Rezension: Andreas Förster Geheimsache NSU. Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur. Verlag Klöpfer & Meyer 2014, 315 Seiten, ISBN 978−3−86351−086−2
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Andreas Förster, der als freier Autor unter anderem für die Berliner Zeitung arbeitet, kann als moderater und zuverlässiger Investigativ-Journalist gelten, der wenig Aufhebens um seine Person macht. Zum NSU hat er die stichhaltigsten und besten Bestandsaufnahmen zu Ungereimtheiten bei den Ermittlungen und was die Verstrickungen deutscher Behörden angeht geliefert. So waren die Erwartungen an ein Buch, das Förster zum NSU-Komplex herausgeben würde, hoch. Das Buch ist im Juni 2014 erschienen, heißt „Geheimsache NSU. Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur“ und ist zumindest keine Enttäuschung. Im Gegenteil, für interessierte Menschen, die beim wöchentlichen Parforce-Ritt im Münchener Gerichtssaal einfach nicht mehr mitkommen, die die tausend Dinge nicht mehr überblicken, die außerhalb des Gerichtssaals ebenfalls im Wochentakt – wie etwa der Tod bisher zweier Zeugen – für Entsetzen und Irritation sorgen, und die das Gefühl haben, einige brisante Fragen werden amtlicherseits im Sinne einer zweifelhaften Staatsräson hastig weggefegt, für die ist das Buch genau das richtige: eine auf gnädigen 300 Seiten konzentrierte, schnell und gut lesbare Einführung in die blinden Flecken des NSU-Komplexes.
„Ständig kommen neue Details und Indizien in diesem komplexen Fall an die Öffentlichkeit“, stellt Förster fest (S. 12) und damit klar, dass das Buch nur eine „vorübergehende Bestandsaufnahme“ sein kann. Und er benennt diejenigen, denen es überlassen bleibt, gegen den Widerstand offizieller Stellen, die offenen Fragen zu stellen, zurückgehaltene Informationen und Ermittlungsergebnisse aufzustöbern und „sich mit behördlichen Stellungnahmen nicht zufriedengeben“: engagierte Journalisten und „akribisch arbeitende Nebenklageanwälte“. Zwar vergisst er in seinem Vorwort völlig, die kontinuierliche und unabhängige Recherche von Antifa-Gruppen zu erwähnen, die viel dazu beigetragen haben, ein erstes Gesamtbild einer rechtsterroristischen Bewegung in Deutschland zu erlangen, aber mit diesem Versäumnis steht er im Mainstream, zu dem er in letzter Konsequenz doch zählt, nicht allein. Geschenkt.
Den NSU in den Skat drücken
Und dann in medias res: Der Journalist Frank Brunner fächert ein weiteres Mal die atemberaubenden Ungereimtheiten im Falle der am 25. April 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Michéle Kiesewetter auf, die es so völlig unverständlich machen, weshalb es im Ländle noch immer eine so massive Abwehr gegen einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Stuttgarter Landtag gibt. Man versuchte dort regierungsseitig zunächst mit einem Bericht der „Ermittlungsgruppe Umfeld“ des LKA das Thema NSU für Baden-Württemberg in den Skat zu drücken. Zwar gebe es rund 52 nachweisliche Kontakte des NSU nach Baden-Württemberg, aber ein Netzwerk von Helfer_innen oder weitere Terrorgruppen vom Schlage des NSU seien nicht nachgewiesen worden, erklärte im Februar 2014 Innenminister Reinhold Gall (SPD). Welche offenen Fragen es zur terra incognita Baden Württemberg gibt, breitet der Journalist Thumilan Selvakumaran in seinem Beitrag zu Försters Buch aus: es geht um das Agieren des Ku-Klux-Klans im Südwesten, um dessen Filiale in schwäbischen Polizeikreisen, es geht um diverse V‑Leute im Nahbereich des mörderischen Geschehens („Krokus“, der unterdessen ebenfalls auf ungeklärte verstorbene „Corelli“, „Radler“ usw.) und es geht um den unter dubiosen Umständen umgekommenen Zeugen Florian H., der am 16. September 2013 – auf dem Weg zu einer Vernehmung beim LKA – in seinem Auto verbrannte. Auffallend schnell war von Selbstmord und Liebeskummer die Rede. Inzwischen versucht der Landtag das Thema mit einer Enquete-Kommission zu beerdigen, obwohl selbst führende Mitglieder des Ende 2013 abgeschlossenen Bundestags-Untersuchungsausschusses zum NSU wie Clemens Binniger (CDU) und Petra Pau (Die Linke) einen solchen für Baden-Württemberg fordern. Selvakumaran kommt trotz des gruseligen Panoramas ungeklärter Umstände zu dem bitteren Befund: „Hinweise gelten nur dann als plausibel, wenn sie zu den Thesen der Bundesanwaltschaft passen. Alle anderen Spuren sind aus Sicht der Ermittler unglaubwürdig“ (S. 62).
