
Am neunten und letzten Prozesstag verkündet der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats das Urteil: Der Angeklagte Al‑H. wird wegen Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht ordnete außerdem eine anschließende Sicherheitsverwahrung an. Mit einigen persönlichen und religiös geprägten Worten schließt der Vorsitzende die Urteilsverkündung ab.
Zur Urteilsverkündung an diesem Freitagmorgen sind wesentlich mehr Pressevertreter:innen vor Ort als an den anderen Verhandlungstagen. Vor Beginn des Prozesses werden Live-Bilder für die Nachrichtenredaktionen aufgenommen. Außerdem wird vor dem Gericht eine Kundgebung unter dem Motto „Emanzipatorisch gegen Islamismus und Queerfeindlichkeit!“ abgehalten, die durch die offenen Fenster bis in den Presseraum dringt.
Besondere Schwere der Schuld
Nachdem der Angeklagte hereingeführt wurde und die Kamera- und Fotoleute den vorderen Bereich des Gerichtssaals verlassen haben, verkündet der Vorsitzende Richter das Urteil des Strafsenats: lebenslänglich. Außerdem stellt der Senat die besondere Schwere der Schuld fest, so dass eine an die Haftzeit anschließende Sicherheitsverwahrung vorbehalten bleiben kann. der Vorsitzende fordert den so Verurteilten jedoch zunächst auf, darüber nachzudenken, weshalb es – aus seiner Sicht – Gottes Wille sei, dass er jetzt vor Gericht sitze und das Urteil entgegennehmen müsse. Der Vorsitzende beschreibt anschließend noch einmal die von Al‑H. verübte Tat. Er habe einerseits die beiden Männer, die er als gleichgeschlechtliches Paar zu erkennen glaubte, für etwas mit dem Tod bestrafen wollen, was er als Sünde empfindet. Andererseits sei es in seinem Innersten jedoch darum gegangen, aus religiöser Verblendung eine Tat zu begehen, um „für sein selbst empfundenes sündiges Leben im Jenseits Kompensation zu erlangen“. Er habe sich „durch das selbst gezimmerte Zerrbild Gottes dazu aufgerufen gesehen, Menschen nur deshalb zu töten, weil sie in ihrem eigenen Land so leben, wie er selbst es nicht für gottgefällig“ halte.
Die Tat mache „uns“ fassungslos. Binnen einer Minute wurde das Leben von Thomas L. ausgelöscht und das von Oliver L. schwer beschädigt. Dessen seelische Verletzungen könne niemand ermessen. Daher hoffe der Vorsitzende Richter, dass das Urteil eine Zäsur darstelle.
Der Verurteilte habe bereits in der Haft einen Anschlag geplant, und versucht, an Waffen zu kommen und kurz vor der Tat für ihr Gelingen gebetet. Schlüter-Staats zitiert erneut Verse der zweiten Sure, mit denen Al‑H. seine Tat begründet hatte („Bekämpft auf dem Wege Gottes diejenigen, die euch bekämpfen, aber seid nicht ihre Aggressoren.“) und fragt ihn, ob er Herrn L. von der Flüchtlingshilfe, der ihn — „weil er sich selbst als Christ dazu berufen fühlt“ — so sehr unterstützt habe, auch als „Ungläubigen“ ansehe.
Im Namen des IS
Weiterhin beschreibt der Richter, wie der Verurteilte nach der Tat entgegen seinem ursprünglichen Plan geflohen sei. Dies zeige, dass er nicht als religiösem Fanatismus gehandelt habe, sondern aus egoistischen Motiven einen „kurzen, leichten, bequemen Weg“ ins Paradies suchte. Danach sei der Täter der Meinung gewesen, dass „es doch ganz gut gelaufen sei und er sich nun auf „größere Sachen“ vorbereiten könne. Er habe vorgehabt, erneut „Ungläubige“ zu töten und sich in den nächsten Tagen nichts anmerken lassen.
Die Beweisaufnahme und die Bundesanwaltschaft hätten gezeigt, dass das Geständnis Al‑H.s bis ins Detail zutreffe. Bei der Festnahme trug er dann erneut ein Messer bei sich. Seine Täterschaft lasse sich aus den Beweismitteln eindeutig herleiten.
Daher verurteile der Senat Al‑H. wegen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs. Der Angeklagte habe in der Tat zwei Mordmerkmale erfüllt. Er habe heimtückisch und aus niederen Beweggründen gehandelt und die beiden Opfer einerseits angegriffen, da er sie für homosexuell hielt, und sie andererseits als Repräsentanten einer Gesellschaft treffen wollen, die er „für sich als seinem Glauben zuwider ansah.“ Somit habe er wahllos Opfer angegriffen, um sie zu töten. Dies habe der Angeklagte nach eigener Aussage als göttliche Verpflichtung zum Dschihad im Namen des IS verstanden. Der psychiatrische Gutachter Professor Leygraf habe in seiner Exploration jedoch beschrieben, dass Al‑H. weniger vom Kampf begeistert gewesen sei, sondern vielmehr eine lebensbestimmende Angst vor der Hölle gehabt habe. „Er tat es also nicht für Gott, sondern für sich.“
Anschlag auf Festival geplant
Wann die Wurzel für „eine solche menschenverachtende Deutung“ gelegt worden sei, sei unklar. Sie hänge nicht mit seinem Elternhaus zusammen, Ansatzpunkte könnten jedoch schon in Syrien gelegt worden seien. Im Jahr 2016 habe er Inhalte mit IS-Bezügen auf seinem Handy gehabt. 2017 habe er sich dann im Internet radikalisiert und einen Anschlag auf ein Festival in Dresden geplant. Diesen habe er lediglich nicht verwirklicht, da er nicht wusste wie. Zu diesem Zeitpunkt sei er noch recht ungefestigt und ein typisches junges Opfer für diese Ideologie gewesen, da er Halt gesucht habe. Grundsätzlich gebe es viele Punkte in seiner Biographie, die seine Entwicklung erschwert hätten, wie beispielsweise seine Haftzeit im Alter von 15 bis 18 Jahren. Dennoch sei seine Persönlichkeitsentwicklung zum Tatzeitpunkt so weit abgeschlossen gewesen, dass das Jugendstrafrecht nicht auf ihn anwendbar sei. Außerdem können von einer derartigen Strafmilderung kein Gebrauch gemacht werden, da keine ausreichende Entwicklungsfähigkeit vorhanden sei.
