Rede von Friedrich Burschel als Vertreter von NSU-Watch in Köthen am Samstag, 16.9.2018, wo über 800 Antifaschist_innen gegen einen AfD-Aufmarsch protestierten:
Liebe Leute,
mein Name ist Fritz Burschel und ich überbringe Euch die solidarischen und kämpferischen Grüße von NSU-Watch.
Vor zwei Wochen habe ich in Chemnitz auf der Gegendemo zum AfD-und-Nazi-Aufmarsch gesagt: „Chemnitz wird in Kürze nur noch eine Zwischenetappe der Eskalation gewesen sein.“ Keine Woche später war das bereits wahr geworden. Der tragische Tod eines jungen Mannes aus Köthen hat die Lage in Teilen des Landes, diesmal in Sachsen-Anhalt, nochmals gefährlich verschärft und das politische Gesamtbild dieses Landes weiter verdunkelt.
Natürlich fühlen wir mit den Trauernden, vor allem mit denjenigen, für die zum Schmerz des Verlusts noch der Horror der Instrumentalisierung der Toten durch einen nazistischen Mob dazukommt. Wir teilen insbesondere mit den Angehörigen von Daniel in Chemnitz und Sophia aus Leipzig die Wut darüber, dass ihre schrecklichen Tode von einer aufgehetzten Menge und ihren Einpeitscher_innen für ihre ekelhaften Propagandazwecke mißbraucht werden: Das ist einfach nur widerlich! Ihre Bilder auf dem so genannten Trauermarsch in Chemnitz zu sehen, war einfach nur zum Kotzen!
Und wir sind heute hier in Köthen, weil wir unseren Freundinnen und Freunden in dieser Stadt beistehen und ihnen signalisieren wollen, dass sie mit ihrer Fassungslosigkeit und Wut nicht alleine stehen. Klar sind die meisten von uns in Sorge Angereisten heute Nacht wieder weg und auf dem Weg nach Hause, während Ihr immernoch hier seid. Das heißt aber nicht, dass unsere Sorge und Solidarität kurzlebig und schal wäre: Ich gehe davon aus, dass die meisten, die heute den Weg hierher gefunden haben, sehr genau ahnen, was die Stunde geschlagen hat!
Wir sind aber auch hier, weil wir es satt haben, wie die Gemeinwesen, die Städte und Dörfer, in denen sich diese Dinge ereignen, nichts weiter im Kopf haben, als den angeblich guten Ruf ihrer Ortschaften. Als gäbe es in diesen Städten nicht überall gut vernetzte Nazi-Strukturen, die jetzt die Gunst der Stunde nutzen, um ihre nationalsozialistische Gesinnung auf die Straße zu tragen. Es gibt in diesen Orten meist keine zivilgesellschaftlichen Gegenkräfte mehr, keine soziokulturelle Diversität, keine menschenrechtlich orientierte demokratische Alltagskultur. Und das ist nicht erst seit gestern so: Wer nur konnte und bei klarem Verstand war, hat diese verlorenen Käffer vor Jahren schon verlassen und sich selbst überlassen. Ruhig war es so nur deshalb geworden, weil im Laufe der Zeit niemand mehr da war, der einen demokratischen Diskurs eingefordert und eine andere Meinung stark gemacht hat. Und weil die Nazis kaum noch jemand fanden, den sie angreifen konnten.
Und ein bürgerlicher Mainstream bis weit in die Mitte der Gesellschaft ist längst in den gespenstischen Parallelwelten versunken, in denen es wirklich „Messermigration“, „Bevölkerungsaustausch“ und die große Verschwörung gegen das „deutsche Volk“ gibt.
Denn eins ist ganz klar: Chemnitz ist überall. Köthen ist überall. Dass eine nächste gefährliche Eskalationsstufe rechten Auftrumpfens ausgerechnet hier erreicht wird, könnte reiner Zufall sein. Rassistische Gewalt, rechter Terror und das unheilvolle Wuchern der neuen Partei im „herrlichen“ Verfassungsbogen der Bundesrepublik, der so genannten Alternative für Deutschland, geben uns grausame Lektionen in „Heimat- und Sachkunde“: Wir lernen Orte wie Clausnitz kennen, Einsiedel, Heidenau, Freiberg, Ostritz in Sachsen; Ballstädt, Mattstedt, Themar in Thüringen, Köthen, Dessau und Salzwedel hier in Sachsen-Anhalt; Cottbus und Nauen in Brandenburg; und wenn wir die Antworten der Bundesregierung auf Kleine Anfragen zu rassistischen Anschlägen und Angriffen der zurückliegenden Jahre ausdrucken, halten wir telefonbuchdicke Postleitzahlenverzeichnisse aus dem ganzen Bundesgebiet in Händen, Nord und Süd und Ost und West!
