Islamistischer Messermord: Im Geiste des Beschuldigten

Der Pro­zess zur mör­de­ri­schen Mes­ser­at­ta­cke in Dres­den im Okto­ber 2020: Drit­ter Tag im Ver­fah­ren gegen den ísla­mis­ti­schen Atten­tä­ter vor dem OLG Dresden

Nach­dem der Pro­zess­tag am 19. April als Reser­ve­tag aus­ge­fal­len war, steht der drit­te Pro­zess­tag im Zei­chen des sozia­len und the­ra­peu­ti­schen Umfelds des Beschul­dig­ten Abdul­lah Al‑H.

Fünf Zeug:innen sind an die­sem dri­ten Pro­zess­tag, am 22. April, befragt, näm­lich eine Mit­ar­bei­te­rin des Vio­lence Pre­ven­ti­on Net­works (VPN), ein ehe­ma­li­ger Mit­ge­fan­ge­ner von Al‑H., eine Beam­tin der Jugend­straf­voll­zugs­an­stalt (JSA) Regis-Breit­in­gen, die dem Ange­klag­ten ästhe­ti­sche Erzie­hungs- und Bil­dungs­an­ge­bo­te mach­te, die Gefäng­nis­psy­cho­lo­gin und ein Geflüch­te­ten­hel­fer aus Dres­den, der Al‑H. über den Kon­takt zu des­sen Cou­sin kann­te. Zwei gela­de­ne Zeu­gen, ehe­ma­li­ge Mit­häft­lin­ge in der JSA Regis-Breit­in­gen, blie­ben unent­schul­digt fern. Ihnen wird ein Ord­nungs­geld auferlegt.

Unvoreingenommen klientenzentriert

Als ers­te Zeu­gin hört das Gericht Jana A., eine Sozi­al­ar­bei­te­rin des Vio­lence Pre­ven­ti­on Net­works, die dort inzwi­schen nicht mehr arbei­tet. Ziel der Ladung ist es zum einen in Erfah­rung zu brin­gen, wie das VPN den Beschul­dig­ten wahr­ge­nom­men und ein­ge­ord­net hat. Zum ande­ren steht die Fra­ge im Raum, war­um es trotz inten­si­ver Über­wa­chung und Ein­bin­dung in sozia­le Pro­jek­te – wie VPN – zu der Tat hat kom­men kön­nen. Die inzwi­schen als Unter­neh­men ein­ge­tra­ge­ne Orga­ni­sa­ti­on schreibt sich auf die Fah­ne, Demo­bi­li­sie­rungs- und Dera­di­ka­li­sie­rungs­ar­beit zu betrei­ben. Dabei arbei­tet sie mit dem Kon­zept eines kli­en­ten­zen­trier­ten Ansat­zes, in dem die Mitarbeiter:innen mög­lichst unvor­ein­ge­nom­men in die Bera­tungs­ge­sprä­che gehen. Die nicht unum­strit­te­ne Grund­an­nah­me ist, dass jeder Radi­ka­li­sie­rung ein wie auch immer bestimm­ter Schmerz vor­aus­geht und dass die ent­spre­chen­de Ideo­lo­gie Halt bietet.

VPN hat­te Al‑H. von Herbst 2018 bis kurz vor sei­ner Ver­haf­tung betreut. Das letz­te Tref­fen fand noch am 19. Okto­ber 2020 statt. Im Jahr 2018 war VPN vom LKA ange­fragt wor­den, ob es den Fall betreu­en könne.

Die Zeu­gin Jana A. hat­te ihre Abschluss­ar­beit über sala­fis­ti­sche Jugend­li­che und ihre „Radi­ka­li­sie­rungs­pfa­de“ geschrie­ben. Dar­über hin­aus sam­mel­te sie durch VPN Erfah­run­gen mit jugend­li­chen Isla­mis­tIn­nen. Sie war für die ers­te Kon­takt­auf­nah­me mit Al‑H. zustän­dig und stand ab Herbst 2018 in Kon­takt mit ihm. Zu dem Zeit­punkt saß Al‑H. bereits in Unter­su­chungs­haft, da er ver­däch­tigt wur­de, eine schwe­re staats­ge­fähr­den­de Straf­tat geplant zu haben und für die aus­län­di­sche ter­ro­ris­ti­sche Ver­ei­ni­gung Isla­mi­scher Staat (IS) gewor­ben zu haben.

