Edelweißpiraten: Erinnerung an Walter Gebhard

Edel­weiss­pi­ra­ten-Graf­fi­to in der Langestraße/Dortmund (Foto: H.Koch)

Es geht nur dar­um zu sagen, was man die­sen jun­gen Leu­ten mit dem Pro­zess und der Behand­lung ange­tan hat. Das das Unrecht war …“. So Inge Nies­wand über ihren Bru­der Wal­ter Geb­hard und sei­ne Freund*innen aus einer Dort­mun­der Edel­weiss­pi­ra­ten-Cli­que, die in einem gro­ßen Pro­zess im Okto­ber 1943 ver­ur­teilt wur­den. Ein Gespräch über gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­de Trau­ma­ti­sie­rung durch die Ver­fol­gung des NS-Sys­tems mit der Dort­mun­de­rin Inge Nieswand.

Hei­ko Koch: Guten Abend Frau Nies­wand. Bit­te stel­len Sich sich den Leser*innen kurz vor.

Inge Nies­wand: Ich hei­ße Nies­wand. Mit Vor­na­men Inge. Wenn Sie es genau­er wis­sen wol­len, Inge Eli­sa­beth, nach mei­ner Paten­tan­te. Ich wur­de am 10. Novem­ber 1939 gebo­ren und bin jetzt 79 Jah­re alt. Ich wur­de in der Nähe des Dort­mun­der Borsig­plat­zes — in der Nord­stadt — gebo­ren und bin die­sem Stadt­teil auch heu­te noch sehr ver­bun­den. Weil ich dort bis zu mei­ner Ehe­schlie­ßung gewohnt habe und mich dort sehr wohl gefühlt habe. Zur Zeit ach­te ich auf alles was in Nähe dort passiert.

H.K.: Sie sind, wie Sie vor­hin sag­ten, Mit­glied bei der AWO und der SPD.

I.N.: Ja. SPD-Mit­glied bin ich seit dem 1. Novem­ber 1975. Mit­glied der Arbei­ter­wohl­fahrt bin ich ganz kur­ze Zeit spä­ter gewor­den. So viel­leicht ein Jahr später.

H.K.: Wir sit­zen hier zusam­men, weil ich Sie befra­gen möch­te über die Geschich­te Ihres Bru­ders, Wal­ter Geb­hard, der zur Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus als Edel­weiß­pi­rat im Dort­mun­der Nor­den aktiv war. Bit­te erzäh­len Sie uns Ein­zel­hei­ten zu sei­nem Leben.

Inge Nies­wand mit Mut­ter und Stief­va­ter, ca. 1946

I.N.: Las­sen Sie mich so begin­nen: Ich soll­te als Vier­jäh­ri­ge zum Weih­nachts­fest 1943 ein Lied sin­gen – wünsch­te sich die Fami­lie. Habe ich auch gemacht. Ich habe gesun­gen „Es geht alles vor­über, es geht alles vor­bei. Nach jedem Dezem­ber kommt auch wie­der ein Mai“. Ich habe gedacht, jetzt wird sich die Fami­lie freu­en, dass ich so schön ein Lied gesun­gen habe. Statt­des­sen hat die gan­ze Fami­lie geweint. Das konn­te ich über­haupt nicht ver­ste­hen. Spä­ter habe ich erfah­ren war­um. Mein Bru­der ist als Edel­weiß­pi­rat mit vie­len ande­ren jun­gen Leu­ten im Okto­ber 1943 ver­haf­tet und in die Dort­mun­der Stein­wa­che ein­ge­lie­fert wor­den. Im Dezem­ber 1943 war der gro­ße Pro­zess gegen die­se über 30 Jugendlichen.

