Rezension: „Tiefer Staat“ oder doch Wachkoma?

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Buch­co­ver zu „Rechts­staat im Unter­grund“ von Wolf Wetzel

Wet­zel, Wolf: Der Rechts­staat im Unter­grund. Big Brot­her, der NSU-Kom­plex und die not­wen­di­ge Illoya­li­tät, Papy­ros­sa Ver­lag, 219 Sei­ten, 14,90 Euro, ISBN 978−3−89438−591−0

Er hat ja so recht, der Wolf Wet­zel! Nein, im Ernst, wenn er schreibt: „Neh­men wir ein­mal an, dass die Geheim­diens­te 13 Jah­re von der Exis­tenz des NSU nichts gewusst haben und Jahr­zehn­te nichts von den sys­te­ma­ti­schen Aus­spä­hun­gen bri­ti­scher und US-ame­ri­ka­ni­scher Geheim­diens­te … Für die­se sys­te­ma­ti­sche Ahnungs­lo­sig­keit muss man kei­ne Mil­li­ar­den Euro aus­ge­ben!“ (S. 25), dann hat er ein­fach recht. Er hat über­haupt fast durch­ge­hend recht, auch wenn nicht viel neu­es in sei­nem jüngs­ten Kom­pen­di­um „Der Rechts­staat im Unter­grund. Big Brot­her, der NSU-Kom­plex und die not­wen­di­ge Illoya­li­tät“ zu fin­den ist.

Die Leis­tung des Buches, das sich auch rasch weg­liest, ist es, die ver­schie­de­nen Aspek­te, die zwei­fel­los einen geheim­dienst­li­chen Staat im Staa­te kon­sti­tu­ie­ren, zusam­men­zu­den­ken und aus­ge­hend vom Orwell­schen „1984“ über Horst Herolds Ras­ter­fahn­dung und – für sei­ne Zeit – hell­sich­ti­gen Grö­ßen­wahn, über die aktu­el­le Dis­kus­si­on über die gro­tesk spä­te Wie­der­auf­nah­me der Ermitt­lun­gen zum Okto­ber­festat­ten­tat, die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung und Stay-behind-Armeen der NATO bis hin zum nach wie vor unfass­ba­ren NSA-Skan­dal noch ein­mal auf­zu­fä­chern. Aus­ge­hend von der frei­wil­li­gen Selbst­be­tei­li­gung der Bürger_innen west­li­cher Indus­trie­na­tio­nen an ihrer Total­über­wa­chung, der Wir­kungs­lo­sig­keit der weni­gen demo­kra­tisch legi­ti­mier­ten (par­la­men­ta­ri­schen) Kon­troll­in­stan­zen und dem offen­sicht­li­chen Ein­ver­neh­men der betei­lig­ten Geheim­diens­te an extra­le­ga­len Aktio­nen (wie den Ent­füh­run­gen und Fol­te­run­gen durch die CIA, Stich­wort: Kha­led al-Mas­ri) und – dazu hat er ja auch geson­dert publi­ziert – von den Abgrün­den des NSU-Kom­ple­xes, beschreibt Wet­zel sein Ent­set­zen dar­über, wie fol­gen­los all das im San­de ver­läuft. Skan­dal auf Skan­dal wird durch die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­net­ze und Medi­en gejagt, unge­heu­er­li­che Ent­hül­lun­gen durch Wiki­leaks, Snow­den und ande­re Whist­le­b­lower und selbst die kaum fass­ba­ren Unge­reimt­hei­ten im NSU-Kon­text brin­gen den öffent­li­chen Dis­kurs stets nur kurz in Wal­lun­gen und ehe man sich’s ver­sieht ist wie­der alles beim Alten und der undurch­dring­li­che Geheim­dienst­dschun­gel bleibt voll­ends unan­ge­tas­tet. Selbst Dreis­tig­kei­ten wie das Dik­tum des Vize-Kanz­lers Sig­mar Gabri­el, wenn es die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung „bereits zum Zeit­punkt der ers­ten NSU-Mor­de“ gege­ben hät­te, „hät­ten wir wei­te­re ver­mut­lich ver­hin­dern kön­nen“, blei­ben win­zi­ge Auf­re­ger, die nichts an der grund­sätz­li­chen par­tei­über­grei­fen­den Zustim­mung zu unkon­trol­lier­ter Total­über­wa­chung ändern (S. 42). Die Beru­fung der Regie­rung auf streng gehei­me „Kern­be­rei­che der exe­ku­ti­ven Eigen­ver­ant­wor­tung“ (S. 124) reicht auch kri­ti­schen „Bürger_innen“ aus, um rechts­freie Räu­me zu akzep­tie­ren, obwohl bekannt ist, wel­che Unge­heu­er­lich­kei­ten in die­sen Räu­men vor sich gehen.