VPN habe im Sin­ne eines Bezie­hungs­auf­baus ver­sucht, jede Woche mit ihm zu spre­chen, was jedoch unter­bro­chen wur­de, da die zustän­di­ge Mit­ar­bei­te­rin schließ­lich nicht mehr für VPN arbei­te­te. Dar­über hin­aus wur­de der Ange­klag­te nach wie­der­hol­ten Angrif­fen auf Wär­ter zwi­schen­durch in Abson­de­rung unter­ge­bracht, sodass in jenem Zeit­raum kei­ne Gesprä­che mög­lich waren.

Die Zeu­gin wird zunächst zum Kon­zept des VPN befragt. Jana A. hat­te die ers­ten Schrit­te beglei­tet, in denen es dar­um gegan­gen sei, Infor­ma­tio­nen über Leben, Per­spek­ti­ven und Erfah­run­gen des Beschul­dig­ten zu sam­meln. Die Zeu­gin beschreibt den Ange­klag­ten als offen und inter­es­siert, den Mitarbeiter:innen freund­lich zuge­wandt. Ihrer Ein­schät­zung nach habe er sich gefreut, mit Men­schen “auf einer nor­ma­len Ebe­ne” spre­chen zu kön­nen. Zu dem Zeit­punkt war er gera­de voll­jäh­rig gewor­den. Ihr Ein­druck war, dass er iso­liert leb­te und stark unter Ein­sam­keit litt. Zudem sei auch die Flucht noch sehr prä­gend in sei­nem Gedächt­nis gewe­sen. Er habe eine kind­li­che Sei­te, die damit zusam­men­hin­ge, dass er sehr jung war, als er flüch­te­te. Gleich­zeitg habe er früh erwach­sen wer­den müs­sen, was zu Kon­flik­ten geführt habe.

In den Gesprächen sei es vor allem um seine Schuld- und Schamgefühle und seine Vorstellung von Religion gegangen. Die Tatvorwürfe habe sie im Sinne des Vertrauensaufbaus ausgespart. Auch Themen wie Liebe und Sünde wurden behandelt, das VPN sei während A.s Zeit dort jedoch noch nicht in die Tiefe gegangen, da das Kennenlernen zunächst im Vordergrund gestanden habe. Die Zeugin berichtet weiterhin, dass sich Al‑H. nur schlecht mit verschiedenen Strömungen innerhalb des Islam ausgekannt habe.

Gefängniskontakte

Als zwei­ter Zeu­ge ist Mus­ta­fa W. gela­den, ein afgha­ni­scher Geflüch­te­ter. Er war zusam­men mit Al‑H. in der JSA Regis-Breit­in­gen inhaf­tiert und saß zwei Jah­re und sechs Mona­te in Haft, bis er im Novem­ber frei kam. Obwohl der gela­de­ne Zeu­ge Deutsch spricht und ver­steht und auch immer wie­der ins Deut­sche wech­selt, wird er wie­der­holt auf­ge­for­dert, afgha­nisch zu spre­chen und den Dol­met­scher über­set­zen zu las­sen. W. ken­ne den Ange­klag­ten seit acht oder neun Jah­ren aus der JSA. Bei der Befra­gung ist vor allem von Inter­es­se, wie er den Ange­klag­ten ken­nen­lern­te und wor­über sie in der Haft gespro­chen hat­ten. Dabei wird auch die Fra­ge nach der isla­mis­ti­schen Ein­stel­lung des Beschul­dig­ten thematisiert.

Der Zeu­ge bestä­tigt, dass sie über die­se gespro­chen hät­ten. Er selbst habe nichts davon wis­sen wol­len, Al‑H. habe das The­ma aber immer wie­der auf­ge­bracht. Über Wär­ter habe er mit­be­kom­men, dass der Ange­klag­te als Gefähr­der ein­ge­stuft war. Auch habe Al‑H. ihm erzählt, dass er sich für den Isla­mi­schen Staat inter­es­sie­re und wis­sen wol­le, wie man einen Bom­ben­an­schlag plant und vor­be­rei­tet. Auf Nach­fra­ge stellt er klar, dass er dies aber nur von ande­ren Häft­lin­gen gehört habe. Der Zeu­ge ist deut­lich dar­um bemüht, sich von der Tat Al‑H.s zu distanzieren.