Es kam her­aus, dass wenn sie ihre Stra­fe abge­ses­sen hat­ten, sie sich frei­wil­lig zum Mili­tär mel­den muss­ten. Wohl­ge­merkt „frei­wil­lig muss­ten“, komisch, aber so war es. Das war die Situa­ti­on Weih­nach­ten 1943 — „Es geht alles vor­über, es geht alles vor­bei. Auf jeden Dezem­ber folgt auch wie­der ein Mai“. Im Dezem­ber 1943 hat­ten sie ihren Pro­zess und im Mai 1944 hat­ten sie ihre Stra­fe abge­ses­sen und muss­ten zur Wehrmacht.
Die Edel­weiß­pi­ra­ten haben sich im wesent­li­chen zur Mari­ne gemel­det. Es hieß, der Drill soll­te dort nicht so stramm sein. Das kam ihnen am nächs­ten, denn die Edel­weiß­pi­ra­ten, die nur Lat­schen woll­ten, denen der Drill in der Hit­ler­ju­gend nicht pass­te – die woll­ten sich ja nur frei bewegen.
Wal­ter ging dann zum Mili­tär und wur­de ver­letzt. Mit 17 Jah­ren ging er in den Krieg und als er zurück kam war er 19 Jah­re alt.

H.K.: Wann genau kam er aus dem Krieg wieder?

Kriegs­ta­ge­buch von Wal­ter Geb­hard (Foto: H.Koch)

I.N.: Im Sep­tem­ber 1945 kam er aus dem Laza­rett in Hameln zurück nach Dort­mund. In dem Laza­rett haben ihn mei­ne Mut­ter und ich auch besucht. Erst woll­ten sie uns in das Laza­rett nicht rein­las­sen, weil angeb­lich in Dort­mund eine anste­cken­de Krank­heit gras­sier­te. Des­we­gen soll­ten wir nicht zu ihm ins Kran­ken­zim­mer. Ich bin aber den Erwach­se­nen zwi­schen den Bei­nen durch gewischt. So brach ich das Eis. Dann durf­ten wir auch zu ihm.
Vor sei­nem Geburts­tag ist er dann wie­der zurück gekom­men. Mei­ne Mut­ter hat­te das schon in ihrem Her­zen gespürt, dass mit ihm etwas los war „Ich höre den Jun­gen doch rufen“. Ihre Ver­bin­dung war so stark zu ihm, dass sie glaub­te ihn rufen zu hören. Es war ein furcht­bar schwe­rer Weg für Wal­ter vom Bahn­hof nach uns zu Hau­se. Wir wohn­ten in der Uhland­stra­ße. In der Woh­nung mei­ner Tante.

H.K.: Was für eine Ver­let­zung hat­te Ihr Bru­der Walter?

Wal­ter Geb­hard als Marinesoldat.

I.N.: Er hat­te einen Knie­durch­schuss erhal­ten. Im Krieg konn­te man das nicht rich­tig behan­deln. Das Bein war steif gewor­den und das hat ihn stark belas­tet nach Hau­se zu lau­fen. Der Weg vom Bahn­hof in die Uhland­stra­ße war eine Qual für ihn. Dann hat ihn aber jemand gese­hen und ist vor­ge­lau­fen und hat mei­ner Mut­ter Bescheid gesagt. Mei­ne Mut­ter war gera­de am Backen. Sie hat­te alles zusam­men gezo­gen was es gab, um für ihn einen Kuchen zu backen. Den woll­ten wir am nächs­ten Tag nach Hameln mit neh­men. Na, und dann kam er statt­des­sen. Das war sehr schön und auch nicht mehr so belas­tend, woll.
Mein Bru­der war… na er muss­te als Neun­zehn­jäh­ri­ger ja viel an Jugend­zeit nach­ho­len … und er muss­te trotz sei­ner Beins … also er hat trotz sei­nes Beins Fahr­rad gefah­ren. Also er war wirk­lich nicht jemand, der sich unter­krie­gen ließ. Wal­ter muss­te dann immer eine wei­te Stre­cke zurück­le­gen, um Was­ser aus einem Brun­nen zu besor­gen. Naja — und wie Jungs halt so sind in dem Alter – haben die sich aus Jucks und Dol­le­rei gek­ab­belt und der Eimer ist kaputt gegan­gen. Das war eine Kata­stro­phe für mei­ne Mut­ter. Wie soll­te man jetzt Was­ser holen? Da gab es immer gewis­se Schwie­rig­kei­ten zwi­schen Mut­ter und Sohn. Mich als Kind hat das sehr belas­tet, weil ich glück­lich war, mei­nen Bru­der wie­der bei mir zu haben, der alles das mit mir mach­te, was mei­ne Eltern nicht mach­ten. Er spiel­te mit mir, er tob­te mit mir – es war für mich eine wun­der­ba­re Zeit.