Auch im Zusam­men­hang mit dem NSU trägt Wet­zel noch­mal all die „High­lights“ der Unge­reimt­hei­ten zusam­men, etwa den Fall des hes­si­schen V‑Mann-Füh­rers Andre­as Tem­me, der am Kas­se­ler Mord­tat­ort anwe­send war, des Heil­bron­ner Mord­an­schlags auf die Poli­zis­tin Michél­le Kie­se­wet­ter und ihren Kol­le­gen, der wie durch ein Wun­der den Kopf­durch­schuss über­leb­te, oder das rät­sel­haf­te Ster­ben eini­ger wich­ti­ger (poten­ti­el­ler) Zeug_innen. Wet­zels Logik zufol­ge steckt hin­ter allem letzt­lich doch ein gelenk­ter Kom­plott, des­sen Ver­ant­wort­li­che in den Innen­mi­nis­te­ri­en zu fin­den sei­en: „Das Abtau­chen der Mit­glie­der des Thü­rin­ger Hei­mat­schut­zes 1998 war gewollt. Man hat sie gera­de­zu dafür akti­viert und jede Mög­lich­keit, sie fest­zu­neh­men, unter­bun­den. Die­se Ent­schei­dung wur­de jeweils auf der Ebe­ne der Innen­mi­nis­ter getrof­fen“ (S.144, auch S. 129). Aber war­um? Wet­zel ver­mu­tet, der „NSU lie­fer­te (…) die Toten, und die Ermitt­lungs­be­hör­den lie­fer­ten den ihn [sic!] pas­sen­den poli­ti­schen Kon­text, als Beleg für die stän­dig beschwo­re­ne Gefahr der ‚Aus­län­der­kri­mi­na­li­tät‘, als blu­ti­gen Beweis für das Anwach­sen ‚Orga­ni­sier­ter Kri­mi­na­li­tät‘ (OK), des­sen [sic!] Bekämp­fung ein­mal mehr inten­si­viert wer­den muss“ (S. 145). Das ist wahr­schein­lich ziem­li­cher Blöd­sinn, eben­so wie die Behaup­tung, dass mit der ras­sis­ti­schen Stoß­rich­tung bei der Ermitt­lung zu den „Döner­mor­den“ die Gefahr von „Schlä­fern“ und „ticken­den Zeit­bom­ben“ unter den unauf­fäl­lig leben­den Nicht-Deut­schen beschwo­ren wer­den soll­te. Im übri­gen wer­den so aus über­zeug­ten und mord­be­rei­ten Nazi-Ter­ro­ris­t_in­nen letzt­lich wil­len­lo­se Mario­net­ten des Geheim­diens­tes gemacht.

