Stefan Aust, Dirk Laabs: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, Patheon 2014, 864 Seiten, ISBN: 978−3−570−55202−5
- Buchcover von „Heimatschutz“, der ambitionierten NSU-Gesamtschau von Dirk Laabs und Stefan Aust
Auch das noch, war der erste Gedanke vieler, die sich intensiv mit dem NSU-Komplex beschäftigen, als der 800-Seiten-Klotz „Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU“ im Juni 2014 auf den Tisch gedonnert wurde. 350.000 Seiten Ermittlungsakten, 488 Seiten Anklageschrift mit 1600 Fußnoten im Münchener NSU-Verfahren, 1400 Seiten Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages, gewichtige Abschlussberichte der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse (PUA) der Länder Bayern, Sachsen und Thüringen, Kommissionsberichte, eine unübersehbare Fülle qualitativ völlig unterschiedlicher Medienberichte, mehr oder weniger glaubwürdige Rechercheergebnisse, uferlose Internetdebatten, die wöchentlich im NSU-Prozess dazu kommenden Protokolle (z.B. von NSU-Watch), Beweisanträge, Erklärungen, Gerichtsentscheidungen und Stellungnahmen, die Aussagen von bisher rund 400 Zeuginnen und Zeugen mit entsprechendem Medienecho, und dann eben noch eine ganze Reihe von Buchveröffentlichungen, die immer knapp zu ihrem eigenen Verfallsdatum erscheinen und sich so stets auch dem Verdacht aussetzten, dass sie rasch noch die Sahne eines medialen Aufregerthemas abschöpfen sollten. Der Wettlauf mit dem Sahnelöffel begann nur wenige Monate nach dem Auffliegen, der Selbstenttarnung, dem rätselhaft blutig-abrupten Ende – wie immer man das nennen will, was sich am 4. November 2011 in Eisenach abspielte –, dem Ende dessen, was seither irreführend das „Zwickauer Terrortrio“ genannt wird: diese frühen Bücher sind heute, zwei Jahre später, im Grunde wertlos, weil von den Ereignissen, die andauern, vom „Skandal in Echtzeit“ (Thomas Moser in „Geheimsache NSU“) längst überholt worden sind. Warum also sollte man sich den Tort antun und sich durch das – vermutlich ebenso kurzlebige – Konvolut der Autoren Stefan Aust und Dirk Laabs arbeiten?
Ebenso könnte man sich dem kurzen, aber vernichtenden Urteil von Jens Hoffmann in konkret 7/2014 anschließen: „‚Heimatschutz‘ ist so überflüssig wie Staatsbürgerkunde“. Hoffmann stößt sich vor allem an Formalem – „…dass etwa 90 Prozent der verwendeten Zitate gar nicht erst nachgewiesen werden“ – und dem typischen Kolportagestil in Spiegel-Manier, wo der V‑Mann Thomas Starke als „Halb-Grieche“ (S. 25) eingeführt wird, wo man die Pockennarben des Blood&Honour-Kaders Jan Werner erst erkennt, „wenn man näher an ihn herantritt“ (S. 293) und wo Beate Zschäpes Lächeln kaschiert, „dass sie eigentlich nicht besonders hübsch ist – ihre Augen sind zu groß, die Lippen zu schmal, die Nase ist zu klein, die Proportionen ihres Gesichts scheinen nicht zu stimmen“ (S. 193). Ähnliche Stellen gibt es zuhauf in dem Buch und sie stoßen einem tatsächlich sauer auf.
Und natürlich ist auch ziemlich durchsichtig, weshalb dem eigentlichen Autor Dirk Laabs der illustre „Terrorismusexperte“ Stefan Aust, der inzwischen als Herausgeber in Springers „Welt“ angekommen ist, auf den Bauch gebunden wurde: es ist anzunehmen, dass die Vermarktungsgiganten von Random House, bei deren Verlag Pantheon der mit dem Preis von 22,99 Euro wohlfeile Ziegel erschienen ist, sich von Aust eine gehörige Verkaufsförderung erwarten.
