haft gesprochen hatten. Dabei wird auch die Frage nach der islamistischen Einstellung des Beschuldigten thematisiert.
Der Zeuge bestätigt, dass sie über diese gesprochen hätten. Er selbst habe nichts davon wissen wollen, Al‑H. habe das Thema aber immer wieder aufgebracht. Über Wärter habe er mitbekommen, dass der Angeklagte als Gefährder eingestuft war. Auch habe Al‑H. ihm erzählt, dass er sich für den Islamischen Staat interessiere und wissen wolle, wie man einen Bombenanschlag plant und vorbereitet. Auf Nachfrage stellt er klar, dass er dies aber nur von anderen Häftlingen gehört habe. Der Zeuge ist deutlich darum bemüht, sich von der Tat Al‑H.s zu distanzieren.
Bianca K. ist Mitarbeiterin des sozialen Dienstes der JSA Regis-Breitingen. Sie arbeitete mit dem Angeklagten in kleinen Gruppen, in denen sie ästhetische Erziehungs- und Bildungsangebote machte. In den Sitzungen gehe es darum, mit den jugendlichen Häftlingen Abstraktionen, Gruppenverhalten und ‑dynamik zu trainieren, indem dafür trotz Sprachbarrieren Ausdrucksformen gefunden werden. Die Gruppen bestehen etwa aus 4 — 6 Jugendlichen, die ein Mal pro Woche für zwei Stunden zusammenkommen. In der zweiten von insgesamt drei Stufen gehe es um Stabilisierung. Darin würden mittels einer Projektarbeit Sozialisationsprozesse durchgearbeitet.
„Böse“
Die Zeugin berichtet, dass Al‑H. stets höflich gewesen sei und nie gefehlt habe. Auch in ihrer Arbeit kam es zwischenzeitlich zum Beziehungsabbruch, da der Angeklagte nach einem Angriff auf einen JSA-Beamten in Isolation kam. Die Absonderung dauerte ungewöhnlich lange, sodass eine kontinuierliche Arbeit nicht weiter möglich war. Zudem schildert Bianca K. eine besondere Situation, in der Al‑H. die Aufgabe hatte, mittels Fotografie seine eigenen Gefühle und den Gefühlsausdruck im Bild zu erkunden: Er sollte sich ein Gefühl aussuchen, mit dem er sich abbilden wolle. Er habe sich für „böse“ entschieden, war aber von der Übung frustriert, da er es nicht geschafft habe, sich so böse darzustellen, wie er es empfunden habe.
Weiter sagt die Gefängnispsychologin Maren G. aus. Sie betreute den Angeklagten ab Februar 2019 bis zu seiner Haftentlassung im September 2020. Ihr gegenüber habe Al‑H. sich nach und nach geöffnet. Dabei kamen auch intensive Gespräche über seine Religiosität zustande, über Ge- und Verbote. An zentraler Stelle habe immer wieder die Angst gestanden, kein guter Muslim zu sein und nicht streng genug an den Geboten seines Glaubens festzuhalten. Er habe stets das Gefühl zu sündigen, insbesondere in einem mehrheitlich nicht-muslimischen Land. So habe er sich gefragt, ob Musik hören, Alkohol trinken, Frauen ansehen und Selbstbefriedigung Sünde seien. Insbesondere die Onanie habe dabei eine wichtige Rolle gespielt und immer wieder für Konflikte gesorgt. Dass sich die Psychologin nicht in der Lage gesehen habe, dies weiter mit ihm zu besprechen, führt zu kritischen Nachfragen des psychiatrischen Gutachters, Norbert Leygraf, die G. nicht recht beantworten kann.
Porno und Islam
Gegenüber der Psychologin habe er sich auch dahingehend geäußert, dass man Ungläubige töten solle. Er habe davon gesprochen, dass man ihnen den Kopf abschneiden solle. Das sei erst im Verlauf seiner Haft gekommen, als er nach und nach auch seine Zustimmung zum Islamismus des IS kundtat. Dabei war er nach eigenen Angaben vor dem IS aus Syrien geflohen, da IS-Mitglieder sein Handy beschlagnahmt hatten, auf dem unter anderem pornographische Bilder gespeichert waren. Auch sei er für Rauchen vom IS bestraft worden. In der ersten Haftzeit habe er sich zunehmend radikalisiert und in der Folge dem IS zugewandt. In Dresden, als er alleine gewohnt habe, soll er sich viele Propagandavideos des IS angeschaut haben. Dabei soll auch die Abschiebedrohung eine Rolle gespielt haben, denn er habe laut Psychologin zunehmend unter der Perspektivlosigkeit und den negativen Gefühlen gelitten. Dabei beschreibt sie den Angeklagten als lustorientiert und hedonistisch, was aber zunehmend mit seiner Religiosität in Konflikt geraten sei.
Im Juli 2020 wurde auf einem Treffen, unter anderem mit dem LKA festgehalten, dass Al‑H. ein gefährlicher und gefestigter Islamist sei. Das LKA organisierte ebenfalls ein Telefonat mit der Mutter. Es scheint also, dass die Sicherheitsbehörden auch in dieser Richtung ermittelten. Zudem arrangierten sie ein Treffen mit Fatema A.-M., die im Jahr 2019 verurteilt worden war, da sie Al‑H. für den IS geworben hatte. Al‑H. hatte angegeben, dass er die kriegsversehrte Islamistin habe heiraten wollen. Zum Zeitpunkt des Treffens soll sie verheiratet gewesen sein und Kinder gehabt haben. Auch habe sie sich vom IS abgewendet. Al‑H. sei von dieser Abkehr sichtlich enttäuscht gewesen und beschimpfte sie in Gesprächen mit der Psychologin.
Als letzter Zeuge sagt Matthias L. aus. Dieser war im Rahmen der Flüchtlingshilfe im Jahr 2016 mit dem Angeklagten in Kontakt gekommen. Er hatte zunächst dem Cousin des Angeklagten, J., geholfen. Dieser habe dann Al‑H. gelegentlich mitgebracht. Sie hätten sich öfter zuhause getroffen und geredet. Dabei scheint der inzwischen 55-Jährige wenig von den beiden erfahren zu haben. Er zeigt aber deutliche Sympathien für J. sowie Antipathien gegenüber Al‑H. Ob aus Schutzhaltung oder nicht, betont er vor Gericht immer wieder, dass er nicht gewusst habe, was im Kopf des Angeklagten vor sich gehe. Sie hätten sich auch hin und wieder im Schrebergarten getroffen, um Kaffee zu trinken. Am 10. November 2017 hatte er Al‑H. in der Haft besucht. Auch am 10. Oktober 2020, also sechs Tage nach der Tat, sei der Angeklagte noch einmal in den Schrebergarten gekommen. Dabei sei L. aber nichts Besonderes an ihm aufgefallen.