Im baden-württembergischen Heilbronn gibt es im Stadtzentrum, mitten in der Fußgängerzone, einen historischen Turm, der als eine Art zentrale Gedenkstätte für die Leiden der Heilbronner_innen in den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts betrachtet werden kann. Derlei Denkmäler, meist weniger monumental, gibt es in fast allen Städten Deutschlands.
Auf der Spitze des Heilbronner Turms sitzt ein goldener Phönix, als „Symbol für den Überlebenswillen der durch den Bombenangriff am 4. Dezember 1944 stark zerstörten Stadt“. Dass sie diesen Aufstieg aus der Asche geschafft hat, so heißt es weiter, „verdankt die Stadt den Frauen und Männern, welche die Schrecken des Krieges und des Nationalsozialismus überlebt haben“.
In dem Denkmal in Heilbronn wird das ganze Elend der deutschen Erinnerungskultur deutlich: die gegen unangenehme Fragen nach dem Hintergrund des Krieges immunisierende Selbstinszenierung als Opfer eines unpolitischen, schicksalhaften Krieges erspart es den Täter_innen nach ihrer eigenen Rolle im flugs externalisierten Nationalsozialismus und im wahnhaften Durchhaltewillen bis zum „Untergang“, zu fragen. Auch die Heilbronner_innen waren nur Überlebende der Schrecken des Nationalsozialismus: eine dreistere Verleugnung eigener Verantwortung als „Volksgemeinschaft“, jubelnde Anhänger_innen oder gierige Profiteur_innen von Judenmord, Massenmord an zahllosen anderen Menschengruppen, von Vernichtungskrieg und Zwangsarbeit ist kaum denkbar.
Aber warum bringt mich gerade das (vielleicht tatsächlich besonders dreiste) Denkmal in Heilbronn so auf? Wenn man vom Hafenmarktturm etwa anderthalb Kilometer weiter am Bahnhof vorbei zur Theresienwiese geht, stößt man auf ein weiteres, jedoch wesentlich unauffälligeres, ja mickriges Denkmal für die Polizistin Michéle Kiesewetter, die hier am 25. April 2007 von Nazis ermordet wurde, und weitere neun vom NSU Ermordete. Die Täter näherten sich von hinten dem Streifenwagen, in dem Frau Kiesewetter und ihr Kollege Martin Arnold gerade rauchend ein Mittagspäuschen einlegten. Sie töteten Frau Kiesewetter auf der Stelle, ihr Kollege überlebte den Kopfdurchschuss wie durch ein Wunder. Sein Auftritt als Zeuge im NSU-Prozess gehörte zu den bewegendsten Momenten im unterdessen zwei Jahre laufenden Mammutverfahren. Auch wenn bis heute nicht klar ist, wer hinter diesem Mordanschlag auf die Polizistin und ihren Kollegen steckt, gilt die offizielle Version der Bundesanwaltschaft, dass die Täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gewesen sein sollen, die beiden unterdessen toten Angehörigen des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds, NSU, als die unwahrscheinlichste. Als sicher aber kann gelten, dass diesen Mord junge Menschen verübt haben, die sich offen und nicht nur namentlich auf den historischen Nationalsozialismus berufen, der – glaubt man dem Denkmal im Zentrum – über die Deutschen ja kam wie eine Naturkatastrophe.
Fast grotesk mutet es an, dass mitten in den Versuch, den NSU-Komplex aufzuklären, nun auch noch das 70 Jahre verspätete Verfahren gegen einen 93-jährigen KZ-Schergen aus Auschwitz in Lüneburg eröffnet wird. Ihm wird Mittäterschaft oder Beihilfe zum Mord an mindestens 300.000 Menschen zur Last gelegt. In Worten: Dreihunderttausend.
Zum 70. Jahrestag der Befreiung der Welt von deutscher Barbarei drängen sich mir diese Ereignisse als Sinnbilder für eine grauenerregende Vergangenheit auf, die das Land der Täter in ihrer Totalität bis heute erfolgreich verdrängt, verniedlicht oder beschönigt hat. Der Geist des Nationalsozialismus lebt in den Köpfen rassistischer und mordbereiter Nazis fort, die sich selbst in dessen Tradition stellen. Und das Heilbronner Denkmal steht für mich stellvertretend für die kulturelle Erledigung von Schuld und Verantwortung der Deutschen, die den NSU erst wieder ermöglicht hat.