Aber ganz generell: Die politische Situation in Deutschland hat sich in Rekordgeschwindigkeit in den zurückliegenden etwa fünf Jahren verschlechtert. Eine breite nationalistische Bürger*innenbewegung hat sich formiert, in der die destruktiven Energien
- rassistisch motivierter Normalbürger*innen,
- «intellektueller» faschistischer Thinktanks und Publikationsprojekte,
- zusehends besser organisierter militanter Neonazis
- und der AfD als parlamentarischem Arm zusammenschießen.
Diese wuchtige Dynamik hat seit der Ankunft zehntausender Geflüchteter aus Syrien und anderen Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten dieser Welt im Jahr 2015 erst richtig Fahrt aufgenommen. Die sogenannte Willkommenskultur und das Merkelsche «Wir schaffen das!» wurden schnell von einem sich rasant formierenden und radikalisierenden Protest so genannter besorgter Bürger medial und auf den Straßen des Landes überflügelt. Fortan war nur noch von der «Flüchtlingskrise» die Rede und eine völkisch-nationalistische Bewegung ließ sich vom hasserfüllten Furor rassistischer Scharfmacher in die Höhe tragen. Das antifaschistische Berliner Rechercheprojekt «apabiz» stellt dazu fest: «Diese Durchlässigkeit zwischen den Milieus und auch die Mobilisierbarkeit mehrerer Generationen von Aktivist*innen der extremen Rechten entspricht dem Stand antifaschistischer Recherchen und ist ein wesentlicher Grund der jetzigen Entwicklung auf der Straße. »
Alarmierender Effekt dieser Entwicklung sind:
- Die Verschiebung der gesellschaftlichen Diskurse weit nach rechts,
- die Auflösung von Sagbarkeitsgrenzen oder die Umkehrung von Tabus,
- die enorme Verstärkerfunktion in den sozialen Medien und Netzwerken für Verschwörungstheorien, rechte und rassistische Fake-News, nationalistische Kampagnen und Parteipropaganda, viele dieser Menschen bewegen sich in einer hermetischen völkisch-nationalistisch aufgepumpten Informationsblase, in der es keine Zweifel, keine Korrekturen und Gegenmeinungen mehr gibt und wahr einzig ist, was Leute wie etwa die Rednerinnen und Redner der heutigen AfD-Demo in Köthen so verzapfen.
Der Durchmarsch der erst 2013 gegründeten AfD trägt zu dieser dramatischen politischen Verwahrlosung ebenso bei wie die Zunahme von Organisationsgrad, Militanz und Gewaltbereitschaft seitens ihrer außerparlamentarischen Unterstützer*innen (wie den «Identitären») und die Durchdringung des politischen Systems der Bundesrepublik (bis hinein in den Bundestag) mit neurechten und nazistischen (oder neofaschistischen) Akteur*innen.
Kaum jemand verfolgt doch wirklich, mit welcher Chuzpe und Dreistigkeit die Frontfiguren der AfD im Bundestag und in den Landesparlamenten ihre menschenfeindliche Propaganda hinausposaunen und Stimmung machen. Ungeheuerliche Hetzreden von Parteichefin Alice Weidel, von Einpeitscher Gottfried Curio, Jörg Meuthen oder MdB Nicole Höchst oder entsprechende Anfragen und Anträge werden außerhalb des hohen Hauses gar nicht recht zur Kenntnis genommen.
Dass die AfD in Sachsen-Anhalt, wo sie bei den Landtagswahlen 2016 ein Viertel der Wähler_innenstimmen holte, dabei ist, demokratische Kultur zu zerstören und abzuschaffen, wird tatenlos und ohne Protest zur Kenntnis genommen. Erst vor zwei Wochen hat die AfD dort unter Führung des Protofaschisten André Poggenburg, der sich auch schon mal Lager für linke Akademiker herbeiwünscht, die Liquidierung des Vereins „miteinander“ weiter „durchgekämpft“, so seine Worte. Danach seien, so Poggenburg, die Gewerkschaften und Verbände der Soziokultur dran.