Vielversprechende Collagetechnik
Kurz und gut: Warum sollte man sich das nächste NSU-Konvolut also einverleiben? Der Grund ist einfach der, dass das Buch insgesamt gar nicht so schlecht ist. Es liest sich streckenweise richtig gut und spannend und ist mit dem Ansatz relativ erfolgreich, die an sehr unterschiedlichen Orten, zu völlig unterschiedlichen Zeiten und in sehr verschiedenen Kontexten entstandenen Puzzlesteine eines großen Bildes zusammenzutragen und zu einer ersten kontextualisierenden, wenn auch vielfach noch unscharfen Gesamtschau zusammenzulegen. Freilich wird auch diese Momentaufnahme von Juni 2014 nur flüchtig bleiben und in einem halben Jahr um vielerlei neue Details und Entdeckungen ergänzt werden müssen. Die Collagetechnik aber könnte tatsächlich der Weg sein, die Geschichte zu erzählen, wie sie wirklich war.
Denn noch ist jeder und jede, die sich in die Tiefen dieser monströsen Geschichte wagen wollen, darauf angewiesen, sich in dem beschriebenen Dickicht von Quellen, Reporten, Äußerungen, Berichten, Papieren und Akten zurechtzufinden, um sich im Ungefähr vieler Medienberichte, Internetkolportagen, Verschwörungstheorien und zum Teil wilden Spekulationen ein halbwegs brauchbares „Wie es wirklich gewesen sein könnte“ zu erarbeiten. Schließlich geht es ja nicht nur darum, eine spannende Kriminalgeschichte mit all ihren wahnwitzigen Facetten zu durchschauen oder wie beim sonntäglichen „Tatort“ mitzurätseln, sondern es geht darum am Ende die Verantwortlichen für mörderischen Nazi-Terror und den größten Geheimdienstskandal in der BRD benennen zu können und entsprechende Konsequenzen gesellschaftlich einzufordern und keine Ruhe zu geben, bis sich einiges verändert hat. Im Moment sieht es ja mehr danach aus, dass alles beim alten bleibt und der Inlandsgeheimdienst aus dem Grauen, das er mit zu verantworten hat, noch Kapital schlagen kann. Bis auf vier, fünf Amtsleiterköpfe ist hier nichts zur Unschädlichmachung gefährlich unkontrollierbarer Strukturen ins Rollen gekommen: es herrscht fast schon wieder Konsens darüber, dass die Dienste nur ausgebaut und besser koordiniert werden müssen, um zu verhindern, dass derartiges wieder passiert. Gelder und Personal werden aufgestockt, Pläne geschmiedet, wie die Inlandsgeheimdienste das „verlorene Vertrauen“ durch mehr Bürgernähe und eine Platzierung in der „Mitte der Gesellschaft“, durch Bildungsangebote und Öffentlichkeitsarbeit zurückgewinnen können (vgl. diverse Protokolle der Innenministerkonferenzen und die lauwarme Bundestagsdebatte zu den Konsequenzen aus dem NSU-Skandal am 20.2.2014).