Nicht CIA oder DIA, sondern FBI
Wichtig ist den Buchautoren (bis auf Esther Dischereits engagierten literarischen Epilog gibt es nur Beiträge von Männern) auch die berühmte als Ente des „Stern“ abgeschossene Story um die am Tattag in Heilbronn operierenden Mitarbeiter verschiedener, unter anderem US-amerikanischer Geheimdienste. Unter der Überschrift „Vertuschte FBI-Spur“ rollt der Herausgeber mit dem Kollegen Ahmet Senyurt noch einmal die unglaubliche Geschichte auf, wie die reale Anwesenheit von US-Geheimdienstlern am oder in der Nähe des Tatorts in Heilbronn mit Mitteln der gezielten Desinformation verschleiert wurde. Von BAW und BKA soll gezielt gestreut worden sein, dass es sich bei dem Stern-Bericht um „reine Fiktion“ gehandelt habe. „Etliche Zeitungen und Rundfunksender übernehmen diese Version. Manche Journalisten scheuen nicht einmal davor zurück, einzelne Autoren persönlich anzugreifen“ (S. 73), stellen die beiden Autoren fest und unterstreichen damit einmal mehr den Befund, dass zur durch die NSU-Enthüllungen ausgelösten gesellschaftlichen Krise auch das völlige Versagen (und hier ist der Begriff anders als bei den Inlandsgeheimdiensten auf jeden Fall zulässig) jenes Sektors der Öffentlichkeit zählt, der sich die „Vierte Gewalt“ nennt und eine eitle Kontrollfunktion in einer „funktionierenden“ Demokratie zuschreibt. Tatsache scheint zu sein, dass nicht etwa – wie bis dahin angenommen – CIA- oder DIA-Agenten am Platze waren, sondern Leute vom US-Inlandsgeheimdienst FBI. Die US-Behörden hätten sich später, so steht es in der spannenden Agentengeschichte, auch zur Klärung an die deutschen Partnerdienste gewandt, diese hätten sie jedoch auflaufen lassen: der BND reicht die heiße Kartoffel an den Generalbundesanwalt und den Militärischen Abschirmdienst (MAD, Counterpart zum DIA) weiter, wo sie erkaltet. Als eine Aussage des MAD vor dem NSU-Untersuchungsausschuss droht, kann der BND beruhigend vermerken, der „BND verfüge aus den letzten Untersuchungsausschüssen über entsprechende, auch juristisch abgesicherte Textbausteine, die in den letzten Untersuchungsausschüssen, in denen der BND beteiligt gewesen sei, erfolgreich eingesetzt worden seien“ . Förster und Senyurt resümieren lakonisch: „Mit Textbausteinen gegen Aufklärer – das ist die Strategie der Geheimdienste“ (S. 80).
Rotz am Ärmel
Im Buch wird auch immer wieder die Rolle führender Geheimdienst-Mitarbeiter ventiliert, die zu Zeiten als der NSU mordend durchs Land reiste, die Arbeit der Dienste bestimmten und gestalteten: eine der wichtigsten Figuren in diesem Zusammenhang ist etwa der damalige stellvertretende Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Klaus-Dieter Fritsche, der sich im Bundestagsuntersuchungsausschuss benahm wie Rotz am Ärmel, der sich allzu kritische Nachfragen verbat und unverschämt zurückblaffte. Und es fiel der denkwürdige Satz: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren“ (S. 178). Obwohl damit klar sein dürfte, dass Fritsche weit mehr weiß als er preisgibt, und außerdem bekannt ist, dass er noch 2003 in einem Briefwechsel mit dem Bayerischen Innenminister Beckstein eine katastrophale Fehleinschätzung des „Jenaer Trios“ abgab, hat er unterdessen Karriere gemacht: er ist im Rang eines Staatssekretärs Geheimdienst-Koordinator im Kanzleramt jener Kanzlerin, die noch am 23. Februar 2012 den Angehörigen der Opfer des NSU „lückenlose Aufklärung“ versprach.