Natür­lich darf man über all die unge­klär­ten Fra­gen spe­ku­lie­ren und küh­ne The­sen äußern: Zumal solan­ge die geheim­dienst­li­chen Machen­schaf­ten hin­ter einer Mau­er des Schwei­gens und Ver­tu­schens abge­schot­tet wer­den und eine Beweis­um­kehr nicht in Sicht ist. Aber dabei soll­te man doch auf dem Tep­pich blei­ben. Ver­schwö­rungs­theo­rien begin­nen dort, wo die­se Spe­ku­la­tio­nen als Gewiss­hei­ten ange­prie­sen wer­den, wor­in Wet­zel ein Meis­ter ist. Immer dort, wo er am schärfs­ten argu­men­tiert, feh­len die ohne­hin spär­li­chen Bele­ge voll­ends. Für Wet­zel ist es klar, dass beim Tod „der bei­den Uwes“ eine „drit­te Hand“ im Spiel war und dass sich hin­ter dem gro­ßen Kon­fet­ti-Berg aus NSU-Akten ein gan­zer koor­di­nie­ren­der „Kri­sen­stab“ ver­birgt (S.149). Dezi­dier­te Nach­wei­se dafür bleibt er schul­dig. Für die meis­ten sei­ner Behaup­tun­gen greift Wet­zel im übri­gen ledig­lich auf Zei­tungs­ar­ti­kel aus den „Leit- und Qua­li­täts­me­di­en“ des Lan­des zurück (über­wie­gend Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung, Süd­deut­sche Zei­tung, Frank­fur­ter Rund­schau – gibt’s die noch? – und Spie­gel), denen er dann jedoch in einem gan­zen Kapi­tel sei­nes Buches („Nous som­mes tous Char­lie – vrai­ment?, S.150 – 170) mit Aplomb das Ver­trau­en ent­zieht, womit er sich in gewis­sem Sin­ne selbst unglaub­wür­dig macht. Das tut er auch damit, dass er im erstaun­lich bana­len und lau­en Schluss­ka­pi­tel, in dem er dazu auf­ruft, die­sem geheim­dienst­lich kon­sti­tu­ier­ten Levia­than die Loya­li­tät zu ent­zie­hen, dann doch sel­ber wie­der davon spricht, dass sich der Ver­fas­sungs­schutz wäh­rend der 13 NSU-Jah­re im „künst­li­chen Wach­ko­ma“ befun­den habe (S. 203). Also doch koma-beding­tes Ver­sa­gen und nicht „tie­fer Staat“, fragt man sich, und: Von wel­cher Loya­li­tät redet er?

Wet­zel legt nicht Rechen­schaft ab, wel­che Quel­len und Bele­ge er wann, wie und war­um ver­wen­det. An man­chen weni­gen Stel­len (im Fal­le Tem­me) tau­chen auch Fund­stel­len aus im Inter­net abruf­ba­ren Ermitt­lungs­ak­ten auf (z.B. S. 94ff), sonst bezieht er sich auf die genann­ten Zei­tungs­schnip­sel und eine über­aus über­sicht­li­che Lite­ra­tur- und Medi­en­lis­te, die durch­aus nicht alle rele­van­ten Quel­len, Doku­men­te und Publi­ka­tio­nen zum The­ma ent­hält, was vor allem vor dem Hin­ter­grund der Wei­te des Rund­um­schlags des Buches und der gro­ßen Ges­te sei­nes Autors doch etwas dürf­tig erscheint.

3 Gedanken zu “Rezension: „Tiefer Staat“ oder doch Wachkoma?

  1. Eine Erwi­de­rung als Auf­for­de­rung zur
    Diskussion

    Zu aller
    erst möch­te ich Fried­rich Bur­schel dan­ken, dass er die­se Rezen­si­on geschrieben
    hat. Denn nur so kann man – schwarz auf weiß – poli­ti­sche Wider­sprü­che ausloten
    und zur Spra­che brin­gen, die ansons­ten mit viel Rau­nen aus­ge­tra­gen werden.

    Zum Zwei­ten
    geht es mir nicht um Fried­rich Bur­schel selbst, schon gar nicht dar­um, die
    Wich­tig­keit von NSU-watch und sein ande­res Enga­ge­ment infra­ge zu stel­len. Es
    geht um nichts per­sön­li­ches. Ich bin Fried­rich Bur­schel — außer bei einer
    Ver­an­stal­tung in Düs­sel­dorf in die­sem Jahr — nie begegnet.

    Es geht dar­um, die Gele­gen­heit zu nut­zen, anhand die­ser Rezen­si­on die poli­ti­schen Dif­fe­ren­zen und den Umgang damit darzustellen.