„Nachwende-Wirren“
Schon um zu erkennen, wie zynisch derlei kosmetische Retuschen sind, angesichts dessen, was man über die Rolle der Dienste im NSU-Komplex weiß, kann einem/einer der Laabs/Aust-Schinken helfen: Was die Entwicklung der Nazi-Szene im Nachwende-Deutschland angeht, reicht der Rückblick im Buch bis in die frühen Neunziger Jahre zurück und zu der ersten großen Welle von rassistischen Pogromen im wiedervereinigten Land und erinnert daran, dass es vor allem die offizielle deutsche Politik in den „Nachwende-Wirren“ war, etwa des „Währungsschocks“ vom 1.7.1990, die die Stimmung anheizte: „Seit Monaten hatten konservative Innenpolitiker Interview für Interview, Schlagzeile für Schlagzeile ein anderes Thema in den Mittelpunkt gerückt – Deutschland werde, so stellten vor allem Innenpolitiker der CDU fest, von Asylbewerbern gleichsam überrannt“ (S. 41). Die rasante Entwicklung einer zunehmend militanten Nazi-Szene in Deutschland ist nur vor diesem Hintergrund nachvollziehbar: die Erfahrung konsequenzloser Gesetzesübertretung und „erfolgreicher“ Vollstreckung eines „Volkswillens“ verschaffen der sich radikalisierenden Szene enormen Zulauf, nicht nur, aber vor allem in Ostdeutschland. „Mit dem Herrschaftsmodell implodiert auch ein Autoritätsmodell: Alle Autoritäten – Lehrer, Polizisten, Richter, Eltern – werden in Frage gestellt. Niemand setzt mehr Grenzen, und wenn doch, reißen viele Jugendliche sie nieder. (…) In den Monaten nach der ersten freien Wahl in der DDR und der Währungsunion im Juli 1990 reißt ein Vakuum auf. Das füllen viele Jugendliche mit ihrer aufgestauten Energie, aber auch mit einer schon zu DDR-Zeiten aufgestauten Aggressivität. Die bricht nun auf, eskaliert unkontrolliert“ (S. 64). Davon ausgehend und immer wieder auch mit Rückgriff auf die Organisierungsansätzen bedeutender westdeutscher Nazi-Kader aus jener Zeit (Michael Kühnen, Friedhelm Busse, Manfred Roeder etc.) werden die folgenden Episoden über die individuelle Entwicklung etwa Uwe Böhnhardts vom Anführer einer kriminelle Bande von Jungrechten, die Autos knackte, Einbrüche verübte, Körperverletzungen beging und mit Waffen hantierte, zu einem überzeugten und organisierten Nazi-Kader im „Thüringer Heimatschutz“ und rassistischen Mörder einerseits, aber andererseits auch die Entstehung eines bundesweiten und durchaus international angebundenen Netzwerkes von gut organisierten und gewalttätigen Nazi-Kadergruppen nachvollziehbar.
Vom „Hochspielen“ von V‑Leuten
Und von Anfang an dabei auch immer schon der „Verfassungsschutz“ genannte Inlandsgeheimdienst, dessen Perforation der Nazi-Szene mit Informanten, mit „V(ertrauens)-Leuten“ und „Gewährspersonen“ in der bekannten Manier bis in die 1970er Jahre Westdeutschlands reicht: „In den 1970er Jahren war es den verschiedenen westdeutschen Verfassungsschutzämtern immer wieder gelungen, die rechte Terrorszene zu unterwandern, ohne jedes Attentat stoppen zu können oder stoppen zu wollen“ (S. 87). Für die Entwicklung des westdeutschen Inlandsgeheimdienstes nehmen sich die Autoren des Buches durchaus Raum und zeichnen mit knappen Strichen die prädisponierenden Traditionslinien der heutigen Ämter nach: „Von 1950 bis 1975 ist das [Bundes-]Amt fast ohne Unterbrechung auf die eine oder andere Art von ehemaligen Nazis geführt oder unter deren Kontrolle. Dieses Netzwerk deckt zumindest zeitweise die Gesinnungsgenossen im Land“ (S. 82f) Diese „Gründergeneration“ hat den Inlandsgeheimdienst geprägt und Methoden etabliert, die in bis heute gültige Handbücher des Amtes Eingang gefunden haben. Dazu gehört das Führen von V‑Leuten, zu dem es im Handbuch „Der Schutz der Verfassung. Ein Handbuch für Theorie und Praxis“ des Regierungsdirektors Schwagerl, gewissermaßen der Vater des Verfassungsschutzes heutigen Zuschnitts, heißt: „Die Führung der V‑Leute … kann vorübergehend zu einem aktiven Einsatz führen, um durch die Stimme oder Meinung des V‑Manns die Beschlüsse eines verfassungsfeindlichen Gremiums in einem dem Auftraggeber gewünschten Sinne zu beeinflussen. … Dieses sog. ‚Hochspielen‘ eines V‑Mannes gehört … zur ‚hohen Schule‘ der V‑Mann-Führung“ (zit. nach Laabs/Aust, S. 83).