Mit den immer wieder wiederholten Verleumdungen, Unterstellungen und Falschbehauptungen, „miteinander“ habe Kontakt zu Linksextremisten, begehe Fördermittelbetrug usw. usf. versucht die AfD die großartige Arbeit des zivilgesellschaftlichen Vereins zu diskreditieren und ihn zu zerstören. Die neurechte Internet-Kampagne „EinProzent“, die auch an der AfD-Demo hier heute in Köthen mitstrickt, legt mit pseudo-investigativen Infos über Mitarbeiter_innen des Vereins nach. Und Rassist Poggenburg hat damit Erfolg: Die Landtagsfraktion der CDU knickt ein und weist die durchsichtigen Anwürfe der AfD nicht etwa zurück, sondern beteiligt sich an der Demontage dieser Säule demokratischer Kultur in Sachsen-Anhalt, das mit solchen Säulen nicht eben reich gesegnet ist.
Da wächst wohl schon zusammen, was letztlich zusammengehört und sicher auch in Sachsen oder Bayern in absehbarer Zeit Koalitionsverhandlungen führen wird.
All das hat dieses Land verändert — demokratische (Alltags-)Kultur, humane Orientierung und menschenrechtliche Grundstandards schwinden im Nu dahin. Die Atmosphäre ist vergiftet mit einem auftrumpfenden und niederträchtigen Rassismus vieler, die sich vom Taumel der AfD-Erfolge und des globalen Rechtsrucks ermächtigt, beglaubigt und ermutigt fühlen.
Es ist eingetreten, was Partei- und Fraktionschef Alexander Gauland nach dem — aus seiner Perspektive — triumphalen Einzug der AfD in den Bundestag am Wahlabend des 24. September 2017 siegestrunken ankündigte: «Wir werden sie jagen. Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen. Und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.» Und mit „unser Volk“ meint er vermutlich Leute wie diejenigen, die wie vergangenen Sonntag hier in Köthen den Nationalsozialismus beschwören, mit Lynchjustiz drohen und sich mit Hitlergruß und gewaltbereit zusammenrotten…
Wir hier müssen Gaulands Ankündigung definitiv als Drohung verstehen.
Und sie treiben so etablierte Parteien tatsächlich vor sich her: Allein die bayerische CSU zeigt wie ungebremst und panisch die bürgerlichen und «Volksparteien» versuchen, sich den «Rechtspopulisten“ anzunähern: War deren Führungsriege schon immer ein kaum zu ertragender Männerklüngel aus rechtskonservativen Strebern, gelang ihr unter dem Druck der AfD-Erfolge in beeindruckender Weise eine Regression zur besonders fies völkisch-nationalistischen Besitzstandswahrer-Partei. Selbst ihrer katholische Stammwähler*innenschaft wird es da bisweilen schwindelig. Mit dem neuen Bundesinnen- und „Heimat“-Minister Horst Seehofer macht die CSU ihren verderblichen Einfluss auch in der Bundespolitik geltend.
Und der Heimat-Horst sieht sich eher auf der Seite derer, die sie nach wie vor „besorgte Bürger“ nennen, obwohl sie unterdessen keinerlei Hemmungen mehr haben, sich mit den Nazis auf der Straße zu tummeln. Nein, das sieht Seehofer sicher wie sein Gesinnungsgenosse, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer:
Rechten Mob? — Hat’s nicht gegeben!
Massenhaft Hitlergruß? — Hat’s nicht gegeben!
Hetzjagden? „Hat’s nicht gegeben!
Während sich bürgerliche Parteien also zusehends nach rechts bewegen und auf fast erbarmungswürdige Weise versuchen, sich ihrer verlustig gegangenen und größtenteils zur AfD übergelaufenen Klientel wieder anzudienen, etablieren sich in den 14 Landtagen und nun auch im Bundestag AfD-Thinktanks, in denen viele Dutzend namhafte Akteur*innen der rechts-nationalistischen und neonazistischen Szene wirken und für eine Normalisierung krude völkischen Gedankenguts in den Plenarsälen und auf allen politischen Ebenen sorgen.
Es hat im Grunde die große Stunde der angeblich intellektuellen Neuen Rechten geschlagen, die keineswegs neu ist und diesen Namen nun schon seit einigen Jahrzehnten trägt. Neben dem Chef des neurechten Thinktanks «Institut für Staatspolitik» (IfS) und Chef des dazu gehörigen Verlags «Antaios», Götz Kubischek, und seinen Mitstreiter*innen, geben sich seither einschlägige Figuren
- wie der faschistische Troll und einstige Linke, der Herausgeber des expandierenden Hetzmagazins «Compact», Jürgen Elsässer,
- der krude rassistische, deutsch-türkische Autor von Katzenkrimis, Akif Pirinçci,
- und der völkische Rechtsausleger und Thüringer Fraktionschef der AfD, Bernd Höcke, das Mikro in die Hand.