Bian­ca K. ist Mit­ar­bei­te­rin des sozia­len Diens­tes der JSA Regis-Breit­in­gen. Sie arbei­te­te mit dem Ange­klag­ten in klei­nen Grup­pen, in denen sie ästhe­ti­sche Erzie­hungs- und Bil­dungs­an­ge­bo­te mach­te. In den Sit­zun­gen gehe es dar­um, mit den jugend­li­chen Häft­lin­gen Abs­trak­tio­nen, Grup­pen­ver­hal­ten und ‑dyna­mik zu trai­nie­ren, indem dafür trotz Sprach­bar­rie­ren Aus­drucks­for­men gefun­den wer­den. Die Grup­pen bestehen etwa aus 4 — 6 Jugend­li­chen, die ein Mal pro Woche für zwei Stun­den zusam­men­kom­men. In der zwei­ten von ins­ge­samt drei Stu­fen gehe es um Sta­bi­li­sie­rung. Dar­in wür­den mit­tels einer Pro­jekt­ar­beit Sozia­li­sa­ti­ons­pro­zes­se durchgearbeitet.

Böse“

Die Zeu­gin berich­tet, dass Al‑H. stets höf­lich gewe­sen sei und nie gefehlt habe. Auch in ihrer Arbeit kam es zwi­schen­zeit­lich zum Bezie­hungs­ab­bruch, da der Ange­klag­te nach einem Angriff auf einen JSA-Beam­ten in Iso­la­ti­on kam. Die Abson­de­rung dau­er­te unge­wöhn­lich lan­ge, sodass eine kon­ti­nu­ier­li­che Arbeit nicht wei­ter mög­lich war. Zudem schil­dert Bian­ca K. eine beson­de­re Situa­ti­on, in der Al‑H. die Auf­ga­be hat­te, mit­tels Foto­gra­fie sei­ne eige­nen Gefüh­le und den Gefühls­aus­druck im Bild zu erkun­den: Er soll­te sich ein Gefühl aus­su­chen, mit dem er sich abbil­den wol­le. Er habe sich für „böse“ ent­schie­den, war aber von der Übung frus­triert, da er es nicht geschafft habe, sich so böse dar­zu­stel­len, wie er es emp­fun­den habe.

Wei­ter sagt die Gefäng­nis­psy­cho­lo­gin Maren G. aus. Sie betreu­te den Ange­klag­ten ab Febru­ar 2019 bis zu sei­ner Haft­ent­las­sung im Sep­tem­ber 2020. Ihr gegen­über habe Al‑H. sich nach und nach geöff­net. Dabei kamen auch inten­si­ve Gesprä­che über sei­ne Reli­gio­si­tät zustan­de, über Ge- und Ver­bo­te. An zen­tra­ler Stel­le habe immer wie­der die Angst gestan­den, kein guter Mus­lim zu sein und nicht streng genug an den Gebo­ten sei­nes Glau­bens fest­zu­hal­ten. Er habe stets das Gefühl zu sün­di­gen, ins­be­son­de­re in einem mehr­heit­lich nicht-mus­li­mi­schen Land. So habe er sich gefragt, ob Musik hören, Alko­hol trin­ken, Frau­en anse­hen und Selbst­be­frie­di­gung Sün­de sei­en. Ins­be­son­de­re die Ona­nie habe dabei eine wich­ti­ge Rol­le gespielt und immer wie­der für Kon­flik­te gesorgt. Dass sich die Psy­cho­lo­gin nicht in der Lage gese­hen habe, dies wei­ter mit ihm zu bespre­chen, führt zu kri­ti­schen Nach­fra­gen des psych­ia­tri­schen Gut­ach­ters, Nor­bert Ley­graf, die G. nicht recht beant­wor­ten kann.