Die Karriere des Herrn Thein
Geführt werden die zeitgenössischen V‑Leute von Personal, das als Seiteneinsteiger, von der Schulbank oder von der Universität zum Geheimdienst stößt und dort dieses zweifelhafte Handwerk lernt, das im Kontext des NSU-Komplexes zweifellos den größten Skandal darstellt. Dem Buch „Heimatschutz“ verdanken wir da neue Einblicke, die tatsächlich tief blicken lassen: uns wird der V‑Mann-Führer Martin Thein vorgestellt, der den V‑Mann „Tarif“ aka Michael See, einen der wichtigsten Thüringer Nazi-Kader mit NSU-Kontakt mit betreuen wird. „Später“, so erfahren wir nebenbei, „wird er dann seine akademische Karriere auf seiner Erfahrung als BfV-Agent aufbauen und eine Doktorarbeit schreiben, in der er ‚Aussteigerinterviews“ von Neonazis auswertet, aber mit keinem Wort erwähnt, dass er ein Mann des Bundesamtes des Verfassungschutzes ist“ (S. 101, vgl. hierzu „Verfassungsschutzwissenschaftsjournalismus“ [LINK]). Ein weiteres Beispiel also für Leute, die den Geheimdienst als Sprungbrett für andere Karrieren verwenden, ohne ihre Verstrickung offenzulegen. Martin Thein, der sich nach der Promotion, die ebenfalls noch „im Dienst“ entstand, hatte sich in den zurückliegenden Jahren zu einem Experten in Sachen Fußballfankultur entwickelt – wieder jedoch ohne seine Anbindung an das BfVS offenzulegen. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft in Würzburg und Mitbegründer etwa der Plattform „fankultur.com“, veröffentlicht hat er u.a. bei dem eher linken Verlag „Die Werkstatt“: die drei betroffenen Institutionen ringen um einen angemessenen Umgang mit dem Geheimagenten, denn, glaubt man dem Spiegel, Thein ist „seit rund zwei Jahrzehnten und bis heute für das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig“.
Noch schwerer als Thein scheint sich ein anderer Geheimdienstmitarbeiter mit Offenheit und Transparenz zu tun. Er wird uns im Buch als Lothar Lingen vorgestellt, was nicht sein richtiger Name sein soll. Lingen spielt eine Schlüsselrolle beim organisierten Vernichten von Akten im Bundesamt für Verfassungsschutz. Lothar Lingen war nicht nur selbst V‑Mann-Führer von „Tarif“, sondern hat Michael See auch persönlich für die Spitzeldienste geworben. Lingen muss gewusst haben, welche verheerenden Folgen die Offenlegung bestimmter Akten zum V‑Mann „Tarif“ und zur „Operation Rennsteig“ – einer konzertierten Infiltrationsaktion der rechten Szene von BfVS, BND und MAD – für ihn und sein Amt haben würde und hat sie deshalb extralegal bereits Tage nach dem Auffliegen des NSU, am 11.11.2011 schreddern lassen und um deren Vernichtung auch sicherzustellen, sogar seinen Chef, den Präsidenten des BfVS, Heinz Fromm, belogen. Im Buch auf den ersten Seiten geschildert wird im Laufe der langen Erzählung der NSU-Story klar, dass Lingens Alleingang zum eigenständigen Quellen- und Geheimschutz die „original sin“ der deutschen Geheimbürokratie bei der Aufklärung des NSU-Skandals und nichts weniger als kriminell war. Und ist, denn „in den nächsten sieben Monaten, bis in den Juni 2012 hinein, werden Hunderte von Akten im Bundesamt geschreddert“ (S. 18).
