Schon am zweiten Prozesstag haben sich die Reihen der Medien deutlich gelichtet im Oberlandesgerichts (OLG) Dresden. An diesem 16. April sind keine Kamerateams mehr vor Ort und die tagesaktuelle Presse berichtet nur von einer, wenngleich entscheidenden, Zeugenvernehmung vor dem Staatsschutzsenat des OLG: Die Befragung des überlebenden Opfers des Anschlags, Oliver L., der aus psychischen Gründen per Videoschalte aus Köln im Gerichtssaal ist.
Das Gericht hatte diesem Wunsch zugestimmt, da Oliver L. bis heute unter den Folgen des Angriffs leidet. Um die Gefahr der Retraumatisierung durch die Reise an den Tatort und eine Übernachtung in Dresden zu vermeiden, berichtet er per Webcam vom Erlebten.
Zu Beginn dieses Verhandlungstages ist zunächst bemerkenswert, dass der Dolmetscher von Al‑H. einen regenbogenfarbenen Mund-Nasenschutz trägt und diesen demonstrativ aufbehält, als der Angeklagte den Raum betritt. Dieser reagiert auf die symbolische Aktion des Dolmetschers nicht. Er bestätigt damit den Eindruck vom ersten Tag: Al‑H. scheint sich emotional vom Geschehen isoliert zu haben und nur soweit im Prozess zu interagieren, wie es absolut notwendig ist.
Zeug:innen der Tat
Nachdem er von den vier Justizbeamt:innen in den Saal geführt worden ist, werden Zeug:innen vernommen, die die Tat aus einem Café bzw. einem Hotel aus beobachtet hatten. Alle drei waren als Tourist:innen in der Stadt. Zeugin Agata C., eine 34-jährige Produktionsarbeiterin einer dänischen Käsefabrik, ist extra aus Dänemark angereist und bedarf einer Übersetzung ins Polnische. Sie berichtet ausführlich über ihre Erinnerung, die zwar den mutmaßlichen Täter nicht belastet, aber doch den Tathergang, wie er vom Beschuldigten beschrieben und in der Aussage des Rechtsmediziners am ersten Prozesstag wiedergegeben wurde, bestätigt.
Ähnlich ist es bei der zweiten Zeugin des Tages, Emanuela C., einer 26-jährigen italienischen Studentin, die zur Beschreibung der Tat wenig beitragen kann, aber doch die Umstände bestätigt. Beide saßen in einem Café mit direkter Sicht auf den Tatort. Zuletzt ist eine 56-jährige Buchhalterin geladen, Christiane von K. Sie war mit ihrem Sohn gerade in einem Hotelzimmer im fünften Stock angelangt, von wo aus sie einen unmittelbaren Einblick in die Rosmaringasse hatte – jene Straße, in der der Täter seine Opfer angriff. Der Blick von oben wird anschließend durch Einführung von Drohnenbildern ergänzt, die die Konstellation vervollständigen.
„Was soll ich schon dazu sagen?“
Nach der Mittagspause erfolgt die von den anwesenden Journalist:innen und Prozessbeteiligten gespannt erwartete Vernehmung von Oliver L., der ausführlich von seinem gemeinsamen Urlaub mit seinem Lebenspartner Thomas L. berichtet. Er beschreibt die Tat detailliert aus seiner Perspektive und weicht dabei in einem entscheidenden Punkt von der Darstellung des Angeklagten ab: Er und Thomas L. hätten nicht Händchen gehalten, das täten sie nie. Warum Al‑H. dies so geschildert hatte, wird sich wohl nicht aufklären lassen. Am plausibelsten scheint es, dass es sich wahlweise um eine homofeindliche Projektion des Beschuldigten oder um eine nachträgliche Rechtfertigung gehandelt hat.