Unterstützung, Hilfe, Mittäterschaft
Zu den Stärken des Buches gehört nicht nur, noch einmal die Fragen nach dem Wissen und dem Agieren von Geheimdiensten und der dazugehörigen ministeriellen Abteilungen der „Inneren Sicherheit“ herauszuarbeiten, sondern auch die bereits bekannten Ungereimtheiten erneut gut zusammengefasst zu präsentieren. Diese Aufgabe hat vor allem der Stuttgarter Journalist Thomas Moser übernommen, der – obwohl das meiste sattsam bekannt ist, auch immer wieder verblüfften – Leser_innen die Komplexe „Nagelbombenanschlag Keupstraße“ (9.6.2004) und den nach wie vor völlig undurchsichtigen Fall des V‑Mann-Führers des Hessischen „Verfassungsschutzes“, Andreas Temme, aufbereitet, der bei der Hinrichtung des Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat am 6. April 2006 am Tatort zugegen war. Mosers treffender Befund: „Die Behörden bauen ein Bermudadreieck auf, in dem alle Fragen und Nachfragen verschwinden“ (S. 114). Bei dem Anschlag in der Kölner Keupstraße – wie übrigens auch im Falle der so genannten Stollendosen-Bombe in der Kölner Probsteigasse (19.1.2001) – spricht Moser zufolge ebenso wie beim Attentat auf Polizistin Michéle Kiesewetter und ihren Kollegen Martin Arnold in Heilbronn einiges für lokale Unterstützer_innen und Helfer_innen, wenn nicht gar Mittäter_innen des NSU, die in der Münchener Anklageschrift partout keinen Platz gefunden haben. Moser: „Die Keupstraße war das passende Ziel für Ausländerhasser, die Migranten verletzen und ein erfolgreiches Integrationsprojekt zerstören wollten. Doch dazu musste man die komplexe soziale, kulturelle und auch politische Geschichte dieser Straße kennen. Die kennt nicht einmal jeder Kölner“ (S. 116). Wie sollten also Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe davon wissen, wenn sie nicht vor Ort Helfer_innen und Hinweisgeber_innen gehabt hätten.
Nur eine These der BAW
Mosers Verdienst ist es aber auch, dass er die institutionellen Verquickungen und deren Aufarbeitung kritisch beleuchtet: er attestiert dem Bundestagsuntersuchungsausschuss, vielleicht etwas zu pessimistisch, allenfalls an der Oberfläche gekratzt zu haben und nicht die richtigen Fragen gestellt oder nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen zu haben: „Damit negiert er in gewisser Weise seine eigene Aufklärungsarbeit und versucht, entgegen allen Erkenntnissen einen Deckel auf den ungelösten NSU-Komplex zu legen. Es ist die finale Unterwerfungshandlung unter den Sicherheitsapparat. Der Ausschuss ist Teil der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik geworden“ (S.182). Immerhin ist dieses Negativurteil inzwischen insoweit etwas abzumildern, als – wie erwähnt – auch Protagonisten der Untersuchungsausschüsse unterdessen deren Wiederaufnahme fordern, denn nun wüssten sie ja, wo sie weiterfragen müssten. Immerhin gibt es neuerdings ja auch zwei neue Untersuchungsausschüsse, nämlich in Hessen und in Nordrhein-Westfalen, die einen Ansatz bieten könnten, das Thema am Kochen zu halten und die noch weitgehend ausstehende gesellschaftliche Aufarbeitung voranzutreiben, eine Diskussion zu erzwingen, wo das Thema schon diskret abmoderiert werden soll.
Auch den Prozess vor dem Oberlandesgericht in München bewertet Moser sehr negativ: „Der Prozess soll rechtsstaatliche Normalität demonstrieren – das war der Plan“ (S. 186). Immerhin hebt Moser die Rolle der über 50 Nebenklageanwält_innen im Verfahren, die die Interessen der Opfer des NSU und der Opferangehörigen der vom NSU Ermordeten vertreten, hervor, wo es ein gutes Dutzend exzellenter und brillante Beweisanträge erarbeitender Jurist_innen gibt, die dem Ansinnen, das Thema im Gerichtssaal A 101 in München endgültig zu begraben, hartnäckig und scharfsinnig entgegentreten. Moser zitiert in seinem Beitrag die Nebenklageanwältin Edith Lunnebach mit einer Äußerung, die die seit Prozessbeginn tobende Schlacht zwischen der abwiegelnden BAW und den ihre Ansprüchen geltend machenden NSU-Opfern auf den Punkt bringt: „Die Behauptung, es sei das Trio allein gewesen, ist bisher nur eine These der Bundesanwaltschaft. Wir gehen von einem größeren Zusammenhang, einer gefährlicheren Gruppe, inklusive V‑Leute aus. Darüber muss hier verhandelt werden“ (S. 188).