Grab von Wal­ter Gebhard.

Um so schlim­mer war es dann, als er im Febru­ar 1946 in sei­ner alten Lehr­fir­ma töd­lich ver­un­glück­te. Er war an dem Unglück nicht schuld. Obwohl man ihm die Schuld in die Schu­he schie­ben woll­te. Das wäre für mei­ne Mut­ter eine Kata­stro­phe gewor­den. Aber glück­li­cher­wei­se war bei dem Unglück ein ande­rer Lehr­ling anwe­send, der aus­sag­te, dass der soge­nann­te Vor­ar­bei­ter Schuld an dem Unfall gehabt hat. Wir haben mei­nen Bru­der Wal­ter dann in der Lei­chen­hal­le wie­der gese­hen. Wal­ter war – was damals ganz sel­ten war — sehr schön auf­ge­bahrt. Wo man das alles her­ge­holt hat, weiß ich nicht. Es waren vor allem die Mäd­chen aus der Edel­weiß­grup­pe, die das alles orga­ni­siert hat­ten. Die eine hat­te von ihrer Mut­ter eine Myr­te bekom­men. Aus der soll­te spä­ter mal ihr Hoch­zeits­kranz wer­den. Die hat sie geop­fert. Man hat alles wun­der­bar mit klei­nen Sträu­ßen ver­ziert und mit schwar­zen Schlei­fen gebun­den. Es war eine abso­lut ande­re Sicht­wei­se auf mei­nen Bru­der, die in der Lei­chen­hal­le dadurch erzeugt wur­de. Die Zusam­men­ge­hö­rig­keit der Edel­weiß­pi­ra­ten hat den Krieg und die schlim­me Zeit über­dau­ert. Ich sah das so. Aber als Kind wuss­te ich das nicht und die Zusam­men­hän­ge habe ich erst viel, viel spä­ter erfah­ren. Durch den Tod mei­nes Bru­ders ist die­se Zeit in mei­ner Fami­lie nie bespro­chen worden.

H.K.: Wann haben Sie von der Mit­glied­schaft ihres Bru­ders bei den Edel­weiß­pi­ra­ten erfahren?

I.N.: Das war zu der Zeit als ich die Frau­en­stu­di­en an der Uni­ver­si­tät Dort­mund mach­te. Da gab es in die­sem Bun­ker am West­park eine Aus­stel­lung und da las ich bei den Edel­weiß­pi­ra­ten den Namen mei­nes Bru­ders als einen der „Haupt­rä­dels­füh­rer“. Das war mir voll­kom­men neu. Ich kam nach Hau­se und sag­te mei­ner Mut­ter „Du hör mal, hast Du das gewusst?“. Mei­ne Mut­ter sag­te „Um Him­mels Wil­len, wis­sen die Leu­te das?“. Die­ser Schre­cken im Gesicht mei­ner Mut­ter war so unver­ständ­lich für mich. Da hat sie mir die Geschich­te mei­nes Bru­ders und alles was damit zusam­men­hing erzählt. Da habe ich erst gemerkt, wie das mei­ne Mut­ter all die Jah­re belas­tet hat­te. Das war Anfang der 80er Jah­re. Die­ser Pro­zess war 40 Jah­re frü­her – Anfang der 40er Jah­re gewe­sen. Das war jetzt 40 Jah­re vor­bei und wäh­rend der Zeit hat mei­ne Mut­ter das in sich ver­schlos­sen, hat nie dar­über gespro­chen und es ist nie auf­ge­ar­bei­tet wor­den. Erst dadurch, dass ich es so erfah­ren habe, sind wir dazu gekom­men das auf­zu­ar­bei­ten. Ich bin mit mei­ner Mut­ter zu einer Ver­an­stal­tung über das Nazi­re­gime in die Stein­wa­che gegan­gen. Dort habe ich mei­ne Mut­ter mit Hil­de Schim­schok bekannt gemacht, die in der Wider­stands­grup­pe „Neu­er Sozia­lis­mus“ orga­ni­siert gewe­sen war. Die hat mei­ner Mut­ter erst ein­mal klar gemacht, dass am Ver­hal­ten mei­nes Bru­ders nichts aus­zu­set­zen war, dass er nichts Böses gemacht hat­te und dass sie nicht gram sein brauch­te auf­grund des Erle­bens die­ser Gerichtsgeschichte.

