„Open the borders!“ Die Message ist klar und einfach an diesem Abend, dem vergangenen Dienstagabend, an dem sich mehrere tausend Menschen vor dem Kanzleramt in Berlin versammeln, um gemeinsam zu demonstrieren. Demonstrieren gegen die EU-Abschottungspolitik und für Bewegungsfreiheit, für die Aufnahme von Menschen, die in Not sind, dafür, zu versuchen, Solidarität mit allen fliehenden Menschen zu zeigen.
Es ist dunkel und es ist kalt hier vor dem machtgrauen riesigen Regierungsgebäude. Die Wetter passt zur Stimmung der Demonstrierenden und zur aktuellen Situation an den europäischen Außengrenzen, die mehr als düster ist. Vom Kanzleramt aus macht sich der Demonstrationszug auf in Richtung Regierungsviertel. Vorbei am Bundestag und all den Orten, an denen diese Politik gemacht wird, der ein moralischer Kompass nun vollends verloren gegangen zu sein scheint.
Mehrere Tausend Menschen haben sich versammelt. Das ist eine ganze Menge dafür, dass die Seebrücke Berlin erst am Tag zuvor damit begonnen hatte, für diese Demonstration zu mobilisieren. Und gleichzeitig „nicht genug Protestierende, um wirklich etwas zu verändern“, wie auch einer der Veranstalter*innen in seiner Abschlussrede erklärte.
Anlass der Demonstration sind die Eskalationen der Situation an der griechischen EU-Außengrenze: Seit die Türkei am letzten Freitag ihre Grenzen geöffnet hat, machen sich viele tausend Menschen in Richtung türkisch-griechisch Festlandsgrenze und ägäischer Inseln auf, wo sie teils brutalst von griechischem Militär sowie europäischem und griechischem Grenzschutz zurückgedrängt werden. Vor allem auf den ägäischen Inseln eskaliert die Lage derzeit. Aufgeputschte Einwohner*innen und ein nationalistischer Mob inklusive organisierten Faschist*innen hindern Geflüchtete am Anlegen an der Insel, greifen Ehrenamtliche und Journalist*innen an. Schüsse fallen. Tränengas liegt in der Luft. Auf Menschen wird geschossen.
Unter den in Berlin Versammelten wird lebhaft diskutiert: Ist das Chaos Ausdruck einer Überforderung, die nicht erst seit gestern auf den griechischen Inseln herrscht? Eine Überforderung angesichts der Tatsache, alleine gelassen zu werden mit der Ankunft so vieler, teils stark traumatisierter Menschen. Wo bleibt die europäische, die deutsche Unterstützung? Wo die Übernahme von Verantwortung seitens der Länder, die für einen Großteil der Fluchtursachen selbst verantwortlich sind?
„Ich möchte Griechenland dafür danken, dass es unser europäischer Schutzschild ist“, betont EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch an der griechisch-türkischen Grenze. Eine entlarvende Aussage für die europäische Außenpolitik. Denn dass es sich bei den Ankommenden um Menschen handelt, scheint in Vergessenheit geraten zu sein, wenn das „Schutzschild“ diese Menschen mit Wasserwerfern und Gewaltanwendung zurück in die Türkei prügelt, damit sie den europäischen Boden ja nicht betreten. Und deutsche Politiker*innen beteuern, am Türkei-EU Deal festhalten zu wollen, bei dem die EU eine Menge Geld dafür bezahlt, dass die Türkei die flüchtenden Menschen nicht in die EU passieren lässt. Dabei haben sich in Deutschland fast 150 Städte und Gemeinden bereit erklärt eben diese Geflüchteten bei sich aufzunehmen.
Grenzen töten
Zurück zur Demo. „Open the borders. Borders kill!“ wird immer wieder skandiert. Zwei kurze Sätze, die ein einfacher Ausdruck der Verzweiflung zu sein scheinen, die herrscht, angesichts der Tatsache, dass Menschenrechte, Flüchtlingskonventionen und jegliches Moralverständnis mit Füßen getreten werden. In verschiedenen Chören hallt der Ausruf im Berliner Vorabend wider. „Zeigt, dass ihr da seid — seid mal laut“, schallt es durch die Boxen des Lautsprecherwagens. Rufe, Pfiffe, Stimmen hallen durch die Bürokomplexe des Berliner Regierungsviertels, wo die meisten Fenster um diese Uhrzeit schon dunkel sind. Sie zeigen an diesem Abend keine Reaktionen.
Gestoppt wird vor der russischen und der griechischen Botschaft. Bei den Zwischenkundgebungen gibt es Redebeiträge verschiedener Aktivist*innen, die die Lage eindringlich schildern. Mit einer Schweigeminute Unter den Linden entsteht ein kurzer Moment des Innehaltens und Gedenkens für die Menschen, die immer noch bei der Flucht über das Mittelmeer sterben. Solidarisches Schweigen. Solidarität zeigen, darum geht es heute hauptsächlich. Besonders in diesem Moment, in dem viele Menschen in Deutschland noch erschüttert sind vom rechten Terror der letzten Monate, von Hanau, von Halle, von Kassel. Die Fassungslosigkeit und das Grauen schwingen mit auf der Straße.
Die Demo endet in Stadtmitte vor dem griechischen Konsulat. Die Demonstrierenden stehen zusammen, lauschen den Abschlussansprachen. Es werden Aufnahmen abgespielt, die direkt von der Insel Lesbos kommen. Die Crew der Mare Nostrum berichtet von ihrer gewaltsamen Vertreibung aus dem Hafen von Lesbos. Die Besatzung der Seawatch III erzählt von der Quarantäne von zwei Wochen, die über sie verhängt wurde wegen eines Corona-Verdachts. Und dann gibt es Tonaufnahmen von Menschen, die direkt von den unvorstellbaren Bedingungen berichten, denen flüchtende Menschen an der Grenze zu Griechenland begegnen. Berichte darüber, wie sie auf türkischer Seite von offiziellen Stellen in Bussen zur Grenze gefahren werden. Dort seien sie ausgezogen, geschlagen und gedemütigt worden, um dann im Niemandsland vor der Grenze ausgesetzt zu werden, schildern die Betroffenen. Eine beklemmende Stille herrscht unter den verbliebenen Demonstrant*innen. Die Worte hallen noch nach, während die Menge langsam auseinanderströmt. Die letzten Worte des Veranstalters waren ein Appell: Weiter aktiv zu sein, sich zu engagieren, auf die Straße zu gehen.
Ich verlasse den Platz in Berlin Mitte positiv gestimmt. Diese Demonstration, sowie die anderen, die diese Woche in vielen Städten Deutschlands stattfinden sind vielleicht zu klein, um einen wirklichen Einfluss auf die politische Situation zu nehmen. Aber die Stimmen der vielen Menschen, die sich gemeinsam auf die Straße begeben und Solidarität zeigen mit den Menschen auf der Flucht, sie geben dennoch Mut und Hoffnung. Und diese verbindende Kraft spürt man den ganzen Abend.