    Dabei möch­te ich mich auf den Teil begren­zen, der den NSU-VS-Kom­plex im Buch beleuch­tet und poli­tisch einordnet.
    Mit leicht schä­bi­gem Unter­ton ver­weist Fried­rich Bur­schel dar­auf, dass auch ich nur das zusam­men­ge­tra­gen habe, was man über­all lesen konn­te und kann. Wie kön­ne ich also zu ande­ren Schluss­fol­ge­run­gen kom­men und wie kön­ne ich sie gar beweisen?
    Das ent­lockt mir wirk­lich ein Schmun­zeln: Wenn ich im Besitz von
    stay-behind-Geheim­do­ku­men­ten wäre, die die dort bewaff­ne­ten Faschisten
    nament­lich auf­füh­ren, deren Ope­ra­tio­nen, deren Tat­be­tei­li­gung, die
    Ver­tu­schun­gen im Amt …. Wenn ich Zugang zu all dem hät­te, was nicht pro­to­kol­liert, in ver­trau­li­chen Gesprä­chen verabredet
    wur­de, was unter Ver­schluss gehal­ten wird, was nur in geschwärz­ter Fas­sung den
    par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­aus­schüs­sen vor­liegt, dann wäre Fried­rich Bur­schel zufrie­den … und wür­de mich ganz ande­rer Din­ge ver­däch­ti­gen. Wahr­schein­lich zu recht! Dass mir die­se nicht zuge­spielt wur­den, dass ich nicht ins Bun­des­kanz­ler­amt ein­ge­bro­chen bin, um dort streng gehei­me Akten der Öffent­lich­keit zugäng­lich zu machen, kann ich offen zugeben.

    Und wenn Fried­rich Bur­schel einen Augen­blick über sei­ne Argu­men­ta­ti­on nach­den­ken wür­de, müss­te er all jene in eine Sam­mel­zel­le für Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker wer­fen, die der offi­zi­el­len Ver­si­on vom Okto­ber­fest­an­schlag in Mün­chen 1980 (ver­wirr­ter,
    unpo­li­ti­scher Ein­zel­tä­ter), für den Irak-Krieg 2003 (che­mi­sche
    Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen), für den Angriffs­krieg gegen die Bundesrepublik
    Jugo­sla­wi­en 1999 (das erfun­de­ne KZ des Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Schar­ping, der Ausch­witz-Ver­gleich von Außen­mi­nis­ter Fischer etc.) wider­spra­chen – lan­ge bevor ›Bewei­se‹ öffent­lich wur­den, die die­sen Wider­spruch belegen! 

    Nicht viel anders ver­hält es sich mit dem Vor­wurf des Über­wa­chungs­staa­tes! Wie lan­ge galt die­ser Vor­wurf als Beleg für eine schwe­re psy­chi­sche Erkran­kung, als nicht beleg­ba­res, frei erfun­de­nes Horrorszenario.

    Lan­ge vor Edward Snow­den wur­de die­ser Vor­wurf erho­ben – was im Buch auch nach­ge­zeich­net wird. Die­ser Vor­wurf wur­de zurecht erho­ben – ohne die Tau­sen­de von Doku­men­ten des ehe­ma­li­gen NSA-Admi­nis­tra­tors in der Hand zu haben.

    Fried­rich Bur­schel geht der Logik sei­nes Argu­ments nicht nach. Das käme heu­te nicht so gut. Dass man für mas­si­ven Zwei­fel nicht unbe­dingt ›gehei­me Unter­la­gen‹ braucht, soll­te Fried­rich Bur­schel wis­sen. Wie an die­sen ange­führ­ten Bei­spie­len beleg­bar, reicht es, muss es rei­chen, dass man die Indi­zi­en, die für die offi­zi­el­le Ver­si­on ange­führt wer­den, auf ihre Plau­si­bi­li­tät hin unter­sucht … und (das ist noch wich­ti­ger) die Indi­zi­en, Spu­ren und Zeu­gen­aus­sa­gen, die igno­riert wur­den, auf einen ande­ren mög­li­chen Gesche­hens­ab­lauf hin prüft. Das ist in die­sen Fällen
    gesche­hen und in all die­sen Fäl­len sind die ›hei­ßen‹ Bewei­se erst viel später
    aufgetaucht.

    Sein zwei­ter schwer­wie­gen­der Ein­wand betrifft die Fra­ge, wie man das aus Pan­nen, per­sön­li­chen Feh­lern und Kom­pen­tenz­wirr­war zusam­men­ge­hal­te­ne ›kom­plet­te Behör­den­ver­sa­gen‹ ver­ste­hen kann? Und was tut man, wenn man mas­si­ve Zwei­fel dar­an hat, dass all dies über 13 Jah­re, in allen dar­an betei­lig­ten Behör­den, auf allen Hier­ar­chie­ebe­nen, in allen Bun­des­län­dern pas­sie­ren konn­te? Ein Black­out, der sich aus­schließ­lich im Bereich ›Rechts­extre­mis­mus‹ zuge­tra­gen haben soll, also nicht neben­an, in den Refe­rats­be­rei­chen: ›Links­ter­ro­ris­mus‹, oder ver­fas­sungs­feind­li­che Bestrebungen?