Extralegaler Quellenschutz und kriminelle Aktenvernichtung
Die Lektüre des Buches offenbart in schmerzhafter Deutlichkeit, wie sehr der Staat über seine (Geheim-)Behörden in der Nazi-Szene präsent war, wie viele führende Köpfe der militanten, gewalttätigen Nazi-Szene sich als V‑Leute betätigten. Bisweilen hat man den Eindruck, dass fast alle gefragt worden sind und sehr viele zu einer Zusammenarbeit mit den Geheimen bereit waren. Auch das Buch kommt im Laufe der Erzählung auf rund 24 VS-Spitzel im mehr oder weniger nahen Umfeld des NSU, wie groß dessen Kerngruppe auch immer gewesen ist. Aber nicht nur eine fragwürdige und durch extralegalen Quellenschutz und kriminelle Aktenvernichtung vernebelte Verstrickung der Ämter wird deutlich, sondern auch das begrifflich viel gescholtene und mißverständliche „Versagen“ aller am NSU-Komplex beteiligten Behörden. Da wird bisweilen ein Ausmaß an Ignoranz und Dämlichkeit offenbar, das gepaart mit der kriminellen Kaltschnäuzigkeit etwa eines Lothar Lingen einem kalte Schauer über den Rücken treibt: „In regelmäßigen Abständen wird die Geheimdienst-Gemeinde in den nächsten zwei Jahren [bis ca. 2000, Anm. d. A.] einen Hinweis nach dem anderen bekommen, dass Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in der Tat in Chemnitz untergetaucht sind. In Wellen werden Observanten durch die Stadt schwappen und die Szene observieren – doch stoppen wird die drei niemand“ (S. 329). Im Buch gibt es Bilder, die das Thüringer LfVS im Mai 2000, wenige Monate vor dem ersten dem NSU zugeschriebenen Mord an Enver Şimşek in Nürnberg, von einem Umzug Mandy Strucks, einer Chemnitzer Szene-Größe, gemacht hat. Sie zeigen einen jungen Umzugshelfer bei der Arbeit: es ist Uwe Böhnhardt, wie das BKA nach einem Abgleich feststellt – allerdings erst Wochen nach der Observation.
Alles drin
Das Buch ist voll solcher Geschichten, die man zum Teil schon mal gehört oder in den Medien mitbekommen hat, es geht um den monströsen Giga-V-Mann Tino Brandt, um das weit verzweigte und mit V‑Leuten durchsetzte Nazi-Netzwerk, um das Verschwinden des Begriffs „terroristisch“ aus den Polizei- und Medienmeldungen über den Nagelbombenanschlag am 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße, es geht um die Rolle des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) der Bundeswehr im ganzen Geschehen, es geht um die europaweit vernetzte und sich inspirierende Nazi-Terrorszene und die Einflüsse der US-Vordenker des „kleinteiligen“ Terrors, der von Zellen und im führerlosen Widerstand zu erfolgen habe, es geht um die „Turner Diaries“ von William Pierce als ideologisches Rüstzeug, um Bob Matthews‘ Terrortruppe „The Order“, um „Combat 18“ in Großbritannien als militantem Arm der „Blood&Honour“-Organisation und welchen Einfluss all diese wahnwitzigen „Rassenkrieger“ auf die deutsche Szene und insbesondere das NSU-Umfeld hatten. Es geht um den Ku-Klux-Klan, dem die Autoren einigen Raum geben, um deutlich zu machen, dass diese „traditionsreiche“ US-Organisation, deren Protagonisten in den frühen 1990ern in Deutschland weilten, auf eine nationale Erhebung hofften und einige der im NSU-Netz Aktiven für ihre Ziele gewannen: nicht nur die V‑Männer Corelli und Piatto waren KKK-Mitglieder, sonder auch einige baden-würrtembergische Polizeibeamte aus dem dienstlichen Nahumfeld der ermordeten Michéle Kiesewetter. Ein weiteres Mal wird man lesend auf die katastrophalen Fehleinschätzungen des damaligen Vize-Chefs des BfVS (und einstigen Büroleiters des Bayerischen Innenministers Günther Beckstein), Klaus-Dieter Fritsche, gestoßen, der – Was wusste er damals überhaupt darüber? — noch 2003 eine terroristische Betätigung der drei „Jenaer Bombenbauer“ gegenüber dem Bundesinnenminister Otto Schily kategorisch in Abrede stellte. Was mag der heutige zum Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt beförderte Fritsche aber 2012 vor dem Bundestags-Untersuchungssausschuss gemeint und gewusst haben, als er brüsk den viel zitierten Satz sprach: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren“ (hier: S. 821). Aber auch alle anderen Ungeheuerlichkeiten und Ungereimtheiten des NSU-Komplexes werden in das aufwändige, vielteilige Puzzle eingefügt: das brennende Wohnmobil in Eisenach am 4.11.2011, der Weg der Mordwaffe Česká 83, Michéle Kiesewetters privates und berufliches Umfeld und ihre Situation vor ihrer Ermordung, der diffuse und weitgehend ungeklärte Tathergang in Heilbronn, die Anwesenheit ausländischer Agenten dort, der bizarre Fall des V‑Mann-Führers Andreas Temme in Kassel, der bei der Ermordung Halit Yozgats in dessen Laden anwesend war, Fragen zum höhnischen Bekennervideo – alles kommt in dem monumentalen Werk zur Sprache, auch wenn anzunehmen ist, dass genau diese Detail- und Faktenfülle, die tausend Namen und Verbindungen, die beschrieben werden, für unbedarfte Lesende schlicht eine Überforderung darstellen dürften.
