„Die Bundesregierung hat nicht den politischen Willen Menschen in Not zu helfen!“, beginnt Tareq Alaows von der Seebrücke sein Statement auf einer Online-Pressekonferenz, die die Seebrücke gemeinsam mit Pro Asyl und den Landesflüchtlingsräten vor wenigen Tagen ausgerichtet hat. Unter dem Titel „Niemand darf zurückgelassen werden“ berichteten Vertreter*innen dieser Organisationen und ein Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft in Henningsdorf (Oberhavel) über die Situation und die Perspektiven von Geflüchteten in Deutschland und an den europäischen Außengrenzen.
Die Message der Beteiligten war eindeutig: Die Situation für geflüchtete Menschen in Sammelunterkünften sei nach wie vor nicht tragbar. Es werde eine Evakuierung der Lager gefordert, um das Leben der Menschen zu schützen und eine würdevolle Unterbringung für alle zu gewährleisten.
Quarantäne-Chaos in Deutschland
Die Situation in deutschen Massenunterkünften gefährde Menschenleben, berichtet Helen Deffner vom Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt für die Landesflüchtlingsräte. Verschiedene Großunterkünfte seien in den vergangenen Wochen unter Vollquarantäne gesetzt worden. Dabei habe die Politik „sehenden Auges“ eine „Durchseuchung“ dieser Unterkünfte in Kauf genommen, denn Maßnahmen zur Vermeidung einer Ansteckung mit dem SARS-CoV-„Virus könnten dort oftmals nicht eingehalten werden. Eine Einschätzung, die Nde Nzongou Barthelemy aus der Gemeinschaftsunterkunft (GU) Henningsdorf bestätigt. Da die technische Versorgung in der Unterkunft nicht gut genug selbst für eine Zoom-Konferenz ist, wird seine Stimme per Telefon zugeschaltet. Barthelemy berichtet, seine Unterkunft habe sich zwei Wochen in Vollquarantäne befunden. Dabei seien positiv- und negativ auf das Virus getestete Menschen nicht voneinander getrennt worden und die Unterbringung sei weiter in Zwei- bis Vierbettzimmern erfolgt. Dazu sei man nicht angemessen über die Maßnahmen informiert worden, berichtet Barthelemy. Er selbst habe an einem Morgen im April nach einer Frühschicht einkaufen gehen wollen und sei dabei vom Sicherheitspersonal der Unterkunft aufgehalten worden aufgrund eines Verbots, das Gelände der GU zu verlassen. Auch auf Nachfrage und nach einem Gespräch mit der Polizei habe er keine konkreten Informationen zur Quarantäne-Situation in der Unterkunft erhalten können.
Nun sei die Quarantäne-Zeit in Henningsdorf wieder vorbei. Doch um die GU verlassen nun zu können, müssten alle Bewohner ein Armband zur Kennzeichnung ihrer abgeschlossenen Quarantäne tragen, berichtet Berthelemey und hält ein leuchtend grünes Armband in die Kamera. Im Supermarkt sei er darauf schon von anderen Menschen in diskriminierender Absicht angesprochen worden, sagt er.
Stigmatisierungen von Geflüchteten gingen auch mit der Berichterstattung über die Situation in deutschen Unterkünften für Geflüchtete einher, berichtet Helen Deffner. Bilder, wie aus der Flüchtlingsunterkunft in Suhl, wo es im März auf Grund einer Demonstration zu einem großen Polizeiaufgebot gekommen war, bestätigten eine bestimmte Vorstellung von den geflüchteten Menschen in den Unterkünften und schafften so gute Anschlussmöglichkeiten für die Argumente der extremen Rechten, so Deffner.
Die Verantwortung deutscher Politik?
Auch die verheerende Situation von Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen löse keine ausreichende politische Reaktion aus, berichtet Tareq Alaows von der Seebrücken-Bewegung. Anstatt den Menschen in den überfüllten Lagern zu helfen, setze die Bundesregierung auf eine Abschreckungspolitik, damit weniger Menschen nach Europa kämen. Mit der Kampagne #leavenoonebehind versucht die Seebrücken-Bewegung seit Wochen auf die desolate Situation auf den griechischen Inseln und an der griechischen Außengrenze aufmerksam zu machen, die sich vor allem im Kontext einer möglichen Ausbreitung von Covid-19 immer weiter zugespitzt hatte.
Die Diskussion über die Suche nach einer „europäischen Lösung“ für die Situation in den griechischen Lagern sieht Alaows als einen Ablenkungsversuch der deutschen Politik, um sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen. Denn die Ressourcen stünden in Deutschland schon jetzt bereit und auch die Zustimmung zahlreicher Kommunen und einer breiten zivilgesellschaftlichen Mehrheit, die Menschen aus den griechischen Lagern zu evakuieren, gelten als sicher. Die Aufnahme von 47 Kindern aus dem Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos in Deutschland im April sei dabei nichts weiter als „das Sich-Schmücken mit einer humanitären Aktion“, so Alaows.,
Auch für das System der Asylverfahren müsse es neue Regeln geben, erklärt Günter Burkhardt von Pro Asyl. In der aktuellen „Corona-Krise“ befinde sich das europäische Asylsystem in einer Art „Schwebezustand“, sagt der Sprecher der Menschenrechztsorganisation. Besonders da eine Abschiebung in den nächsten Monaten auf Grund der Corona-Situation absurd sei, sei es wichtig Asylverfahren direkt in Deutschland durchzuführen und sich nicht auf eventuelle Zuständigkeiten anderer europäischer Länder nach Dublin II zu berufen. Es brauche, sagt Burkhardt, konkrete Aufnahmepläne der Bundesländer, um eine geregelte Asylpolitik in Deutschland möglich zu machen.
Forderungen für eine gerechtere Asylpolitik
In einer gemeinsamen Pressemitteilung formulieren die Organisationen noch einmal die gemeinsamen Forderungen an die Bundesregierung: Es brauche eine Auflösung der Massenunterkünfte in Deutschland und das Schaffen von Strukturen für die Aufnahme von Menschen aus Lagern im Ausland. Außerdem solle es Gesundheitskarten für alle Menschen geben, um jedem*r den Zugang zu angemessener Behandlung zu ermöglichen. Zusätzlich fordere man die Entlassung aller Menschen aus Abschiebehaft und die Möglichkeit für jede*n Asylsuchenden, der sich in Deutschland aufhält, hier das Asylverfahren zu durchlaufen.