Friedrich Burschel ist Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung und für den nicht-kommerziellen Lokalsender Radio LOTTE Weimar sowie NSU-Watch ständiger Beobachter des NSU-Prozesses in München.
„Auch wenn bis heute nicht klar ist, wer hinter diesem Mordanschlag
auf die Polizistin und ihren Kollegen steckt,.…Als sicher aber kann gelten, dass diesen Mord
junge Menschen verübt haben, die sich offen und nicht nur namentlich
auf den historischen Nationalsozialismus berufen“
Ich verstehe nicht, wieso das letztere als sicher gelten kann, wenn das erstere so völlig unklar ist. Wer kommt denn als nationalsozialistischer Täter noch in Frage? Müsste man nicht bald einmal Namen nennen können, wenn man sowas behauptet?
Ist es nicht möglich, dass die Polizistin normaler Kriminalität oder auch Kollegenkriminalität zum Opfer gefallen ist?
Guter Punkt, lieber Andreas Müller: danke für die Nachfrage. Am schwersten bei der bisherigen Einschätzung des Heilbronner Geschehens vom 25.4.2007 ist die Tatsache, dass der Mord an Michéle Kiesewetter (und der Mordanschlag auf ihren Kollegen Martin Arnold) im NSU-Bekennervideo prominent auftaucht. Warum sollten die NSU-Leute das machen, wenn sie nicht irgendeinen Bezug zu der Tat hätten. Die Bundesanwaltschaft stützt ihr Beharren auf der alleinigen Täterschaft von Mundlos und Böhnhardt im Wesentlichen darauf und auf eine Zeugenaussage eines Bahnmitarbeiters. Mundlos und Böhnhardt sollen von jenseits des Neckars mit Fahrrädern gekommen und nach der Tat dorthin wieder verschwunden sein. Die sonstigen Zeugenaussagen sind damit jedoch in keiner Weise in Übereinstimmung zu bringen, sie deuten eher darauf hin, dass beteiligte, zum Teil blutverschmierte Personen sich nach Süden Richtung Wertwiesenpark und Kolpingstraße bewegt haben. Die Beschreibungen der Personen haben keine Ähnlichkeit mit den beiden NSU-Uwes.
Im Raum steht also die Frage, wer waren diese Leute, waren sie — worauf das Bekennervideo hindeutet — mit dem NSU in Verbindung, laufen sie noch frei herum?
Ja, es gibt noch viele andere Ungereimtheiten, etwa die Frage, ob die Tat etwas mit Kiesewetters Herkunft aus Thüringen zu tun hatte, es mithin ein irgendwie geartetes Kennverhältnis zwischen ihr und ihren Mödern gab? Ob ihre Ermordung etwas mit dem Ku-Klux-Klan zu tun hatte, der in der Baden-Württembergischen Polizei eine „Neigungsgruppe“ unterhielt, zu der auch Kiesewetters Vorgesetzter am Tattag, T.H., gehört hat? Ob es Zufall ist, dass auch ein Beamter bei den überaus hastig und schlampig geführten Ermittlungen zum Tod des Zeugen Florian Heilig dem Klan nahegetstanden haben soll? Dass auch der auf sehr außergewöhnliche Art verstorbene Zeuge Thomas Richter, als V‑Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz „Corelli“ genannt, ebenfalls Mitglied des KKK war, trägt noch zur Irritation in diesem Fragenkomplex bei.
Was bleibt, ist die doch naheliegende Vermutung, dass die Täter Nazis waren, was zu meiner tatsächlich etwas unscharfen Formulierung führte. Aber: Warum hören die Morde nach Heilbronn auf? Wie kommt es nach 9 rassistischen Morden zum Mord an der Staatsbeamtin Michéle Kiesewetter?
Es ist, da gebe ich Dir recht, auch nicht ausgeschlossen, dass alles ganz anders war und hier schlicht „normale“ kriminelle Mörder am Start waren? Aber das halte ich für ebenso unwahrscheinlich wie die Version der Anklageschrift: Was sollen solche Mörder sich von der Tat versprochen haben? Die Dienstwaffen von den beiden? Und dafür einen Mord?