    Mit Blick auf die im Buch aus­ge­führ­ten unhalt­ba­ren Ermitt­lungs­er­geb­nis­se für Kas­sel 2006 und Heil­bronn 2007 kommt Fried­rich Bur­schel zu dem Schluss:
    »Wet­zels Logik zufol­ge steckt hin­ter allem letzt­lich doch ein gelenk­ter Kom­plott, des­sen Ver­ant­wort­li­che in den Innen­mi­nis­te­ri­en zu fin­den seien …« 

    Auf­fäl­lig an die­sem spöt­tisch gemein­ten Fazit ist, dass ich weder in die­sem, noch im Buch, das den NSU-VS-Kom­plex beschreibt, auch nur ein­mal das Wort ›Kom­plott‹ ver­wen­de – also Herr Bur­schel mir das Voka­bu­lar von Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern erst in den Mund legen muss, um dann so rich­tig – mit anti­fa­schis­ti­scher Faust – zuzuschlagen:

    »Ver­schwö­rungs­theo­rien begin­nen dort, wo die­se Spe­ku­la­tio­nen als Gewiss­hei­ten ange­prie­sen wer­den, wor­in Wet­zel ein Meis­ter ist.«
    Bemer­kens­wert, aber auch poli­tisch unmeis­ter­lich ist der Umstand, dass er mei­ne Arbeits­me­tho­de schlicht­weg igno­riert. Sie ist im Buch – im Gegen­satz zum selbst erfun­de­nen ›Kom­plott‹ klar leser­lich aus­ge­führt. Denn natür­lich habe auch ich mich
    gefragt, ob die­se ›Pan­nen­theo­rie‹ mit dar­auf­fol­gen­dem ›Pan­nen­dienst‹ den
    ein­zel­nen Tat­or­ten gerecht wird. Und Fried­rich Bur­schel dürf­te wis­sen, dass ich
    auch am Bei­spiel Heil­bronn in kei­ne Glas­ku­gel geschaut, son­dern die dazu
    zugäng­li­chen Unter­la­gen gele­sen habe. Und aus die­sen geht her­vor, dass die
    The­se von ras­sis­ti­schen Poli­zis­ten (die auf dem rech­ten Augen blind sein
    sol­len) und von schlam­pi­gen Ermitt­lern nicht halt­bar ist, viel zu kurz greift.

    Genau das, was Fried­rich Bur­schel dem ›Meis­ter der Ver­schwö­rungs­theo­rie‹ vor­wirft, ist Basis sei­nes Vor­wur­fes: völ­lig fak­ten­frei, aber mit einer gehö­ri­gen Por­ti­on poli­ti­scher Feindschaft.
    Und ich behaup­te, dass Fried­rich Bur­schel dar­auf spe­ku­liert, dass er mit dem Vor­wurf ›Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker‹ nichts mehr begrün­den, nichts mehr im Detail wider­le­gen muss.
    In besag­tem Buch wer­den zahl­rei­che Quel­len zitiert und aus­ge­wer­tet, die das Gegen­teil von Pan­nen und Behör­den­wirr­war nahe­le­gen bzw. begrün­den: Nicht der Zufall, auch nicht der Geheim­dienst zog hier die Fäden, also auch kein im Dunk­len agie­ren­des ›Kom­plott‹. Wie an ande­ren Tat­or­ten ist auch in Heil­bronn recht genau beleg­bar, dass die Staats­an­walt­schaft das getan hat, was dem Dienst­weg ent­spricht: Sie hat das Ermitt­lungs­ver­fah­ren geführt und gelenkt … – sogar gegen die Lei­ten­den Beam­ten der ein­ge­setz­ten Sonderkommission/SOKO. Es waren kei­ne dum­men und/oder ras­sis­ti­schen Poli­zei­be­am­ten, die eine Fahn­dung mit­hil­fe der ange­fer­tig­ten Phan­tom­bil­der ver­hin­der­ten, son­dern die Lei­ten­de Staats­an­walt­schaft. Und bis heu­te ist es nicht nur der Geheim­dienst in Baden-Würt­tem­berg, der sich wei­gert, sei­ne ›Quel­len‹ im Nah­be­reich des NSU-Netz­wer­kes preis­zu­ge­ben. Die­se Wei­ge­rung hat
    die volls­te Rücken­de­ckung des Innen­mi­nis­te­ri­ums. Nicht anders ver­läuft die ›Auf­ar­bei­tung‹, wenn das Innen­mi­nis­te­ri­um allen Erns­tes das LKA damit beauf­tragt, das Ver­sa­gen der Sicher­heits­be­hör­den auf­zu­klä­ren – also ›objek­tiv‹ und ›unbe­fan­gen‹ gegen sich selbst zu ermit­teln. Die­se Ket­te lie­ße sich sehr lan­ge span­nen … und ich gehe ein­mal davon aus, dass auch Fried­rich Bur­schel die­se Quel­len kennt.