Dort­mun­der Edelweisspirat*innen (Foto: Geschichts­werk­statt Dortmund)

Danach habe ich mir alles Erreich­ba­re über die Edel­weiß­pi­ra­ten besorgt. In der Zeit habe ich Hans Mül­ler von der Geschichts­werk­statt ken­nen gelernt. Er war Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät und bei ihm habe ich diver­se Semi­na­re besucht. So z.B. über die Jugend­grup­pie­run­gen. Er hat mir die gesam­ten Gerichts­ak­ten von die­sem Pro­zess besorgt. Er hat mich gleich­zei­tig dar­auf auf­merk­sam gemacht, dass ich das von mei­nem Bru­der nicht so anneh­men soll­te, wie es in den Gerichts­ak­ten stand. Denn die­se Papie­re sei­en von den Nazis erstellt wor­den. Das mein Bru­der wahr­schein­lich ein ganz ande­rer Mensch gewe­sen war, als das, was in die­sen Akten über ihn ste­hen wür­de. Damals war mei­ne Mut­ter in die Gesta­po-Wache in Hör­de vor­ge­la­den wor­den und wur­de dort von dem berühm­ten Nazi Busch­mann ver­hört. Der hat ihr gesagt, wenn sie nicht in der Lage wäre ihren gro­ßen Sohn zu erzie­hen, dann sei sie auch nicht in der Lage ihre klei­ne Toch­ter zu erzie­hen. Man müs­se ihr die Toch­ter weg­neh­men. Das hat mei­ner Mut­ter – bild­lich gespro­chen – das Kreuz gebro­chen. Sie war danach nicht mehr so, wie sie als jun­ge Frau gewe­sen war. Sie war vor­her nicht so ängst­lich gewe­sen, wie ich als Erwach­se­ne sie spä­ter erlebt habe. Das ver­stand ich dann aber erst, als ich von die­ser Geschich­te auf der Gesta­po-Stel­le erfuhr. Ich habe dann ver­sucht alles her­aus­zu­fin­den, was man zu den Edel­weiß­pi­ra­ten erfah­ren konn­te. Ich habe mich in der gesam­ten Bekannt­schaft und Ver­wandt­schaft erkun­digt, wie man zu mei­nem Bru­der stand. Mich inter­es­sier­te das wah­re Bild mei­nes Bru­ders, wie ihn die Nazis dar­stell­ten und wie ihn mei­ne Fami­lie kannte.
Ich muss­te als Schü­le­rin ein­mal einen Auf­satz schrei­ben über einen Men­schen, den man beson­ders liebt. Ich habe über mei­nen Bru­der geschrie­ben „Wal­ter war mein Mär­chen­prinz“. Mei­ne Schul­kol­le­gin­nen haben sich dar­über amü­siert. Naja, aber die wuss­ten ja auch nicht was los war. Ich wuss­te das ja auch noch nicht. Für mich war er ein Mensch, den man lie­ben muss­te. Wie er war, woll­te ich 40 Jah­re spä­ter her­aus­fin­den. Das habe ich auch her­aus­ge­fun­den. Ich habe sehr viel Indi­zi­en gefun­den, was für ein guter und ach­tens­wer­ter jun­ger Mensch mein Bru­der gewe­sen war.

H.K.: Was haben Sie von den Edel­weiß­pi­ra­ten mitbekommen?