Puzzle-Bild mit Fratze
Ein Buch für Nerds und Fachleute, Prozessbeobachter_innen und andere Irre also? Das steht zu befürchten, zumal selbst interessierte, fleißig Zeitung lesende und vom NSU-Komplex nachhaltig verunsicherte und alarmierte Leute allmählich den Überblick zu verlieren drohen.
Immerhin bietet das „Heimatschutz“-Buch durchaus auch eine ganze Reihe von Fußnoten, wenn auch nicht zu allen Behauptungen, Zitaten und Hintergrundinformationen. Es werden nicht nur offizielle und Mainstream-Belege, sondern auch das Prozessbeobachtungsprojekt NSU-Watch ausgiebig zitiert und auch andere Antifa-Quellen konsultiert. Ein kriminologisch-politisches Wimmelbild ist hier entstanden, das viele Mängel, einige gravierende Fehler (So ist z.B. 2003 vom BVerfG nicht etwa das Verbot der NPD, sondern die Annahme des Verbotsantrages abgelehnt worden, vgl. S. 487) aufweist, aber als ein erster Versuch gewürdigt werden kann, dem Wust an Informationen, Bewertungen, Analysen, großen Zusammenhängen und kleinsten Details Herr zu werden. Ein grobes Puzzle-Bild ist entstanden, aber viele Steine fehlen noch. Zu erkennen aber ist schon jetzt, was da einst zu sehen sein wird: die Fratze eines lachenden Geheimagenten.
Bitte, bitte, lieber Fritz Burschel, lass doch die „Erklärung“ des Ganzen mit der „Ignoranz und Dämlichkeit“ der Dienste weg. Danach sortiere ich nämlich für mich persönlich so ein bisschen, wessen Meinung ernst zu nehmen ist in der Diskussion über die Geheimdienste und den NSU. Wer von der „Ignoranz und Dämlichkeit“ der Dienste anfängt, ist nicht mehr weit von den „Pannen“, ist nicht mehr weit von …
Liebe_r Antira,
nein, lass ich nicht weg, denn die zum Teil slapstickartige
Gurkentruppigkeit ist neben der kriminellen Verstrickung und
dem irrwitzigen Rassismus sehr wohl auch ein wichtiger Aspekt
dessen, was passiert ist; es gibt all diese Aspekte und es hat wenig
Sinn „Ignoranz und Dämlichkeit“ als Befunde wegzulassen, nur um
nicht in den Verdacht zu geraten, man wolle den ganzen NSU-Komplex
als „Versagen“ oder Aneinanderreihung peinlicher „Pannen“
verharmlosen; wer Temme oder einige andere Kripo– oder VS-Leute im
Gerichtssaal in München und jenseits davon erlebt hat, weiß, was ich
meine. Danke dennoch für die kritische Rückmeldung, auch wenn ich
künftig durch Dein kategorisches Raster fallen dürfte: einen
schönen Sommer wünscht Fritz Burschel