Kulturen des Verdrängens und Erinnerns — Rezension

Die­se neue Publi­ka­ti­on reiht sich in die Viel­zahl derer ein, die in den letz­ten Jah­ren zum The­ma der Nicht_Erinnerungen an die ras­sis­ti­sche Gewalt der 1990er Jah­re erschie­nen sind. Sie fragt danach, wie die ras­sis­ti­sche Gewalt erin­nert wird, und von wem und in wel­cher Form?

«Kul­tu­ren des Ver­drän­gens und Erin­nerns» legt den Fokus auf den August 1992, als in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen ein Heim für Geflüch­te­te bela­gert und ange­grif­fen wird, eine Men­schen­men­ge zuschaut, und die Angrei­fe­rIn­nen anfeu­ert. Es geht also, und selbst das ist heu­te kaum öffent­lich sag­bar, um Gewalt, Schmerz, Leid und Trau­ma­ta, und den indi­vi­du­el­len wie den gesell­schaft­li­chen Umgang damit.

Das Buch ent­hält eine Ein­lei­tung und 14 Arti­kel, Anga­ben zu den Autor*innen des Ban­des, die Infor­ma­tio­nen zu deren Per­spek­ti­ve oder Sprech­po­si­ti­on hät­ten bie­ten kön­nen, feh­len bedau­er­li­cher­wei­se. Die His­to­ri­ke­rin Fran­ka Mau­bach plä­diert vehe­ment dafür, ras­sis­ti­sche Gewalt auch in die spe­zi­fi­sche loka­le und regio­na­le Situa­ti­on ein­zu­bet­ten und sie nicht nur als Aus­druck gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Stim­mun­gen zu ver­ste­hen. Die Tübin­ger Rechts­extre­mis­mus­for­sche­rin Tan­ja Tho­mas und Fabi­an Virch­ow https://​de​.wiki​pe​dia​.org/​w​i​k​i​/​F​a​b​i​a​n​_​V​i​r​c​how wei­sen gut begrün­det dar­auf hin, dass die Erin­ne­rungs­kul­tur wei­ter­hin von der Mehr­heits­ge­sell­schaft geprägt, wenn nicht domi­niert sei. Dies füh­re unter ande­rem dazu, dass die Stim­men und Per­spek­ti­ven von Betrof­fe­nen, Opfern und Über­le­ben­den beharr­lich über­gan­gen wer­den. Oli­ver Ples­sow, Geschichts­di­dak­ti­ker und die Demo­kra­tie­päd­ago­gin Gud­run Hein­rich, bei­de von der Uni­ver­si­tät Ros­tock https://​neo​fe​lis​-ver​lag​.de/​g​u​d​r​u​n​-​h​e​i​n​r​ich skiz­zie­ren in ihren Tex­ten jeweils die Situa­ti­on in Ros­tock selbst, hin­ter­fra­gen den auch von akti­vis­ti­schen Krei­sen ange­nom­me­nen Wir­kungs­op­ti­mis­mus öffent­li­chen Geden­kens und öffent­li­cher Gedenk­zei­chen, und benen­nen die wich­ti­ge Rol­le, die loka­le und über­re­gio­na­le zivil­ge­sell­schaft­li­che Initia­ti­ven im Feld der Erin­ne­rungs­po­li­tik, und so war es auch in Ros­tock, haben. Kien Nghi Ha https://​de​.wiki​pe​dia​.org/​w​i​k​i​/​K​i​e​n​_​N​g​h​i​_Ha begreift Ros­tock als Sym­bol für insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus von Medi­en, Poli­zei, Stadt­ver­wal­tung und ande­ren, kol­lek­ti­ven Akteur*innen. Von ihnen wird lan­ge Zeit, von vie­len bis heu­te, der Begriff «Pogrom» ver­mie­den. Die anti­zi­ga­nis­ti­sche Dimen­si­on des Pogroms wird im Bei­trag von Ste­fa­nie Oster und Johann Hen­ningsen vom Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum «Lich­ten­ha­gen im Gedächt­nis» deut­lich. Sie haben betrof­fe­ne Rom*nja des Pogroms recher­chiert und so 2022 eini­ge Inter­views füh­ren (las­sen) kön­nen, Vier sind hier online.

Im letz­ten Kapi­tel wer­den noch drei ande­re, wich­ti­ge Ereig­nis­se, und die damit zusam­men­hän­gen­de Erin­ne­rung, the­ma­ti­siert: Die Pogro­me in Hoyers­wer­da 1991 und in Mann­heim-Schön­au 1992 und der Brand­an­schlag auf ein Wohn­haus in Solin­gen 1993, bei dem fünf Men­schen ermor­det wer­den. Der Anschlag in Solin­gen fand am 29. Mai statt, drei Tage nach­dem im Bun­des­tag mit gro­ßer Mehr­heit die bis dahin bestehen­de Asyl­rechts­re­ge­lung abge­schafft wurde.

Die Tex­te zei­gen, dass Erin­ne­rung umkämpft ist und immer wie­der um Erin­ne­rung gerun­gen wird. Die Publi­ka­ti­on doku­men­tiert auch, dass durch das jahr­zehn­te­lan­ge, müh­sa­me Enga­ge­ment von vie­len sich etwas ver­än­dert hat, wenn auch zu lang­sam und zu wenig. Wer sich noch nicht so grund­le­gend oder umfang­reich mit der His­to­ri­sie­rung ras­sis­ti­scher Gewalt beschäf­tigt hat, wird in dem Buch viel Lesens- und Beden­kens­wer­tes fin­den. Die Spra­che ist auch nicht zu aka­de­misch. Wer sich bes­ser aus­kennt, wird jedoch auch viel Bekann­tes lesen. Die Publi­ka­ti­on ent­stand aus Akti­vi­tä­ten an der Uni­ver­si­tät Ros­tock im Som­mer 2022, sie ist hier auch open access  verfügbar.

 

Infor­ma­tio­nen zum Buch:

Gud­run Hein­rich / David Jün­ger / Oli­ver Ples­sow / Cor­ne­lia Syl­la (Hrsg.): Kul­tu­ren des Ver­drän­gens und Erin­nerns. Per­spek­ti­ven auf die ras­sis­ti­sche Gewalt in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992; Neo­fe­lis Ver­lag, Ber­lin 2024, 226 Sei­ten, 23 Euro

 

 

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