I.N.: Wal­ter — oder Atta wie ich ihn damals nann­te — muss­te immer auf sei­ne klei­ne Schwes­ter ach­ten. Wenn sich die Edel­weiß­pi­ra­ten irgend­wo tra­fen, hat er sei­ne klei­ne Schwes­ter immer mit­ge­nom­men, weil mei­ne Mut­ter arbei­ten ging und ich nicht zu Hau­se allei­ne blei­ben soll­te, wäh­rend der Zeit wo Bom­ben fal­len könn­ten. Ein­mal woll­te er mich aber nicht mit­neh­men und hat mich auf das Sofa gesetzt, den Wecker vor mich gestellt und gesagt „Pass auf, wenn der eine Zei­ger hier steht und der ande­re Zei­ger da steht, dann kommt die Mama nach Hau­se“. Ich bin treu und brav auf dem Sofa sit­zen geblie­ben und habe den Wecker nicht aus den Augen gelas­sen. Als mei­ne Mut­ter kam, ist sie fuchs­teu­fels­wild gewor­den und hat gesagt: „Was hät­te pas­sie­ren kön­nen, wenn es in der Zeit einen Bom­ben­an­griff gege­ben hät­te?“ Das hat­te der Wal­ter nicht bedacht. Naja, das kann ich heut­zu­ta­ge — nach­dem ich sel­ber Kin­der bekom­men und groß­ge­zo­gen habe — beim Wal­ter durch­aus ver­ste­hen. Also mein Jun­ge, wenn der mit 17 bis 19 Jah­ren immer mit sei­ner klei­nen Schwes­ter hät­te rum­lau­fen müs­sen, der wäre sicher­lich nicht begeis­tert gewe­sen. Der hät­te auch ver­sucht, gewis­se Frei­hei­ten zu haben.
Ich kann­te sehr vie­le Lie­der der Edel­weiß­pi­ra­ten. Ich kann­te die jun­gen Bur­schen, die sich da immer tra­fen. Ich kann­te auch ihre Spitz­na­men. Nuckel Wer­ner Käding zum Bei­spiel. Hei­ner Scheimann. Hil­le­brecht. Die waren mir alle so ver­traut. Aber ich habe das nie irgend­wie zusam­men­brin­gen kön­nen. Spä­ter, als ich das als über 40-Jäh­ri­ge erfuhr, war das wie ein Puz­zle, das ich dann zusam­men set­zen konnte.

Dort­mun­der Edelweisspirat*innen (Foto: Geschichts­werk­statt Dortmund)
Dort­mun­der Edelweisspirat*innen (Foto: Geschichts­werk­statt Dortmund)
Dort­mun­der Edelweisspirat*innen (Foto: Geschichts­werk­statt Dortmund)

H.K.: Von wel­chen Akti­vi­tä­ten Ihres Bru­ders als Edel­weiß­pi­rat haben sie Kenntnis?

I.N.: Na, sie haben sich regel­mä­ßig an der Dan­zi­ger Frei­heit getrof­fen. Sie sind wan­dern oder zum Pad­deln und Kanu­fah­ren an den See gegan­gen. Zunächst woll­ten sie gar nichts, was irgend­ei­nen Anlass zu einer Gerichts­ver­hand­lung gege­ben hät­te. Sie woll­ten nur nicht in die Hit­ler­ju­gend ein­tre­ten, weil ihnen der Drill in die­ser Grup­pe nicht gefiel. Natür­lich haben sie sich mit der Hit­ler­ju­gend oft ange­legt. Wenn sie zum Bei­spiel wuss­ten, dass irgend­wo ein Tref­fen der Hit­ler­ju­gend war und sie wur­den ange­hal­ten die Fah­ne zu grü­ßen, dann hat jemand von ihnen den Kamm genom­men, um sich die Haa­re zu käm­men, anstatt „Heil Hit­ler“ zu sagen. Das waren alles so Sachen, die man heu­te bei jun­gen Leu­ten als selbst­ver­ständ­lich ansieht. Aber damals war es nicht erlaubt. Sei­tens der Regie­rung, sei­tens der Par­tei, konn­te man das nicht akzep­tie­ren. Was dann aller­dings pas­sier­te, das war … Hei­ner Scheimann hat­te Geburts­tag. Sie hat­ten sich zusam­men in der Woh­nung von Hei­ner getrof­fen. Die Eltern waren nicht da – die waren ver­reist. Dann haben sie da den Geburts­tag gefei­ert. Aber zu der Zeit gab es ja kei­nen Alko­hol, bezie­hungs­wei­se war es sehr schwer an Alko­hol zu kom­men. Dann sind die in eine Dro­ge­rie gegan­gen — ich weiß nicht, ob sie da ein­ge­bro­chen sind oder was auch immer – und haben sich dort Alko­hol besorgt. Das wur­de ihnen ganz, ganz böse ange­krei­det. Aller­dings, die Inha­be­rin die­ser Dro­ge­rie hat, als mein Bru­der ver­starb, eine Bei­leids­kar­te an mei­ne Eltern geschickt. Dem­zu­fol­ge kann sie mei­nem Bru­der nicht böse gewe­sen sein. Somit ist auch die­se Sache, die im Pro­zess so mies dar­ge­stellt wur­de, nicht der Wahr­heit ent­spre­chend gewesen.