Im weiteren Verlauf der Befragung geht es nun um die psychischen und körperlichen Folgeschäden des Angriffs. Erstaunlich gefasst spricht Oliver L. vom Verlust seines Partners, er wirkt beinahe sachlich. Lediglich als die Bundesanwaltschaft ihn nach seiner seelischen Verfasstheit fragt, äußert sich seine Trauer: „Was soll ich schon dazu sagen“, entgegnet er sichtlich resigniert. Die Arbeit helfe ihm dabei, sich vom Schrecken der Tat und vom Verlust abzulenken. Deutlich wird hierbei auch, dass Oliver L. den Prozess möglichst hinter sich bringen will. Er bestätigt mit seiner Aussage noch einmal den Eindruck, den auch die Nebenklagevertretung bislang machte: In das Verfahren soll von seiner Seite nicht aktiv eingegriffen werden. Der anwesende seiner Rechtsanwälte hält sich entsprechend in der Zeug:innenbefragung zurück.
Anschließend wird das polizeiliche Verhörprotokoll einer weiteren Zeugin eingeführt und verlesen. Justina S. bestätigt im Wesentlichen die bereits geschilderten Abläufe.
TKÜ und DNA
Weiter werden zwei Polizeizeugen vernommen: BKA-Hauptkommissar Michael P. sagt über die Auswertung der Geodaten aus. Diese seien gesammelt und akribisch nachvollzogen worden, so der Beamte, sodass die Polizei in der Lage gewesen sei, die Bewegungen des Beschuldigten am Tattag sekundengenau zu rekonstruieren. Anschließend geht es um den Tag des Anschlages selbst. An diesem begann das Bewegungsprofil an der MKEZ Moschee, die Al H. besuchte. Die Geodaten geben möglicherweise Aufschluss darüber, dass Al‑H. seine Opfer schon deutlich länger verfolgt hatte als bislang vermutet. Eingeführt werden die Daten weiterhin für den Tag, an dem Al‑H. die Messer kaufte. Hier zeigt sich das gesamte Potenzial, das der bundesrepublikanische Polizeiapparat mit den technischen Mitteln der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) leisten kann, wenn er will.
Der letzte Zeuge dieses zweiten Verhandlungstags ist Steffen S., ein Sachverständiger für Gerichtsbiologie, der die DNA-Proben, die auf den Schuhen und Tatwaffen gefunden worden waren, ausgewertet hat. Während der Befragung kann der Experte mit umfangreichem Wissen zur Entnahme von DNA-Proben und ihrer Analyse aufwarten. Beobachter:innen stellt sich dabei die Frage, wie der Dolmetscher die unzähligen und kaum verständlichen Fachbegriffe zu chemischen Prozessen, die S. in seiner Aussage einfließen lässt, nachvollziehbar übersetzt. Aber das bleibt wohl sein Geheimnis.
BGH hat Materie nicht begriffen
Spannend an der Befragung ist, dass es zwischen dem langjährigen Polizeibeamten S. und Richter Murad Gorial zu einem kurzen Schlagabtausch kommt. So verweist Gorial auf die vom Bundesgerichtshof (BGH) ausgeführten Kriterien zur Verwendung von DNA-Proben als Beweismaterial und die vergleichsweise hohen Qualitätsmerkmale, die diese erfüllen müssten. Die Rechtsprechung des BGH, insbesondere mit Blick auf sogenannte Mischproben, wo also keine eindeutig identifizierbaren Spuren gesichert werden können, bezeichnete S. dabei mit einer Experteninszenierung als fehlerhaften Kommentar. Mehrmals verweist der Richter darauf, dass es keine Kommentare, sondern wohlbegründete Urteile seien. Doch S. lässt sich davon nicht beirren. Aus seiner Sicht, der auf internationalen Konferenzen spreche, habe das BGH die hochkomplexe Materie, mit der er tagtäglich befasst sei, schlicht nicht begriffen.
Auch der zweite Prozesstag endete nach acht Verhandlungsstunden um 18 Uhr. Gegen Ende kann von einer Öffentlichkeit kaum noch die Rede sein – so gut wie alle Zuschauer:innen hatten den Saal bereits nach der Befragung von Oliver L. verlassen.