Staatlich-mediales Info-Kartell
Schwieriger wird es in dem Buch mit dem Teil, der sich mit der medialen Aufarbeitung und insbesondere mit dem fragwürdigen Agieren etlicher journalistischer Zunftkolleg_innen beschäftigt. Ist der Bericht des Journalisten Rainer Nübel über dessen Abstempelung als „Fälscher“ noch sehr spannend und auch in der ehrlichen Schilderung seiner eigenen Betroffenheit packend, sind die Beiträge von Nübel und Anton Hunger von einer ziemlich dramatischen Fehleinschätzung geprägt. Da wird der Berufsstand des/der Investigativ-Journalist_in zwar als die hehrste Figur im Fach des Journalismus gepriesen und als diejenige, die der „Demokratie“ die Kastanien aus dem Feuer holt. Dass damit aber immer auch eine Verstrickung und dramatische Nähe zu staatlichen Institutionen entsteht, wo die Abhängigkeit von exklusiv „durchgestochenen“ Informationen – gerade im Falle des NSU-Komplexes – mit einer entsprechenden gefälligen Berichterstattung bezahlt wird, wird zwar klargestellt, aber daraus folgt keine Absage an diese staatlich gelenkte Informationspolitik, sondern eher eine gewisse Larmoyanz, dass man mit dieser Art von exklusiver Fütterung sich auch in erheblichem Maße angreifbar macht und sich seiner journalistischen Unabhängigkeit (freiwillig) begibt. Insofern ist die Empörung darüber, dass „Journalisten Journalisten öffentlich diskreditieren“ insofern unglaubwürdig, als sie von Leuten kommt, die gerne weiter Teil dieses staatlich-medialen Info-Kartells geblieben wären. Ein grundsätzliches und geradezu prinzipielles Misstrauen gegenüber staatlich gelenkter Informationspolitik wird so nicht formuliert und sinistre inoffizielle Hintergrundgespräche, wo Stimmung und Politik von interessierter Seite gemacht wird, auch nicht tabuisiert. Das ist schade und fehlt dem Buch in dieser dezidierten Weise.
Unzählige schwer traumatisierte Menschen
Wichtig ist auch – zu guter Letzt – der Beitrag von Manfred Gnjidic, dem einstigen Anwalt des von CIA-Verschleppung und ‑Folter mit Wissen und Hilfe deutscher Geheimdienste betroffenen Neu-Ulmers Khaled El-Masri. Der skandalöse Fall El-Masris macht für seinen Anwalt deutlich, dass das Agieren von Geheimdiensten und die Unmöglichkeit hier Genugtuung zu finden oder Verantwortliche zu belangen, unzählige schwer traumatisierte Menschen hinterlässt. Gnjidic: „Zuerst werden sie nicht ernst genommen, dann diskreditiert. Brisante Erkenntnisse über staatliches Handeln werden verschwiegen, Ermittlungen nicht mit der notwendigen Konsequenz geführt – besonders dann nicht, wenn Sicherheitsbehörden betroffen sind. Da Ergebnis: Staatsraison ist wichtiger als die Würde der Opfer“ (S. 273).
Ein gutes Buch für Leute, die sich noch mal rasch in Erinnerung bringen wollen, was die größten Ungeheuerlichkeiten und Ungereimtheiten im NSU-Prozess waren – und vielfach noch sind. Fußnoten hätten bei einem solch brisanten Thema bisweilen gut getan und Überprüfbarkeit dort angeboten, wo man schier seinen Augen nicht trauen will vor Staunen und Entsetzen. Und man merkt dem Buch natürlich an, dass es wenige Wochen nach Erscheinen schon hie und da von den jüngsten Ereignissen in und um den NSU-Prozess in München, von laufenden Ermittlungen oder den fortdauernden Nachforschungen unabhängiger Rechercheur_innen überholt worden ist. Thomas Moser ist auf jeden Fall recht zu geben: „Der NSU-Skandal ist nicht vorbei. Er vollzieht sich bis heute, in Echtzeit gewissermaßen und zum Teil vor aller Augen“ (S. 199).
Ein Gedanke zu “Skandal in Echtzeit”
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