- Und zu den «alten Haudegen» der neurechten und reaktionären Gilde gesellen sich auch jüngere wie etwa Philipp Stein von der bereits erwähnten so genannten Widerstandsbewegung «EinProzent» und
- Martin Sellner von der «Identitären Bewegung» (IB), die mit Aktionen bildstark und medienwirksam völkisch-identitäre Störmanöver wie etwa die Besetzung des Brandenburger Tores in Berlin veranstaltet. Mit dieser Präsenz im öffentlichen Raum und als Debattenredner*innen und mit «ihrem Einfluss auf die AfD verfügt die Neue Rechte nun über ein Instrument, um ihre politischen Vorstellungen in die Parlamente zu tragen. Teile der Gesellschaft bewegten sich auf ihre Positionen zu, ein Prozess der Normalisierung hatte begonnen», schreibt der Historiker Volker Weiss in seinem Buch „Die autoritäre Revolte“.
Wie weit das Selbstbewusstsein dieser Akteur*innen unterdessen ist und wie willfährig ihnen einerseits gewalttätige Neonazis und andererseits rassistisch verbohrte «Normalbürger» folgen, kann man in diesen Tagen in Chemnitz, Köthen und anderswo studieren. Wie in weiten Teilen geradezu unwillig staatliche Stellen und Ordnungsbehörden auf das Geschehen reagieren ebenso: Über weite Strecken ließ die sächsische Polizei den Mob in Chemnitz gewähren, schritt gegen sich zusammenrottende Gewalttäter nicht ein. Journalist*innen werden in ihrer Berufsausübung und gegen tätliche Angriffe nicht mehr geschützt.
Man muss gar nicht auf den ungeheuerlichen Fall des Geheimdienstchefs Maassen eingehen, nicht noch einmal die Geschichte des „Hutbürgers“ erzählen oder die des Haftbefehls im Internet, um zur niederschmetternden Analyse zu kommen, dass es in den Staatsapparaten in Bund und Ländern, insbesondere in den Repressionsbehörden erhebliche und gefährliche Sympathien für das neurechte völkisch-rassistische Gedankengut gibt. Beispiele gäbe es genug, die sich nicht nur auf exekutive Behörden, Justiz und die Parlamente beziehen, sondern auch auf eine Alltagskultur, in der es zunehmend en vogue ist, seine Sympathien für rassistisches und neurechtes Denken zu äußern: die Eskalationen auf den Frankfurter und Leipziger Buchmessen und larmoyante Bekenntnisse zu rechtsreaktionärem Gedankengut auf offener Bühne — wie das des preisgekrönten Schriftstellers Uwe Tellkamp in Dresden — geben davon beredt Zeugnis.
Der umfassende Rechtsruck ist auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens zu spüren und besonders deshalb so erschreckend, weil entsprechende Gegenkräfte in der Gesellschaft wie paralysiert dem Geschehen zusehen und nur sehr langsam und verzagt in Bewegung kommen. Dabei drängt die Zeit, die nächsten Landtags- und auch viele Kommunalwahlen sowie die Europawahl 2019 stehen an. Im Oktober wird die AfD als Nächstes — gerade in Bayern — ihren kalt lächelnden Siegeszug fortsetzen und die fatalen Versuche der CSU, die AfD rechts zu überholen, der Lächerlichkeit preisgeben.
Die einzige Chance, eine in gewissem Rahmen offene Gesellschaft vor dem Zugriff der Reaktion zu retten, liegt in einer entschlossenen und dem Ernst der Lage angemessenen Mobilisierung der Teile der Bevölkerung, die die humanistischen Errungenschaften der zurückliegenden 50 Jahre und grundlegende humane und universalistische Werte nicht kampflos dem rechten Mob opfern wollen. Massenproteste gegen neue Polizeigesetze in etlichen Bundesländern (Großdemos in Bayern und NRW), gegen die Normalisierung der AfD in Berlin mit rund 50.000 aufgekratzten Teilnehmer*innen und gegen das mörderische Geschehen im Mittelmeer haben in der angespannten Lage Mut gemacht. Vor uns liegen antirassistische Großdemonstrationen wie am 29. September in Hamburg unter dem Motto „We’ll come united!“ oder #unteilbar-Demo am 13. Oktober in Berlin: Wir müssen dafür sorgen, dass das Kundgebungen der Humanität und Demokratie werden. Wir müssen den rechten Durchmarsch endlich stoppen!
Und ich sage es noch einmal: Auch Köthen wird in Kürze nur noch eine Zwischenetappe der Eskalation gewesen sein.
Der Prozess des Durchmarsches und des Rechtsrucks in diesem Land und auch in ganz Europa, ja der ganzen Welt, ist noch lange nicht zu Ende.
Es ist höchste Zeit, dass wir alle in Bewegung kommen!
Vielen Dank!