Die besondere Schwere der Schuld werde festgestellt, da der Angeklagte anlasslos zwei Menschen mit Tötungsabsicht angegriffen habe. Es sei sein Plan gewesen, sie allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer von ihm als ungläubig empfundenen Gesellschaft und ihrer sexuellen Orientierung zu töten. Dabei sei er nicht „gewissermaßen hereingeworfen“ worden in „unser freiheitliches Gesellschaftssystem“, sondern es habe zahlreiche Versuche gegeben, ihm die Möglichkeit zum Hinterfragen der Interpretation seines Glaubens zu geben. Diese Schuld könne auch sein Geständnis nicht mindern.
Weiterhin liege die Voraussetzung für den Vorbehalt der Sicherheitsverwahrung beim Angeklagten vor. Er habe den Hang, weitere Mordtaten zu begehen und halte dies für richtig, womit er für die Allgemeinheit gefährlich sei. Wegen der fehlenden Entwicklungsfähigkeit werde außerdem kein Gebrauch von einer Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Einrichtung gemacht.
Schließlich geht der Vorsitzende Richter noch auf die von Oliver L. und der Nebenklage gestellte Frage ein, ob die Tat hätte verhindert werden können, auch wenn sich dies nicht auf Schuld und Strafe des Angeklagten auswirke. Es sei bekannt gewesen, dass der Angeklagte hochgefährlich gewesen sei, weshalb die Führungsaufsicht außerordentlich umfangreich gewesen sei. Es mag sein, dass die Zeitspanne von sieben Monaten, die Al‑H. in Isolationshaft hatte verbringen müssen, einen Anteil an der Tat habe. Dafür seien neben Disziplinarmaßnahmen jedoch ebenfalls die Corona-Pandemie als auch Personalwechsel bei VPN verantwortlich gewesen und nur diese Zeit hätte „der Sache vielleicht, aber eben auch nur vielleicht, eine Wendung geben können“, was Oliver L. heute auch nicht helfen würde. Auch eine Fußfessel hätte die Tat laut dem Vorsitzenden nicht verhindern können, da der Angeklagte bereit gewesen sei, bei der Tat entdeckt zu werden. Für eine Observation habe es zudem angesichts der vielen Gefährder*innen in Deutschland zu wenig Personal gegeben. Insgesamt hätte niemand die Tat inklusive des Messerkaufs im Supermarkt so vorhersehen können, wie sie dann eintraf. Man könne solche Taten zwar vielleicht verhindern, etwa in China, jedoch nicht „in der Gesellschaft, in der wir alle leben wollen.“
Gott ist groß
Über seine abschließenden Worte sagte Schlüter-Staats, dass er lange gezögert habe, ob er sie wirklich aussprechen solle. Dabei beruft er sich dann auf seinen eigenen christlichen Glauben und versucht sich an einem persönlichen, religiösen Urteil: „Das, was Sie getan haben, ist wahrhaft gotteslästerlich gewesen. Wenn jemand sich zum Herrn über das Leben aufschwingt, so wie Sie und ich und alle, die hier sitzen, und dafür auch noch den Namen Gottes missbraucht, das ist sicherlich eine Sünde, die kaum zu übertreffen ist. Und Sie haben ja nicht einmal gemordet, nicht nur gemordet, Sie haben getötet, weil Sie Gott klein gemacht haben. Sie sagen, Ungläubige müssten getötet werden, weil Sie sich nicht an die göttlichen Gesetze halten. Das wäre ein zwergenhafter rachsüchtiger Gott, der es nötig hat, dass ein Al‑H. tötet, nur weil er sich für sündig und ungläubig hält. Tatsächlich ist Gott groß, das ist das Bekenntnis, was Sie sagen, aber nicht meinen. Was Christen, Muslime und Juden an erster Stelle sagen. Ich tue das und weil ich selbst gläubig bin, kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als wenn jemand tötet und das auch noch im Namen Gottes tut, so wie Sie. Das sind Dinge, die hier nicht zu verhandeln sind, ich habe mir nur diese persönliche Anmerkung erlaubt, weil es mich als Menschen und als gläubigen Menschen umtreibt.“ Der Verurteilte habe nun die Möglichkeit innerhalb einer Woche Revision gegen „dieses irdische Urteil“ einzulegen.