Porno und Islam

Gegen­über der Psy­cho­lo­gin habe er sich auch dahin­ge­hend geäu­ßert, dass man Ungläu­bi­ge töten sol­le. Er habe davon gespro­chen, dass man ihnen den Kopf abschnei­den sol­le. Das sei erst im Ver­lauf sei­ner Haft gekom­men, als er nach und nach auch sei­ne Zustim­mung zum Isla­mis­mus des IS kund­tat. Dabei war er nach eige­nen Anga­ben vor dem IS aus Syri­en geflo­hen, da IS-Mit­glie­der sein Han­dy beschlag­nahmt hat­ten, auf dem unter ande­rem por­no­gra­phi­sche Bil­der gespei­chert waren. Auch sei er für Rau­chen vom IS bestraft wor­den. In der ers­ten Haft­zeit habe er sich zuneh­mend radi­ka­li­siert und in der Fol­ge dem IS zuge­wandt. In Dres­den, als er allei­ne gewohnt habe, soll er sich vie­le Pro­pa­gan­da­vi­de­os des IS ange­schaut haben. Dabei soll auch die Abschie­be­dro­hung eine Rol­le gespielt haben, denn er habe laut Psy­cho­lo­gin zuneh­mend unter der Per­spek­tiv­lo­sig­keit und den nega­ti­ven Gefüh­len gelit­ten. Dabei beschreibt sie den Ange­klag­ten als lust­ori­en­tiert und hedo­nis­tisch, was aber zuneh­mend mit sei­ner Reli­gio­si­tät in Kon­flikt gera­ten sei.

Im Juli 2020 wur­de auf einem Tref­fen, unter ande­rem mit dem LKA fest­ge­hal­ten, dass Al‑H. ein gefähr­li­cher und gefes­tig­ter Isla­mist sei. Das LKA orga­ni­sier­te eben­falls ein Tele­fo­nat mit der Mut­ter. Es scheint also, dass die Sicher­heits­be­hör­den auch in die­ser Rich­tung ermit­tel­ten. Zudem arran­gier­ten sie ein Tref­fen mit Fate­ma A.-M., die im Jahr 2019 ver­ur­teilt wor­den war, da sie Al‑H. für den IS gewor­ben hat­te. Al‑H. hat­te ange­ge­ben, dass er die kriegs­ver­sehr­te Isla­mis­tin habe hei­ra­ten wol­len. Zum Zeit­punkt des Tref­fens soll sie ver­hei­ra­tet gewe­sen sein und Kin­der gehabt haben. Auch habe sie sich vom IS abge­wen­det. Al‑H. sei von die­ser Abkehr sicht­lich ent­täuscht gewe­sen und beschimpf­te sie in Gesprä­chen mit der Psychologin.

Als letz­ter Zeu­ge sagt Mat­thi­as L. aus. Die­ser war im Rah­men der Flücht­lings­hil­fe im Jahr 2016 mit dem Ange­klag­ten in Kon­takt gekom­men. Er hat­te zunächst dem Cou­sin des Ange­klag­ten, J., gehol­fen. Die­ser habe dann Al‑H. gele­gent­lich mit­ge­bracht. Sie hät­ten sich öfter zuhau­se getrof­fen und gere­det. Dabei scheint der inzwi­schen 55-Jäh­ri­ge wenig von den bei­den erfah­ren zu haben. Er zeigt aber deut­li­che Sym­pa­thien für J. sowie Anti­pa­thien gegen­über Al‑H. Ob aus Schutz­hal­tung oder nicht, betont er vor Gericht immer wie­der, dass er nicht gewusst habe, was im Kopf des Ange­klag­ten vor sich gehe. Sie hät­ten sich auch hin und wie­der im Schre­ber­gar­ten getrof­fen, um Kaf­fee zu trin­ken. Am 10. Novem­ber 2017 hat­te er Al‑H. in der Haft besucht. Auch am 10. Okto­ber 2020, also sechs Tage nach der Tat, sei der Ange­klag­te noch ein­mal in den Schre­ber­gar­ten gekom­men. Dabei sei L. aber nichts Beson­de­res an ihm aufgefallen.