H.K.: Sie hat­ten erwähnt, dass im Pro­zess auch zur Spra­che kam, dass ihr Bru­der Zwangs­ar­bei­te­rin­nen gehol­fen habe.

I.N.: Ja, mein Bru­der arbei­te­te in einer Fir­ma in der Feld­stra­ße. Dane­ben war ein Betrieb, wo Zwangs­ar­bei­te­rin­nen oder so genann­te Ost­ar­bei­te­rin­nen arbei­ten muss­ten. In der Pau­se hat ihnen Wal­ter sein But­ter­brot zuge­steckt. Das hieß dann im Pro­zess „Kon­tak­te zu Ost­ar­bei­tern“ und wur­de ihm nega­tiv angekreidet.

H.K.: Das ging aus den Pro­zess­ak­ten hervor?

I.N.: Ja, so stand es in den Prozessakten.

H.K.: Ist ihr Bru­der auch wegen angeb­li­cher Pro­pa­gan­da­ta­ten gegen das Reich ange­klagt worden?

Kurt Piehl: Lat­scher. Pimp­fe und Gesta­po (1988)

I.N.: Nein, eigent­lich nicht. Pro­pa­gan­da­ta­ten oder Ähn­li­ches wur­de ihnen nicht vor­ge­wor­fen. Davon ist mir Nichts bekannt. Ich habe mei­ne Mut­ter befragt, ob sie irgend­wel­che Flug­blät­ter gemacht hät­ten. Oder sonst wie auf­fäl­lig gegen die Par­tei gewor­den wären. Das Ein­zi­ge war, das sie mit der Hit­ler­ju­gend öfters anein­an­der gera­ten waren. Par­tei­lich war ihnen Nichts vor­zu­wer­fen gewe­sen. Man hat natür­lich gesagt, dass sie faul und frech gewe­sen wären usw.. Aber mein Bru­der hat, um sei­ne Fami­lie zu unter­stüt­zen, Kegeln in einer Kegel­bahn auf­ge­stellt und Zei­tun­gen aus­ge­tra­gen. Also er war wirk­lich sehr, sehr flei­ßig. Aber das ist auch nicht bedacht wor­den. Es wur­de gesagt, sie sei­en frech und arbeits­scheu. Dass mein Bru­der mehr­fach gehol­fen hat Brän­de zu löschen, wo Bom­ben Brän­de ver­ur­sacht hat­ten, blieb uner­wähnt. Zum Bei­spiel saßen wir im Kel­ler und mein Vater und Wal­ter sind raus gegan­gen und haben geschaut, ob etwas am Haus zer­stört wor­den war. Dabei haben sie fest­ge­stellt, dass der Dach­stuhl brann­te. Dort hat­te eine Fami­lie sehr viel Papier gela­gert. Da sind die Bei­den rauf und haben erst ein­mal das Papier weg geschmis­sen, weil sonst der Brand noch mehr Nah­rung gefun­den hät­te. Ein ande­res Mal haben Wal­ter und sei­ne Freun­de einen Brand gese­hen und haben auch da beim Löschen gehol­fen. Dabei hat er einen Bal­ken auf die Schul­ter bekom­men und war ver­letzt. Als er dann durch die Ver­let­zung tor­keln muss­te, haben ihn Hit­ler­jun­gen ver­hau­en, weil er angeb­lich betrun­ken sei. Auch das stimm­te nicht. Er war verletzt.