    Die ein­ge­hal­te­nen Dienst­we­ge, die inein­an­der­grei­fen­den Hier­ar­chien las­sen sich an vie­len NSU-Tat­or­ten nach­zeich­nen. Wenn ich also zum Schluss kom­me, dass es kei­ne Pan­nen waren, die die Auf­klä­rung ver­un­mög­lich­ten bzw. bis heu­te ver­hin­dern, son­dern die Ver­ant­wort­lich­kei­ten beleg­bar in den jewei­li­gen Innen­mi­nis­te­ri­en (als obers­ter Dienst­herr von Poli­zei und
    Geheim­dienst) lie­gen, dann wür­de mich eine argu­men­ta­ti­ve Wider­re­de von Fried­rich Bur­schel mäch­tig interessieren.
    Dass Fried­rich Bur­schel dabei sei­nen eige­nen Wis­sens­stand hin­ter­ge­hen muss, ist um so trau­ri­ger. In einem eige­nen Bei­trag auf die­sem Blog zum Mord­an­schlag in Heil­bronn 2007 führt er Fol­gen­des aus:
    »Auch wenn bis heu­te nicht klar ist, wer hin­ter die­sem Mord­an­schlag auf die Poli­zis­tin und ihren Kol­le­gen steckt, gilt die offi­zi­el­le Ver­si­on der Bun­des­an­walt­schaft, dass die Täter Uwe Mund­los und Uwe Böhn­hardt gewe­sen sein sol­len, die bei­den unter­des­sen toten Ange­hö­ri­gen des so genann­ten Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds, NSU, als die unwahrscheinlichste.«

    http://​anti​f​ra​.blog​.rosa​lux​.de/​s​o​w​a​s​-​k​o​m​m​t​-​v​o​n​-​s​o​w​a​s​-​h​e​r​-​8​-​m​a​i​-​u​n​d​-​n​su/

    Merk­wür­dig:
    Wenn Fried­rich Bur­schel selbst schreibt und ana­ly­siert, dann kom­men sol­che ver­nünf­ti­gen Schluss­fol­ge­run­gen her­aus. Das ist auch gar kein beson­de­res, schon gar nicht ein eigens erlern­tes Kunst­stück: Es ist, wie ich es immer wie­der beto­ne, eine gän­gi­ge und durch­aus erfolg­rei­che Metho­de von Poli­zei­ar­beit: Siche­rung und
    Aus­wer­tung aller Spu­ren, Rekon­struk­ti­on von mög­li­chen Gesche­hens­ab­läu­fen, ope­ra­ti­ve Fall­stu­di­en, an deren Ende nicht die Wahr­heit steht, son­dern eine »Wahr­schein­lich­keits­pro­gno­se«.
    Genau in die­sem Sin­ne kommt auch Fried­rich Bur­schel zu die­sem nach­voll­zieh­ba­ren Fazit: Die offi­zi­el­le ist die unwahrscheinlichste.
    Dies habe ich an meh­re­ren Tat­or­ten belegt und nach­voll­zieh­bar gemacht: Tat­ort Köln 2004, Kas­sel 2006, Heil­bronn 2007 und der Selbst­mord in Eisen­ach 2011. Die jeweils offi­zi­el­le Ver­si­on kann sich dabei auf viel zu dün­ne Indi­zi­en stüt­zen, ein
    ande­rer Gesche­hens­ab­lauf ist auf­grund einer enger Indi­zi­en­ket­te der wahr­schein­li­che, was bei Anwen­dung die­ser Ermitt­lungs­me­tho­den dazu füh­ren wür­de, dass die wahr­schein­li­che­re zur Ankla­ge kommt!
    Wenn all dies nicht pas­siert (und das ist ent­schei­dend), dann hat das nichts damit zu tun, dass man die­se Ermitt­lungs­me­tho­den nicht kennt, son­dern damit, dass man
    genau die­se außer Kraft setzt. Und wenn man nicht eso­te­risch wird, son­dern fak­ten­ori­en­tiert bleibt, dann sind die Grün­de nicht dort zu suchen, wo der Zufall sein Zuhau­se hat, son­dern dort, wo insti­tu­tio­nel­le und poli­ti­sche Macht zusam­men­kom­men, Ermitt­lungs­grund­sät­ze außer Kraft zu set­zen, damit man nicht auf Täter stößt, die man bis heu­te schüt­zen will.