Egal, ich werde mich bemühen, gerade an diesen völlig unklaren Rändern und Grauzonen des NSU-Komplexes etwas vorsichtiger zu formulieren. Danke nochmal für den Hinweis. Schöne Grüße: Fritz
Guter Punkt, lieber Andreas Müller: danke für die Nachfrage. Am
schwersten bei der bisherigen Einschätzung des Heilbronner
Geschehens vom 25.4.2007 ist die Tatsache, dass der Mord an Michéle
Kiesewetter (und der Mordanschlag auf ihren Kollegen Martin
Arnold) im NSU-Bekennervideo prominent auftaucht. Warum sollten die
NSU-Leute das machen, wenn sie nicht irgendeinen Bezug zu der Tat
hätten. Die Bundesanwaltschaft stützt ihr Beharren auf der
alleinigen Täterschaft von Mundlos und Böhnhardt im Wesentlichen
darauf und auf eine Zeugenaussage eines Bahnmitarbeiters.
Mundlos und Böhnhardt sollen von jenseits des Neckars mit
Fahrrädern gekommen und nach der Tat dorthin wieder verschwunden
sein. Die sonstigen Zeugenaussagen sind damit jedoch in keiner
Weise in Übereinstimmung zu bringen, sie deuten eher darauf hin,
dass beteiligte, zum Teil blutverschmierte Personen sich nach Süden
Richtung Wertwiesenpark und Kolpingstraße bewegt haben. Die
Beschreibungen der Personen haben keine Ähnlichkeit mit den beiden
NSU-Uwes.
Im Raum steht also die Frage, wer waren diese Leute, waren sie — worauf das Bekennervideo hindeutet — mit dem NSU in Verbindung, laufen sie noch frei herum?
Ja, es gibt noch viele andere Ungereimtheiten, etwa die Frage, ob die
Tat etwas mit Kiesewetters Herkunft aus Thüringen zu tun hatte,
es mithin ein irgendwie geartetes Kennverhältnis zwischen ihr
und ihren Mödern gab? Ob ihre Ermordung etwas mit dem Ku-Klux-Klan zu
tun hatte, der in der Baden-Württembergischen Polizei eine
„Neigungsgruppe“ unterhielt, zu der auch Kiesewetters
Vorgesetzter am Tattag, T.H., gehört hat? Ob es Zufall ist, dass
auch ein Beamter bei den überaus hastig und schlampig geführten
Ermittlungen zum Tod des Zeugen Florian Heilig dem Klan
nahegetstanden haben soll? Dass auch der auf sehr
außergewöhnliche Art verstorbene Zeuge Thomas Richter, als
V‑Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz „Corelli“ genannt,
ebenfalls Mitglied des KKK war, trägt noch zur Irritation in diesem Fragenkomplex bei.
Was bleibt, ist die doch naheliegende Vermutung, dass die Täter
Nazis waren, was zu meiner tatsächlich etwas unscharfen
Formulierung führte. Aber: Warum hören die Morde nach Heilbronn auf?
Wie kommt es nach 9 rassistischen Morden zum Mord an der
Staatsbeamtin Michéle Kiesewetter?
Es ist, da gebe ich Dir recht, auch nicht ausgeschlossen, dass alles
ganz anders war und hier schlicht „normale“ kriminelle Mörder am
Start waren? Aber das halte ich für ebenso unwahrscheinlich wie die
Version der Anklageschrift: Was sollen solche Mörder sich von der
Tat versprochen haben? Die Dienstwaffen von den beiden? Und dafür
einen Mord?
Egal, ich werde mich bemühen, gerade an diesen völlig unklaren
Rändern und Grauzonen des NSU-Komplexes etwas vorsichtiger zu
formulieren. Danke nochmal für den Hinweis. Schöne Grüße: Fritz
Danke für die freundliche Antwort. Den Beweiswert des Videos sehe ich noch nicht: es scheint mir kein exklusives Täterwissen zu offenbaren. Die Macher des Videos müssen also weder die Täter gewesen sein, noch Zugang zu Wissen gehabt haben, das nur die Täter haben konnten. Das ZOB hat das Video ja komplett öffentlich gemacht: [von Fritz Burschel gelöscht]