H.K.: Die Haupt­zeit der Auf­ar­bei­tung der Geschich­te der Edelweißpirat*innen lag in Dort­mund in den 1980er Jah­ren. Das war die Zeit der Geschichts­werk­statt, der Ent­ste­hung der Stein­wa­che als Gedenk­ort, die Ver­öf­fent­li­chun­gen der Bücher Kurt Piehls, des Comic „Das Kar­bidkom­man­do“ von Gün­ther Rück­ert usw. Nach 40 Jah­ren wur­de das Kapi­tel der Edelweißpirat*innen das ers­te Mal in Dort­mund thematisiert.

Comic von Gün­ter Rück­ert: Das Kar­bid-Kom­man­do — Edel­weiss­pi­ra­ten gegen Mies­mol­che (1987)

I.N.: Ja, das stimmt. Aber die Geschich­te der Edel­weiß­pi­ra­ten wur­de nicht den brei­ten Schich­ten in der Bevöl­ke­rung zugän­gig gemacht. All­ge­mein wur­de nicht über die Edel­weiß­pi­ra­ten gespro­chen. All die­se Sachen. Kurt Piehl und so wei­ter waren in gewis­sen Krei­sen bekannt. Unter ande­rem durch die­se Aus­stel­lung über den Wider­stand gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus in Dort­mund. Aber die all­ge­mei­ne Bevöl­ke­rung hat davon nicht so viel mit­ge­kriegt. Mich hat das natür­lich sehr inter­es­siert und ich habe ver­sucht alles zu erfah­ren. Ich habe alle Zei­tungs­ar­ti­kel gesam­melt und bin in Archi­ve gegan­gen. Es gab sehr wenig zu fin­den. Ich habe hier in Dort­mund oft vor Schüler*innen gespro­chen. Ein­mal mein­te eine Leh­re­rin zu mir, dass sie es noch nie erlebt hät­te, dass ihre doch sonst so lau­te und tur­bu­len­te Klas­se so lei­se gewe­sen wäre. Wäh­rend mei­nes Spre­chens hät­te man eine Steck­na­del fal­len hören kön­nen. Aber es war für die jun­gen Leu­te alles voll­kom­men neu. Inzwi­schen weiß ich, dass auch eini­ge Schu­len sich damit befasst haben, unter ande­rem das Bert-Brecht-Gym­na­si­um. Es gibt eine Schu­le, die die Fei­er in der Bit­ter­mark zu Kar­frei­tag dazu genutzt hat, um dort über die Edel­weiß­pi­ra­ten zu spre­chen. Aber in der gro­ßen brei­ten Bevöl­ke­rung sind die Edel­weiß­pi­ra­ten in Dort­mund nicht ange­kom­men. Ich habe mich mit den Köl­ner Edel­weiß­pi­ra­ten befasst. Die Köl­ner Edel­weiß­pi­ra­ten sind in Jeru­sa­lem als „Gerech­te der Völ­ker“ geehrt wor­den. Aber hier in Dort­mund ste­hen die Edel­weiß­pi­ra­ten nach wie vor in der Schmud­del­ecke und wer­den mög­lichst totgeschwiegen.

H.K.: Was wür­den Sie sich Anbe­tracht die­ser Situa­ti­on wünschen?

I.N.: Also vor 40 Jah­ren, als ich davon erfah­ren habe, da hät­te ich noch gedacht, die schwei­gen dar­über, um ja nicht mit irgend­wel­chen For­de­run­gen kon­fron­tiert zu wer­den. Aber inzwi­schen lebt von den Edel­weiß­pi­rat so gut wie kei­ner mehr. Da muss weder das Land, noch der Staat befürch­ten, dass irgend­wel­che For­de­run­gen gestellt wer­den. Es geht nur dar­um zu sagen, was man die­sen jun­gen Leu­ten mit dem Pro­zess und der Behand­lung ange­tan hat. Dass das Unrecht war und das die­se jun­gen Leu­te nicht schlech­ter waren, als die Jugend heut­zu­ta­ge. Das ist die Sache, die ich mir wün­schen würde.

H.K.: Da kann man nur hof­fen, dass ihr klei­nes Buch über das Schick­sal ihre Bru­ders ver­öf­fent­licht wird.