    Was ist dar­an so schwie­rig nachzuvollziehen?
    Was uns tat­säch­lich unter­schei­det, ist kein Erkennt­nis­pro­blem und auch keine
    auf­ge­deck­te Ver­schwö­rung, son­dern ein poli­ti­sches Pro­blem, das Fried­rich Bur­schel mit wohl­in­sze­nier­tem Anti­f­a­ton zu über­de­cken versucht. 

    Wenn Fried­rich Bur­schel zurecht zu dem Schluss kommt, dass in Heil­bronn die Zwei-Täter-Theo­rie und die direk­te Tat­be­tei­li­gung der bei­den toten NSU-Mit­glie­der die unwahr­schein­lichs­te ist, dann unter­schei­den wir uns in die­sem Fall nur durch
    eines. Statt dabei ste­hen zu blei­ben, in der Ana­ly­se wei­ter­zu­ge­hen: Wenn die
    Mehr­zahl der nicht berück­sich­tig­ten Indi­zi­en und Spu­ren rund um den Tat­ort, die
    Zeu­gen­aus­sa­gen, die erstell­ten Phan­tom­bil­der dar­auf ver­wei­sen, dass es noch
    (wei­te­re) Täter geben muss, dann wer­den die­se offen­sicht­lich geschützt – selbst
    zum Nach­teil einer toten Poli­zis­tin! Gibt es irgend etwas dar­an, was nicht
    plau­si­bel ist?

    Und ein Letz­tes als ›Meis­ter der Ver­schwö­rungs­theo­rie‹: Wenn nach der Selbst­ent­tar­nung des NSU im Novem­ber 2011 in allen Minis­te­ri­en, in allen Bun­des­län­dern, bei Poli­zei und Geheim­dienst Hun­der­te von Akten von V‑Leuten (die im Nah­be­reich des NSU agier­ten) ver­nich­tet wer­den (was mit der ›Kon­fet­ti-Akti­on‹ ange­spro­chen ist), dann ist es sehr ver­we­gen, um nicht zu sagen haar­sträu­bend, wenn man ›füh­rer­lo­se‹ Behör­den­zel­len dafür
    ver­ant­wort­lich machen will. Dann gehe ich in die­sem Deutsch­land davon aus, dass
    es eine Anwei­sung gab, ein Signal, das län­der- und behör­den­über­grei­fen­de Rücken­de­ckung garan­tier­te. Ob das ein ›Kri­sen­stab‹ war, spielt dabei die gerings­te Rolle.
    Aber natür­lich Fried­rich Bur­schel: Das Pro­to­koll einer sol­chen Sit­zung, sodenn es sie gege­ben hat, habe ich nicht. Aber viel­leicht haben sich ja alle daran
    betei­lig­ten Minis­te­ri­en auf über­sinn­li­che Wei­se verständigt.

    Ich wür­de Ers­te­res für wahr­schein­li­cher hal­ten. Das poli­ti­sche Risi­ko gehe sehr ger­ne ein. Dazu müß­te man eine Debat­te füh­ren, eine Aus­ein­an­der­set­zung suchen, die eine Lin­ke inter­es­sant machen würde.

    Wolf Wet­zel

    Novem­ber 2015

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