I.N.: Das wäre schön. Ich habe es an ver­schie­de­ne Stel­len gege­ben. Bis jetzt habe ich aber kei­ne Ant­wor­ten bekom­men. Das macht mich sehr trau­rig, weil nor­ma­ler­wei­se müss­ten die Leu­te, denen ich das Büch­lein habe zukom­men las­sen, sich dazu mel­den. Das ist lei­der bis­her nicht passiert.

H.K.: Dann hof­fen wir gemein­sam, dass dies in nächs­ter Zukunft ein­tritt. Bis dahin, vie­len Dank für das Interview.


Die Erin­ne­rung an die Dort­mun­der Edelweisspirat*innen sind mar­gi­nal. Die Auf­ar­bei­tung der Wider­stands­ge­schich­te der pro­le­ta­ri­schen Jugend­li­chen Dort­munds, die sich in so genann­ten „wild gangs“ zunächst gegen die Hit­ler­ju­gend und dann gegen das NS-Sys­tem  ver­bün­de­ten, ist vor­wie­gend der Dort­mun­der Geschichts­werk­statt zu ver­dan­ken. Die heu­te noch exis­tie­ren­de Grass­roots-Initia­ti­ve mach­te in den 1980er Jah­ren in viel­fäl­ti­ger Art die Geschich­te der Edelweisspirat*innen publik. Über Füh­run­gen durch das ehe­ma­li­ge Gesta­po-Gefäng­nis „Stein­wa­che“, Knei­pen­ver­an­stal­tun­gen, Stadt­rund­gän­ge, Arti­kel, Bücher, aber auch den Comic „Das Kar­bidkom­man­do“. Letz­te­rer wur­de von mir im Jahr 2017 erneut ver­legt. Berei­chert durch Inter­views mit dem Zeich­ner Gün­ter Rück­ert und Andre­as Mül­ler von der Geschichts­werk­statt, sowie alten Ori­gi­nal­tö­nen von Hans Mül­ler und Kurt Piehl. Die Geschich­te des Comics folgt der Auto­bio­gra­phie Kurt Piehls. Der Bau­ar­bei­ter schrieb sein Leben in den 1960er Jah­ren für sei­ne Toch­ter in meh­re­ren Büchern auf. Nur einem Zufall ist es zu ver­dan­ken, dass Hans Mül­ler von der Geschichts­werk­statt von deren Exis­tenz erfuhr und es so gelang die Erzäh­lun­gen als Bücher zu ver­öf­fent­li­chen. 20 Jah­re vor der Zeit als über die Edel­weiss­pi­ra­ten geforscht, geschrie­ben und gestrit­ten und 40 Jah­re bevor sie die ers­ten offi­zi­el­len bun­des­deut­schen Wür­di­gun­gen als Widerstandskämpfer*innen erhiel­ten, wur­den die­se Erzäh­lun­gen ver­fasst. Nicht für einen Bücher­markt mit Ver­kaufs­zah­len, Prä­sen­ta­tio­nen und öffent­li­chen Lesun­gen. Nicht für Geld und Habi­tus. Son­dern zur Erin­ne­rung und Wür­di­gung. Aus die­ser schnör­kel­lo­sen Direkt­heit und Ehr­lich­keit bezie­hen Piehls Erzäh­lun­gen ihre Stär­ke — bis heu­te. So ist es kein Wun­der, dass der 2001 Ver­stor­be­ne nicht nur in der Anti­fa-Sze­ne, son­dern auch in der Graf­fi­ti-Sze­ne über Anhänger*innen verfügt.

Sei­ne Bücher:

Geschich­te eines Edel­weiß­pi­ra­ten. — Frankfurt/M. : Bran­des & Apsel, 1988
Bd. 1. Lat­scher, Pimp­fe und Gesta­po. — ISBN 3−925798−87−0
Bd. 2. Rebel­len mit dem Edel­weiß. — ISBN 3−925798−88−9

Schie­ber, Tramps, Nor­mal­ver­brau­cher : unter­wegs im Nach­kriegs­deutsch­land. — Frankfurt/M. : Bran­des & Apsel, 1989. — ISBN 3−925798−89−7

Tat­ort Bau­stel­le : Wirt­schaft­wun­der-Roman. — Frankfurt/M. :Bran­des & Apsel, 1994. — ISBN 3−86099−434−4

Graf­fi­ti zu Ehren  Kurt Piehls: